Euro-Krise und Alternativen der Linken

Soll Griechenland den Euro aufgeben?

Ein Gespräch mit dem Sender „The Real News Network" (TRNN)

von Costas Lapavitsas
September 2012

TRNN: In Europa ist die Eurozone dabei, sich weiter zu zerlegen. Griechenland
ist wohl am stärksten betroffen, wenn die europäischen Banken und politischen
Führer immer neue und strengere Austeritätsprogramme fordern. Papandreou,
der alte Premierminister, ist weg vom Fenster, der neue heißt Papademos. Was
also steht Griechenland bevor? Das alles werden wir mit Costas Lapavitsas be-
sprechen, Wirtschaftsprofessor an der Universität London und regelmäßiger Ko-
lumnist des „Guardian“. Danke dass Sie gekommen sind, Costas.

CL: Danke für Die Einladung.

TRNN: Wie steht es also mit dem Kampf des griechischen Volks gegen die Auste-
ritätsmaßnahmen? Der neue Premierminister wird ja als Technokrat bezeichnet.
Er kommt aus der europäischen Bankenwelt. Wohin wird das alles führen?

CL: Zunächst möchte ich hervorheben, dass wir derzeit eine unter demokrati-
schen Gesichtspunkten unglaubliche Entwicklung erleben. Die EU und die eu-
ropäische Währungsunion haben ja vor allem die Aufgabe, die Demokratie zu
verteidigen und sicherzustellen, dass sich der freie Wille der Völker durch
Wahlen und anderes ausdrücken kann. Aber was wir in den letzten Wochen in
Griechenland und – noch krasser – in Italien (immerhin ein großes Land) er-
lebt haben ist das direkte Gegenteil. Hier wurden Regierungschefs und ganze
Regierungen auf der Grundlage der Prioritäten und des Drucks der Finanz-
märkte und einzelner großer Finanzakteure ausgewechselt. Wenn das unter De-
mokratie verstanden wird, dann läuft da etwas ganz und gar falsch. Dies sind
besorgniserregende Entwicklungen und sehr, sehr schlechte Vorzeichen für die
Zukunft der politischen und demokratischen Prozesse in Europa. Hier müssen
die Völker Europas sehr aufmerksam sein und ihre Rechte verteidigen.
Dies ist der erste Punkt, den ich ansprechen möchte. Was nun die Inhalte der
Politik angeht: Ja, in Griechenland ist ein gewählter Regierungschef gegangen
und ein nicht-gewählter Premier ist gekommen, entsprechend dem Wunsch der
Banken und anderer Institutionen; an der Politik selbst aber hat sich nichts ge-
ändert. Der neue Premier hat sehr deutlich gemacht, dass er exakt die gleiche
Politik der Austerität und der internen Abwertung – d.h. Löhne und Preise zu
senken – betreiben wird wie sein Vorgänger, und zwar mit noch mehr Ent-
schlossenheit als bisher. Da aber der Vorgänger gerade wegen dieser Politik ge-
scheitert ist, glaube ich nicht, dass der neue Regierungschef eine besonders lan-
ge Halbwertszeit haben wird; Papandreou ist ja letzten Endes nicht wegen per-
sönlicher Schwäche gescheitert, sondern es war seine Politik, die ihn zu Fall ge-
bracht hat.

TRNN: Das griechische Volk hat sich also auf eine neue Runde der Austerität
einzustellen. Dazu gehört wohl auch die Privatisierung öffentlicher Unter-
nehmen, worüber meines Erachtens nicht genug gesprochen wird: Privatisie-
rungen dürften ein sehr wichtiges Element dessen sein, woran Finanzinvesto-
ren und Banken interessiert sind. Aber welche Wahl hat denn das griechische
Volk? Was kann es fordern? Letzten Endes, meine ich, läuft es doch nur auf
Eines hinaus: Sollte Griechenland die Eurozone verlassen?

