Strategische Dialogbereitschaft

Bürgerbeteiligung als liberalkonservatives Modernisierungsprojekt

Juni 2012

Im bürgerlichen Lager dominierte lange Zeit ein Politikverständnis, das Demokratie vor allem als eine Form der Legitimation von staatlicher Herrschaft begriff: In dieser Sichtweise sind es durch Wahlen legitimierte Angehörige der Eliten, denen die Aufgabe zufällt, die für die Verwertungsinteressen ver-schiedener Kapitalfraktionen als notwendig erachteten Entscheidungen zu fällen, sie breiten Schichten der Bevölkerung als dem Allgemeinwohl zuträglich zu vermitteln, sie notfalls aber auch gegen den Widerstand von engagierten Minderheiten durchzusetzen. Dieses Modell geht von einem weitgehend unaufgeklärten oder zumindest passiven Bürger aus, der in der überwiegenden Mehrheit dazu bereit ist, die von anderen gefällten Entscheidungen über sich ergehen zu lassen. In Zeiten zunehmender Parteienverdrossenheit, abnehmenden Vertrauens in die herkömmlichen Formen politischer Repräsentation und angesichts von Bürgerprotesten, deren Aktivisten sich mittlerweile auch aus der von den Unionsparteien als Wählerreservoir beanspruchten ‚Mitte’ der Gesellschaft rekrutieren, erscheinen neue Beteiligungsformen nun vermehrt auch gestandenen Konservativen als geeignetes Mittel ‚guten Regierens’.
Die Gründe sind durchaus verschieden. Manche Vertreter von kleinen und mittelständischen Unternehmen wollen ihresgleichen einfach mehr Möglichkeiten verschaffen, auch jenseits aufwändiger Lobbyarbeit direkt in das politische Geschehen einzugreifen. So glaubt Patrick Adenauer, der ehemalige Sprecher des Verbands der Familienunternehmer, dass gerade mittelständische Unternehmer durch die Erweiterung direktdemokratischer Verfahren mehr Einflusschancen bekämen als durch das parlamentarische System allein. Sie könnten sich in einzelnen Volksinitiativen mit einem verhältnismäßig geringen Zeitaufwand zum Beispiel gegen zu viel Steuern engagieren.
Der zweite Grund für das Interesse an der direkten Demokratie in diesem Lager liegt in einem strategischen Kalkül, das mittel- und langfristig auf die Entmachtung von Parteien zielt, die soziale Interessen vertreten. Bürgerliche Parteienkritiker wie Hans Herbert von Arnim oder Hans-Olaf Henkel wollen den Einfluss der abhängig Beschäftigten und ihrer Organisationen auf die Ge-sellschaft so weit als möglich zurückdrängen.
Im vorliegenden Aufsatz befasse ich mich mit einem dritten Grund für die neue konservative Affinität zur Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung. In dem Maße, in dem Großorganisationen wie Parteien, Gewerkschaften und Großkirchen an Bindekraft verlieren, die Fragmentierung der Gesellschaft fortschreitet und ein „neuer Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello) die Fähigkeit zur Selbstorganisation von Erwerbstätigen fordert und begünstigt, kann das rebellische Potenzial der zunehmend individualisierten Massen in abnehmenden Maße durch „sozialpartnerschaftliche“ Betriebsräte, Gewerkschaftsführungen, Kirchenleitungen und Politiker vereinnahmt und neutralisiert werden. Je mehr das Unbehagen der Bürger sich auf informelle, von oben schwer zu kontrollierende Weise äußert, desto notwendiger erscheint es, auch mit neuen Formen der Befriedung bzw. der Vereinnahmung dieses Widerstandspotenzials zu experimentieren. Während Protestierende in früheren Jahren vornehmlich ausgegrenzt, als Chaoten diffamiert und kriminalisiert wurden, um die kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse zu schützen, will man sie nun vermehrt durch neue Dialog- und Mediationsverfahren aktiv einbinden.
