Einhegung fraktioneller Sonderinteressen

Eingestellt 16.8.2020

16.08.2020
von Christian Stache

So viel Kapitalistenschelte hat es seit der Krise 2009 nicht mehr gegeben. Was der veröffentlichten Meinung damals der (in der Tat) gierige Banker war, ist heute Deutschlands Fleischkapitalist Nummer eins, Clemens Tönnies. Dieser muss seit den Corona-Infektionen von über 1.500 Werkvertragsarbeitern allein in seinem Stammwerk in Rheda-Wiedenbrück und den dafür verantwortlichen Arbeits- und Lebensverhältnissen überwiegend osteuropäischer Arbeitsmigranten derzeit viel Kritik einstecken. Sogar aus der CDU, in Nordrhein-Westfalen (NRW) und Niedersachsen sonst eine Bastion der Fleischbarone, gibt es „kritische“ Stimmen.

Zu mehr als der temporären Stilllegung des Schlachtbetriebs am Tönnies-Hauptsitz, der Ankündigung durch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), die Werkvertragsarbeit zum 1. Januar 2021 in der Fleischindustrie zu verbieten, und ein paar markigen Sprüchen von NRW-Ministerpräsident Laschet (CDU) hat der öffentliche Unmut jedoch noch nicht geführt. Ob Heils Vorhaben Bestand hat und die Neuregelung der Arbeitsverhältnisse in der Fleischindustrie überhaupt reale Verbesserungen für Schlachthofarbeiter bringt – all das ist Zukunftsmusik. Das Feilschen um die zukünftige Ausgestaltung der Ausbeutungsverhältnisse hat bereits begonnen. Tönnies und der Verband der Fleischwirtschaft (VdF), der Interessenverband des deutschen Fleischoligopols, werden ihre Profite und Wettbewerbsvorteile mit Zehen und Klauen verteidigen.

Zur richtigen Einschätzung der aktuellen Haltung der offiziellen Politik gegenüber der deutschen Fleischindus- trie im Allgemeinen und Tönnies im Besonderen sollte man sich ferner mindestens drei historische Fakten in Erinnerung rufen. Erstens haben in der Vergangenheit wiederholt Politiker aus den Reihen der bürgerlichen Einheitsfront im Bundestag den Fleischmagnaten öffentlich die Leviten gelesen und ihnen trotzdem freies Geleit gewährt. Ein gewisser Sigmar Gabriel (SPD) – zwischen März und Mai 2020 wohldotierter Tönnies-Berater – sagte als Bundeswirtschaftsminister 2015 über das Ausbeutungssystem in der Fleischindus- trie, es sei eine „Schande für Deutschland“. Anschließend ließ er Tönnies, Vion, Westfleisch und Co mit einer freiwilligen „Selbstverpflichtung der Unternehmen für attraktivere Arbeitsbedingungen“ davonkommen, die nichts an den bekannten Problemen änderte. Zweitens hat Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) im vollen Wissen um die Arbeits- und Wohnbedingungen der Werkvertragsarbeiter gleich zu Beginn der Corona-Pandemie die Fleischindustrie als „systemrelevant“ eingestuft, so dass die Konglomerate trotz Lockdown fleißig weiter Profit machen konnten. Schließlich haben Grüne bis FDP den Niedriglohnsektor in Deutschland und die Anwerbung von Niedriglohnarbeitskräften aus der EU-Peripherie ebenso implementiert und Zeit ihres Bestehens im Kern nicht angetastet wie die agrobusinessfreundliche EU-Agrarpolitik oder die Exportförderung für die Fleischindustrie. Mit anderen Worten: Dieselben politischen Kräfte, die Tönnies heute medienwirksam Standpauken halten, sind aufgrund ihrer Politik nicht nur mitverantwortlich für die Verbreitung des SARS-CoV-2-Erregers in den Fleischwerken des Landes. Sie haben das „System Tönnies“ mit ermöglicht und es seit Jahrzehnten erfolgreich protegiert. Von ihnen Abhilfe zu erwarten, ist wie zu glauben, der FC Bayern leiste freiwillig Verzicht auf die deutsche Fußballmeisterschaft.

Denn, und das weiß das etablierte politische Personal nur allzu gut, das „System Tönnies“ infrage zu stellen bedeutete weitaus mehr als „faire Werkverträge für die deutsche Wirtschaft“ (Tönnies) oder „klare Regeln gegen Werkverträge“ (DGB). Selbstverständlich gehören Werkvertrags- und Leiharbeit sofort und auch vollständig verboten – statt nur „fair gestaltet“. Aber das System, das in der Fleischindustrie praktiziert wird, ist weder auf die verheerenden Arbeits- und Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen aus der Peripherie oder auf die Fleischproduktion und -verarbeitung als Branche eingrenzbar. Noch ist es ein Relikt aus den bösen, überkommenen Zeiten des Kapitalismus oder auf das Fehlverhalten von Einzelkapitalisten wie Tönnies, der freilich eine leitende und verantwortliche Rolle spielt, zu reduzieren. Es mit der deutschen Fleischindustrie wirklich aufzunehmen hieße, an den Grundfesten des Modells kapitalistischer Entwicklung im imperialistischen Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu rütteln, dessen Konturen man in der Fleischherstellung wie durch ein Brennglas erkennen kann. Es umfasst ein vielschichtiges System verschiedener Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse, die das Kapital zu Proletariern, Tieren und zur Natur unterhält und das durch rassistische, sexistische und speziesistische Kultur verschleiert und gerechtfertigt wird.

Dass man diesem auch nicht mit höheren Preisen für Fleisch beikommt, ist offenkundig. Daher ist es bestenfalls Augenwischerei, wenn grün-konservative Kreise seit Monaten bei jeder Gelegenheit höhere Preise ins Spiel bringen, so als ob Produzenten und Handel (Aldi und Konsorten) nicht auch den Aufpreis, den die Subalternen zahlen, in die eigenen Taschen umleiteten würden. Ebenso unzureichend ist es, allein Tönnies zur Rechenschaft zu ziehen, Vion, PHW oder Westfleisch aber ungestört weiter werkeln zu lassen. Gleichwohl sollte Tönnies selbstredend der Erste sein, dessen Milliardenvermögen und -umsätze für die Konversion einer historisch obsoleten Industrie verwendet werden.

Das Gezeter gegen den Fleischmogul und die Forderungen an ihn und seine Komplizen deuten aber bedauerlicherweise keine Kehrtwende im Umgang mit den Ausbeutungsbeziehungen in der Fleischindustrie an. Vielmehr wird ein fraktionelles Sonderinteresse durch den ideellen Gesamtkapitalisten eingehegt. Auf gut Deutsch: Die Avantgarde des Kapitals um Tönnies ist etwas zu harsch im Klassenkampf vorgeprescht, jetzt pfeift man sie zurück und zwingt sie im Sinne der Durchschnittsherrschaft der Bourgeoisie, sich wieder in die eigenen Linien einzureihen.

Daher ist es auch nicht gänzlich auszuschließen, dass das Fleischkapital in Zukunft einige Opfer ökonomisch-korporativer Art erbringen muss, um die Zustimmung zur bürgerlichen Hegemonie inklusive ihrer auf Fleisch basierenden Lebensweise zu erhöhen. Aber das Wesentliche werden diese nicht betreffen. Damit es auch um dieses gehen könnte, bedürfte es politischer Kräfte, welche die Systemfrage ausgehend vom Widerspruch zwischen Kapital einerseits und Arbeit, Natur und Tieren andererseits mit revolutionärer Realpolitik konkret stellen.