CL: Genau das. Die Griechen stehen vor sehr harten Entscheidungen. Davon muss
man ausgehen. Dies ist keine leichte Wahl für Griechenland und – das meine ich –
keine leichte Wahl für die gesamte Peripherie der Eurozone. Schließlich steht
Spanien nicht viel besser da als Griechenland, Italien geht’s ziemlich schlecht und
auch Irland geht’s nicht besonders gut. Wo sollte man aufhören?
Aber zurück zu Griechenland. Um entscheiden zu können, was zu tun ist,
braucht man einen klaren Maßstab. Was sind die Alternativen, zwischen de-
nen abzuwägen ist? Und diesen Maßstab liefern nicht die Jahre 2005, 2006,
als Geld billig war, als der Konsumstandard hoch war, als alles so weiter zu lau-
fen schien, als wir eine Art Prosperität erlebten, und zwar wesentlich auf der
Grundlage billiger Kredite. Das kommt nicht wieder. Das kann also nicht der
Maßstab für Entscheidungen sein. Der wirkliche Maßstab ist: Was wird aus dem
Land, wenn die aktuelle Politik weitergeführt wird? Griechenland steckt inmit-
ten einer tiefen Depression. Das Inlandsprodukt wird dieses Jahr (2012, der Ü-
bers.) voraussichtlich um 7 Prozent zurückgehen, ein unglaublicher Einbruch.
Die Arbeitslosigkeit geht gegen 18 Prozent, bei der Jugend gegen 45 Prozent.
Wenn dieser Schrumpfungsprozess beendet sein wird – wahrscheinlich erst im
übernächsten Jahr, nächstes Jahr wird’s weiter zurückgehen – wird das Land
wahrscheinlich in eine lang anhaltende Periode der Stagnation eintreten, mit
sehr niedrigem Wirtschaftswachstum, hoher Arbeitslosigkeit. Griechenland
wird dann ein unbedeutender, stagnierender und überalterter Winkel Europas
sein; denn die Jugend wird das Land verlassen – sie verlässt es schon heute.
Darum geht‘s, an diesem Maßstab haben wir die Alternativen zu messen.
Darüber müssen die Griechen entscheiden.
Meines Erachtens sollten die Griechen zwei Dinge tun – darüber habe ich
mich schon vielfach in Artikeln und Forschungsberichten geäußert, zusammen
mit meinen Kollegen vom Forschungszentrum Geld und Finanzen in London.
Das Erste ist: Griechenland sollte Insolvenz anmelden, also den Default erklären.
Denn die derzeitigen Schulden sind schlicht nicht rückzahlbar. Eine solche De-
fault-Erklärung mag niemand, sie ist nicht einfach. Die Wahrheit ist aber, dass die
politischen Entscheidungsträger das Land in ein System integriert haben, in dem
es möglich war, Schulden zu machen, die nicht rückzahlbar sind. Darum geht es,
eine sehr einfache Tatsache. Selbst die EU räumt das heute ein, sie hat ja selbst
bereits eine gewisse Art von Insolvenz akzeptiert. Der Schuldenverzicht, den die
EU akzeptiert, ist aber ein Default im Interesse der Gläubiger. Deswegen wird er
nicht funktionieren. Ich schlage dagegen eine Insolvenz im Interesse der Schuld-
ner vor, d.h. im Interesse des Landes und seiner Bevölkerung.

TRNN: Und wie soll der nun aussehen?

CL: Dies muss ein demokratischer und souveräner Prozess sein – souverän in
dem Sinne, dass Griechenland die Bedingungen für die Gläubiger festlegt.
Wissen Sie, es ist längst überfällig, dass auch in der Welt der Finanzen die
Mitverantwortung der Kreditgeber für eine vorsichtige und verantwortungs-
volle Kreditvergabe akzeptiert wird. Es ist ganz klar, dass europäische und
andere Banken nicht verantwortungsvoll handelten, als sie den Ländern der
Peripherie so großzügig Kredite einräumten. Es ist nicht fair, wenn sie nun
keinerlei Einbußen hinnehmen wollen und die gesamte Verantwortung auf die
Schuldnerländer abwälzen. Griechenland muss also in der Lage sein, als sou-
veränes Land die Bedingungen einer Schuldenstreichung für die Gläubiger
festzulegen und sich so von einem relevanten Teil der Schuldenlast zu befrei-
en, jener Last, die letzten Endes untragbar ist. Denn die Schulden erdrücken
die griechische Wirtschaft und Gesellschaft. Sie nehmen dem Land den Atem.