Die Vorschläge dazu bewegen sich zwischen zwei Polen: Der eine sieht Betei-ligungsformen vor, die den Bürgern zwar mehr Mitsprache ermöglichen, bei denen die Politiker aber nach wie vor das Steuer fest in der Hand behalten. Typisch ist die Haltung eines Redakteurs der von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebenen Monatszeitschrift Die Politische Meinung, der für „neue und zumeist innovative Formen der Partizipation und Mediation“ (Borchard 2011, S. 14) wirbt, aber davor warnt, auf der Bundesebene Plebiszite einzuführen. Der andere verlangt tatsächlich mehr Möglichkeiten der Mitentscheidung für die Bürger. Nur dadurch, meint beispielsweise Heiner Geißler, lässt sich das Vertrauen in eine durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln bestimmte Gesellschaftsordnung der „sozialen Marktwirtschaft“ auf Dauer erhalten. Seit langem erweist sich der Jesuitenschüler als schlauer Vordenker jenes Teils der herrschenden Klasse, der den sozialen und politischen Missständen abzuhelfen wünscht, „um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern“ (MEW 4, S. 488). Zwischen diesen beiden Polen, der politischen Scheinbeteiligung und der direktdemokratischen Neuauflage des von Marx und Engels schon im Manifest der Kommunistischen Partei be-schriebenen konservativen oder Bourgeoissozialismus (ebd.), bewegen sich die beteiligungspolitischen Diskussionen und Experimente im liberalkonservativen Lager – und darüber hinaus. In beiden Fällen geht es nicht um eine umfassende Emanzipation, sondern um neue Formen der Herstellung von dem, was der Psychologe Peter Brückner einst mit dem Begriff der Massenloyalität zu fassen versuchte: die gewaltlose Steuerung und Kontrolle der Be-völkerungsmassen. Die Kunst besteht darin, die widerständige Energie unzufriedener Bürger im Rahmen einer im Sinne von Antonio Gramsci heterogen und antagonistisch zusammengesetzten Zivilgesellschaft in Konsens umzuwandeln. Was es bedeuten kann, stattdessen auf Konfrontationskurs zu gehen, musste zuletzt Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) erfahren. Sein Versuch, das Bahnprojekt Stuttgart 21 statt im Dialog mit Gewalt durchzusetzen, verhalf Winfried Kretschmann zu dem Triumph, der erste grüne Ministerpräsident zu werden. Schon als Vorsitzender der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg hatte er angekündigt, anders als Mappus den Bürgerprotest ernst nehmen zu wollen. Er versprach einen entsprechenden Stilwechsel der Politik. Als Ministerpräsident wolle er eine ‚Politik des Gehörtwerdens’ voranbringen.


Kommunikation als Akzeptanzmanagement
Die konservativen Vorschläge zur Institutionalisierung von mehr Bürgerbetei-ligung stützen sich auf eine Krisendiagnose, die Interessenkonflikte zwischen Konzernen, ihren politischen Helfern und den von ihren Maßnahmen Betroffenen vor allem als Kommunikationsprobleme sehen will. Bemängelt wird ein politischer Stil, der die Bürger deshalb in Rage versetze, weil sie sich nicht ernst genommen fühlten (vgl. Borchard 2011, S. 18). Norbert Lammert (CDU) kritisiert, dass Parlamente und Regierungen dazu neigten, „die Kommunikation mit den Bürgern unter Hinweis auf ihre Zuständigkeit und möglicherweise auch auf die Überprüfung der getroffenen Entscheidungen durch ordentliche Gerichte zu versäumen oder gar zu verweigern.“ (Tagesspiegel, 31.10.2010) Tamara Zieschang, Staatssekretärin im Ministerium für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr des Landes Schleswig-Holstein verlangt von ihren Parteifreunden in der CDU daher, diese sollten mit den Bürgerinitiativen einen sachlichen Dialog auf Augenhöhe führen: „Es geht um den offenen und transparenten Austausch der Argumente. (...) An einer wechselseitigen Sprachlosigkeit zwischen Politik auf der einen und Bürgerinitiativen auf der anderen Seite, wie sie bei Stuttgart 21 zutage trat, kann nämlich gerade die CDU kein Interesse haben. Schließlich wirft eine solche Sprachlosigkeit (im Gegensatz zur Uneinigkeit in der Sache) unweigerlich die Frage auf, ob die CDU den Bezug zu den Bürgerinnen und Bürgern verloren hat.“ (Zieschang 2011, S. 19) Durch „bürgeraktivierende Kommunikation“, das heißt: verständliche Vermittlung von professionalisiertem Spezialwissen, die Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch neue Formen der Beteiligung sowie das „Mittel der erweiterten Anhörung“ (Süssmuth 2011, S. 5), will Rita Süssmuth (CDU) die Kommunikationsprobleme beheben. „Das politische Kunststück für die Zukunft besteht darin, einerseits mehr Bürgerbeteiligung zu institutio-nalisieren, andererseits Planungs- und sonstige Verfahren dennoch zu verkür-zen sowie konsensfähige Entscheidungsverfahren irgendwo zwischen Volksabstimmung und Parlamentsentscheiden zu entwickeln, deren Legitimation ausreichend dafür ist, dass getroffene Entscheidungen dann auch in die Tat umgesetzt werden“ (Frick 2011, S. 23), schreibt Lothar Frick, der für die Zeit der Stuttgart-21-Moderation das Büro des Schlichters Heiner Geißler leitete. Der ehemalige CDU-Generalsekretär und Bundesminister hatte das Schlich-tungsverfahren als Demokratie-Experiment vorgestellt und die Zeit einer autoritären ‚Basta-Politik’ für vorbei erklärt. Ziel der Stuttgarter Schlichtung, so Geißler, sei es gewesen, „durch den Faktencheck als einer neuen Form unmittelbarer Demokratie wieder ein Stück Glaubwürdigkeit und verloren gegange-nes Vertrauen in die Demokratie zurückzugewinnen.“ (Geißler 2012, S. 133) Nur durch mehr Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung sei die Durchführung von Großprojekten in Zukunft noch zu erreichen. „Die Behauptung, eine stärkere Bürgerbeteiligung gefährde die Realisierung von Großprojekten, ist vollkommen falsch. Eine Fortsetzung der bisherigen obrigkeitlichen Verfahren verbunden mit der Verweigerung echter bürgerschaftlicher Mitwirkungsrechte führt, wie viele Vorgänge der letzten Jahre beweisen, zu massiven Protesten und Auseinandersetzungen, zu erheblichen politischen Verwicklungen und jahrelanger Lähmung der Entscheidungsprozesse.“ (ebd., S. 130f) Die Bürger rechtzeitig zu beteiligen, sei „unbedingt notwendig, um eine Destabilisierung der politischen Instanzen zu vermeiden.“ (ebd., S. 137) In dieser Sichtweise erscheint Bürgerbeteiligung in erster Linie als Akzeptanzmanagement, als Versuch, einerseits politisch schwer kalkulierbare Konfrontationen zwischen Bürgern und Staatsgewalt zu vermeiden und andererseits die betroffenen Bür-ger samt ihrem Widerstandspotential staatlich einzubinden. Protest soll in Diskussion verwandelt und auf diese Weise neutralisiert werden.


Die SPD als Vorreiter
Die Erprobung solcher Befriedungstechniken reicht bis in die siebziger Jahre zurück. Damals war die Regierungspartei SPD darauf abonniert. Als Bundes-kanzler Willy Brandt im Oktober 1969 in seiner Regierungserklärung die viel zitierten Worte „mehr Demokratie wagen“ aussprach, hatten nur wenige Wochen zuvor 140.000 Stahlarbeiter in spontanen Streiks ihren Kampfwillen und ihre Organisationsstärke gezeigt. „Das Versprechen, mehr Demokratie zu wa-gen, war in dieser Situation das Gebot der Stunde, um die gewerkschaftlichen und studentischen Proteste im Zaum zu halten.“ (Mattern/Wehrle 2012, S. 4) Als die Proteste gegen die Atomkraft nicht mehr zu ignorieren waren, setzte die damalige Bundesregierung auf Bürgerdialoge, in denen sich der Unmut der Umweltbewegung zwar artikulieren sollte, aber für die Entscheidung letztlich unverbindlich blieb. Man hoffte darauf, einen Keil zwischen gesprächsbereite Gegenexperten und jene AKW-Gegner zu treiben, die ihren Widerstand mit einer radikalen Kritik am kapitalistischen System verbanden. Das strategische Kalkül wurde später beim Einsatz des Mediationsverfahrens zur Befriedung der Auseinandersetzungen um den Ausbau des Flughafens in Frankfurt am Main noch deutlicher: Nachdem die SPD-geführte Regierung Hessens durch den Konflikt um die Startbahn-West in arge Bedrängnis geraten war, setzte Ministerpräsident Hans Eichel in den neunziger Jahren auf neue Formen der politischen Beteiligung. Der Streit sollte sich vom politischen Kern auf weniger brisante Sach- und Verfahrensfragen verlagern. Der Widerstand wurde durch die Einbindung einer Reihe von Organisationen der „Zivilgesellschaft“ in seiner Legitimation geschwächt und dadurch deutlich eingedämmt. „Was sich aus der Perspektive starrer, klassischer Verwaltungstechnokraten geradezu ‚revolutionär’ ausnimmt, stellt sich bei kritischer Betrachtung als der Versuch dar, einerseits Konfrontation zu vermeiden und andererseits die betroffenen BürgerInnen und deren Widerstandspotenzial erneut staatlich einzubinden“ (Wilk 1999, S. 118), schrieb Michael Wilk schon Ende der neunziger Jahre. Der anarchistische Aktivist ist seit den siebziger Jahren in den Kampf der Bürgerinitiativen gegen den Ausbau des Flughafens Frankfurt a.M. involviert und hat die Eindämmung der Proteste durch Mediationsverfahren schon früh aus der Perspektive des Widerstands analysiert. „Neben der Funktion, spe-zielle Projekte (z.B. Flughafenerweiterung) möglichst konfliktarm durchzusetzen, geht es auch immer um ‚Akzeptanzmanagement’ im Gesamtsystem. Mediationsverfahren sind in diesem Sinne Teil einer Befriedungsstrategie, die die Funktion hat, Konflikte zu entspannen und entstandene Risse im Funktionssystem des Staates zu kitten.“ (Wilk 1999, S. 118)


Kollaborative Demokratie-Forschung
Im Dienste einer Befriedungsstrategie stehen auch jene Forschungsprojekte, in denen die ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum stammenden Me-diations- und Dialogverfahren für die Herrschaftserfordernisse heutiger politischer Praxis weiterentwickelt werden sollen. An der Ausarbeitung entsprechender Konzepte arbeiten im Auftrag verschiedener einschlägiger Stiftungen eine ganze Reihe von sozialwissenschaftlichen Politikberatern. So sieht etwa die Bertelsmann-Stiftung in der Implementierung von neuen Beteiligungsformen eine Chance, die Politik zu Zeiten eines bröckelnden Konsenses für neoliberale „Reformprojekte“ wieder steuerungsfähiger zu machen (vgl. Wagner 2011).
„Bürger wollen mehr Mitsprache bei Energie-, Steuer- und Verkehrspolitik“ heißt es am 6. Februar 2012 aber auch in einer Pressemitteilung der Stiftung Zu-kunft Berlin. Sie gibt das Ergebnis einer Studie vor, die von Infratest dimap durchgeführt worden war. Demnach fühlten sich knapp zwei Drittel der wahlberechtigten Bundesbürger über ihre Beteiligungsmöglichkeiten bei Planungsvorhaben zu wenig (55 Prozent) oder gar nicht (7 Prozent) informiert. „Der Umfrage zufolge erhoffen sich die Bürger durch die stärkere Mitsprache bessere und gerechtere Entscheidungen.“ Der Vorstandsvorsitzende der Stiftung ist der ehemalige CDU-Politiker und Berliner Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Volker Hassemer. Wie seine oben zitierten Parteifreunde diagnostiziert er laut Pressemeldung „eine Vertrauenslücke zwischen Bürgern und politischen Repräsentanten“, die es mit Hilfe von mehr Möglichkeiten zu „bürgerschaftlicher Mitverantwortung“ zu schließen gelte. Dass es bei dieser Form der Bürgerbeteiligung jedoch nicht um eine größere Teilhabe an tatsächlichen Entscheidungen, sondern lediglich um eine Einbindung potenzieller Störenfriede geht, belegen die parallel zur genannten Presseerklärung in Zusammenarbeit mit der Herbert Quandt-Stiftung veröffentlichen zehn Grundsätze zur bürgerschaftlichen Mitverantwortung. Darin heißt es: „Bürger sollen nicht selbst an die Stelle von Entscheidern treten. Doch Bürger können Mitverantwortung übernehmen. Dadurch können Planungen und Entscheidungen schon im Vorfeld qualitativ verbessert werden, und sie können mehr Transparenz, Verbindlichkeit und Verlässlichkeit gewinnen. Bürgerschaftliche Mitverantwortung erfordert eine neue Art der Zusammenarbeit zwischen Bürgern und Entscheidern im Prozess der Entscheidungsvorbereitung. Hier müssen Politik und Verwaltung ein völlig neues, qualitativ höheres Maß an Offenheit aufbringen. Hier ist partnerschaftliche, gleichgewichtige, hier ist Zusammenarbeit ‚auf Augenhöhe’ möglich und nötig.“
„Wer die Bürger früh einbindet, bekommt später weniger Widerstand“, lautet die Devise eines von Maik Bohne im Rahmen der Stiftung Neue Verantwortung durchgeführten Forschungsprojekts dessen erklärtes Ziel es ist, frei nach Niklas Luhmann „mehr Legitimation durch neue Verfahren“ zu erreichen. Jedenfalls ist das die Formel mit der Bohne seine Tätigkeit am 28. November 2011 in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt selbst kurz und bündig zusammenfasste. Das Projekt selbst trägt den Titel: Kollaborative Demokratie 21.


Bürgerbeteiligung bei Großbauvorhaben
Als bloße Farce entpuppten sich auch jene Vorschläge zur Erweiterung der Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung bei der Planung von Großvorhaben im Verkehrssektor, die Verkehrsminister Peter Ramsauer und Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (beide CSU) bei einer gemeinsamen Pressekonferenz am 28. März 2012 in Berlin vorstellten. Im Mittelpunkt steht die Absicht, den zunehmend in Frage stehenden Bau großer Verkehrsprojekte durch die frühzeitige Einbindung und Neutralisierung potenzieller Widerstandsakteure zu beschleunigen. Man hofft, kostspieligen Protesten vorzubeugen, indem „aus Betroffenen Beteiligte werden.“ Der von Friedrich vorgestellte Entwurf eines Gesetzes zur „Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren“ (PlVereinhG) dient der Konfliktvermeidung und soll die gerichtliche Anfechtung von Behördenentscheidungen reduzieren helfen. Bei dem außerdem präsentierten 80seitigen Entwurf für ein „Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung“ handelt es sich nach Aussage von Ramsauer um einen „Werkzeugkasten“, mit dem Behörden und Bauträger für eine effektive Einbindung der Betroffenen sorgen könnten. Als Konsequenz aus den Protesten gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 hatte Merkels Kabinett bereits vier Wochen zuvor beschlossen, die Bürger bei Großprojekten umfassender und früher als bisher in die Planungen einzubinden. Der Ende Februar 2012 beschlossene Gesetzentwurf sieht allerdings keine Pflicht zur Bürgerbeteiligung vor, sondern setzt auf Freiwilligkeit. Das Handbuch liefert für die völlig unverbindlichen Empfehlungen konkrete Umsetzungsvorschläge. Dazu gehören Runde Tische, Bürgersprechstunden und die Nutzung des Internets.
Die Bürger sollen, wenn es für nötig erachtet wird, besser über geplante Flughäfen, Bahnlinien und Stromtrassen informiert werden können und gegebe-nenfalls vermehrt die Möglichkeit erhalten, frühzeitig zu den Bauvorhaben Stellung zu beziehen. Das Recht, tatsächlich mit zu entscheiden, ist für sie dagegen nicht vorgesehen. Die „grundsätzliche Bedarfsentscheidung für Infrastrukturprojekte“ treffe das Parlament, heißt es auf der Homepage des Bundes-verkehrsministeriums: „Dabei findet, wie bei anderen parlamentarischen Entscheidungen der repräsentativen Demokratie auch, keine Bürgerbeteiligung statt.“ Eine Reihe von Funktionen machen die Ausweitung von Beteili-gungsverfahren in den Augen der Regierung zu einem Zeit und Kosten sparenden Mittel der Befriedung und Akzeptanzbeschaffung. Erstens würden die Bürger frühzeitig integriert und seien daher eher bereit, dem Vorhaben ihre Zustimmung zu geben. (Integrationsfunktion). Zweitens könnten manche Konflikte durch die rechtzeitige Information der Bürger schon im Vorfeld des förmlichen Verfahrens gelöst werden (Rechtsschutzfunktion). Drittens trügen die Bürger selbst zur Optimierung der technischen Planung bei (Rationalisierungsfunktion). Viertens könnten gerichtliche Auseinandersetzungen, das heißt Verfahrensverzögerungen und gegebenenfalls auch nachträgliche Änderungen, durch entsprechende Plananpassungen vermieden oder zumindest verringert werden (Effektivierungsfunktion). Fünftens werde die Legitimation des Planungs- und Entscheidungsprozesses durch die Berücksichtigung der Einwände der Bürger selbst dann erhöht, wenn diese am Ende gegenüber an-deren Interessen zurückstehen müssten (Legitimationsfunktion). Sechstens ermögliche die erhöhte Transparenz die Möglichkeit, den Planungs- und Entscheidungsprozess nachzuvollziehen (Kontrollfunktion). Insgesamt sollen Elemente der Bürgerbeteiligung dazu beitragen, das Vertrauen der Bürger in Verwaltung und Politik zu steigern, denn der Konsens für eine Entscheidung steige, wenn das zugrunde liegende Verfahren als fair betrachtet werde.


Strategische Dialoge
Um den Versuch, das Vertrauen der Bürger in die Politik der Regierung zu steigern, ging es im Frühjahr 2012 auch bei einer Initiative des Kanzleramts. Unter der Überschrift „Dialog über Deutschlands Zukunft“ sollten ganz normale Bürger mittels Diskussionsbeitrag auf einer eigens eingerichteten Inter-netseite und im Rahmen von insgesamt drei Bürgergesprächen die Gelegenheit haben, der Bundeskanzlerin Angela Merkel einmal die Meinung zu sagen und mit eigenen Vorschlägen die Politik ihrer liberalkonservativen Koalitionsregierung mitzubestimmen. Im Mittelpunkt standen dabei drei Fragenkomplexe: Wie wollen wir zusammenleben und denen helfen, die noch am Rande stehen? Wie sichern wir unseren Wohlstand? Wie lernen wir als Gesellschaft? Merkel versuchte in dieser Inszenierung den Eindruck zu erwecken, als ob sie den Rat der Bürger auch anzunehmen bereit wäre: „Wir werden gute Ideen auch an die zuständigen Ministerien weiterleiten“, ließ sie sich dazu vernehmen. Im Stern (02/2012) kommentierte Hans-Ulrich Jörges: Zum ersten Mal in ihrer schon sechs Jahre dauernden Kanzlerschaft unternehme Angela Merkel „den Versuch eigener Sinnstiftung“. Die Kanzlerin habe damit ein Experiment begonnen, so spannend wie riskant. In Wirklichkeit ging es aber nicht um eine wirkliche Erweiterung der Partizipation, sondern vielmehr um deren Simulation. Ausprobiert wurde eine an die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters angepasste klassische Machttechnik der von oben gelenkten Demokratie, für die der italienische Philosoph Domenico Losurdo den Ausdruck Soft-Bonapartismus prägte: Die Spitze der Exekutive inszenierte sich als unmittelbarer Ansprechpartner der Bürger, deren Interessen es gegen unfähige Funk-tionäre aus Parteien und Gewerkschaften durchzusetzen gilt. Die Kanzlerin gab sich den Anschein, ausgesprochen pragmatisch und vor allem überparteilich zu sein. Ihr zurückhaltender, selten auftrumpfender Führungsstil unterstützt die bonapartistische Suggestion, dass einzig und allein sie selbst gewährleisten könne, dass die langfristigen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung über den Tag und die Legislaturperiode hinaus berücksichtigt werden.


Zynische Bürgergesellschaft
Die zahlreichen Experten, die von Merkel mittels sechs Arbeitsgruppen in das Dialogverfahren einbezogen worden waren, erscheinen freilich wenig geeignet, diesem Anspruch zu genügen. Ausgerechnet in jener Arbeitsgruppe, die neue Formen der Partizipation diskutieren sollte, tummelten sich Politik- und Unternehmensberater, die vor allem die strategische Wirkung partizipatorischer Verfahren im Auge haben. Darunter war ein Experte der Bertelsmann-Stiftung, deren 2009 verstorbener Gründer Reinhard Mohn unter „demokratische Bürgergesellschaft“ die Ausdehnung marktwirtschaftlicher Wettbe-werbsprinzipien auf den gesamten politischen Bereich verstand. Ein Vertreter der IFOK GmbH nahm die strategische Bedeutung der Beteiligung für die Le-gitimationsbeschaffung von Regierungsprojekten in den Blick. Die theoretische Grundlage für die „Verzahnung von strategischer Steuerung und moder-nen Beteiligungsformen“ hatte der IFOK-Mitarbeiter und heutige Leiter der Abteilung Politische Planung, Programm und Analyse der FDP Christopher Gohl mit seiner einschlägigen, von der Bertelsmann Stiftung herausgegebenen Studie „Organisierte Dialoge als Strategie“ (2010) gelegt. Die Freiheit der von ihm propagierten „Bürgergesellschaft“ meint nicht viel mehr als die selbst organisierte Kapitulation vor den vermeintlich unabänderlichen Gesetzen des Kapitals.
Eine wichtige Aufgabe des unter maßgeblicher Beteiligung der FDP-Führung ins Amt gebrachten konservativen Bundespräsidenten Joachim Gauck könnte nun darin bestehen, neue Formen der Bürgerbeteiligung auch jenen Anhängern des liberalkonservativen Lagers schmackhaft zu machen, die sich immer noch davor fürchten. Besonders dazu eignen dürfte er sich vor allem deshalb, weil er zunächst selbst „Einwände und Bedenken gegen allzu schnelle und weitgehende Reformen im politischen Prozess“ (Gauck 2011, S. 11) deutlich formuliert hatte, angesichts des Glaubwürdigkeitsproblems der Politik nun aber einer Debatte über neue Beteiligungsformen für dringend notwendig hält, denn: „Wir brauchen unbedingt aktivierende Elemente in der Politik.“ (Tagesspiegel, 30.12.2010)

(für das Dokument inklusive der Fußnoten siehe die pdf-Datei)

Literatur
Borchard, Michael: ’Volksdemokratie’ in Deutschland? Eine kleine kritische Kulturge-schichte der direkten Demokratie, in: Die Politische Meinung, Nr. 498, Mai 2011, S. 14-18
Brettschneider, Frank: Kommunikation und Meinungsbildung bei Großprojekten, in: APuZ, 44-45/2011, S. 40-46
Frick, Lothar: Vorbild für eine neue Form des Dialogs? Die Schlichtung zu Stuttgart 21: Eskalation und Deeskalation eines Konflikts, in: Die Politische Meinung, Nr. 498, Mai 2011, S. 19-23
Gauck, Joachim: Vorwort, in: Giesa, Christoph: Bürger, Macht, Politik, Franfurt/New York 2011
Geißler, Heiner: Sapere aude! Warum wir eine neue Aufklärung brauchen, Berlin 2012
Gohl, Christopher: Organisierte Dialoge als Strategie, Gütersloh 2010
Mattern, Philipp/Wehrle, Hermann: Mehr Demokratie wagen? Warum Bürgerbeteili-gung kritisch zu betrachten ist, in: Mieterecho, Nr. 354, März 2012, S. 4/5
Süssmuth, Rita: „Demokratie: Mangelt es an Offenheit und Bürgerbeteiligung?“, in: APuZ, 44-45/2011, S. 3-7
Wagner, Thomas: Die Demokratie, die sie meinen, in: junge Welt, Nr. 294, 19.12.2011, S. 10/11
Wehrle, Hermann: Demokratie am Katzentisch. Neue Strategien der Bürgerbeteiligung, in: Mieterecho, Nr. 354, März 2012, S. 8/9
Wilk, Michael: Macht, Herrschaft, Emanzipation. Aspekte anarchistischer Staatskritik, Grafenau 1999
Zieschang, Tamara: Das Ganze im Blick haben, in: Die Politische Meinung, Nr. 496, März 2011, S. 15-19