TRNN: Und was ist der zweite Punkt?

CL: Zunächst noch was zum ersten Punkt. Die Schuldenstreichung muss im
Rahmen eines demokratischen Prozesses ablaufen, sie darf nicht bloß Sache
einer Regierung sein, selbst wenn diese demokratisch zustande gekommen ist.
Alle Schichten der Bevölkerung müssen einbezogen werden. Im Prozess der
Schuldenabschreibung muss die demokratische Stimme des Volkes, der Zivil-
gesellschaft, der organisierten Arbeiterbewegung gehört werden. Sie haben
ein Recht zu wissen, worum es bei den Schulden geht. Sie haben ein Recht
darauf, zu entscheiden, was und wie genau zurückbezahlt werden soll. Soweit
noch zum ersten Punkt.
Was das zweite Element angeht, so würde ich ganz entschieden dafür plädie-
ren, die Währungsunion zu verlassen. Der Beitritt war ein furchtbarer Fehler.
Der Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit ist auch Ergebnis dieses
Schritts. In der Folge entstanden große Leistungsbilanzdefizite. Die angehäuf-
ten Schulden sind zu einem guten Teil Resultate dieser Defizite. So lange das
Land sich nur im engen Rahmen der Währungsunion bewegen kann, muss es
sich den Austeritätsprogrammen, der Privatisierungs- und Liberalisierungspo-
litik unterwerfen, welche die EU aufzwingt. Die Zukunft wird, wie schon be-
schrieben, eine lang anhaltende Stagnation, ein lang anhaltender Niedergang
sein. Griechenland muss die Eurozone verlassen. Wir müssen aus der Falle
der gemeinsamen Währung ausbrechen. Wir brauchen eine eigene nationale
Währung. Wir müssen wieder in der Lage sein, eine eigene Geld- und Fiskal-
politik durchzuführen. Nur dann kann das Land den notwendigen langen und
schwierigen Kampf um eine Restrukturierung der Wirtschaft im Interesse der
arbeitenden Menschen, im Interesse der Bevölkerungsmehrheit führen und so
einen Wachstumspfad einschlagen. Ich glaube, dass das gelingen kann; dazu
wird aber ein kompliziertes und sehr detailliertes Programm notwendig sein,
wesentlich auf der Grundlage einer sozialen und nationalen Wiederbelebung.

TRNN: Es ist ja nicht so, dass Griechenland nicht über Reichtümer verfügt. Der
griechischen Oberschicht ist es in dieser ganzen Zeit ja nicht schlecht gegangen.
In welchem Verhältnis steht das zu den Aufgaben, die erledigt werden müssen?

CL: Das ist eine ganz zentrale Frage, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Es war
die griechische Oberschicht, die entschieden hat, Griechenland in die Wäh-
rungsunion zu führen. Eine furchtbare Entscheidung. Eine Entscheidung, die
nicht funktioniert hat. Und nun fordert diese Oberschicht das griechische Volk
auf, einen gewaltigen Preis zu zahlen, entweder, um diese Wahl nicht rück-
gängig machen zu müssen, oder aber, um diese Entscheidung zu revidieren,
aber ohne dass die Eliten die Kosten zu tragen haben. Wenn Griechenland al-
so den Euro verlässt und dies so tut, wie ich vorschlage, so muss dies im
Rahmen einer tief greifenden sozialen Strukturveränderung erfolgen. Und ein
Kernelement muss die Umverteilung sein. Griechenland braucht eine Umver-
teilung von Einkommen und Vermögen, ich würde fast sagen: mehr als jedes
andere Land der Währungsunion. Griechenland ist ein Land mit extrem un-
gleichen Verteilungsverhältnissen. Die Reichen und auch die nicht-ganz-so-
Reichen, sogar die wohlhabenderen Mittelschichten zahlen einfach keine
Steuern. Das ist ein gewaltiger Einkommens- und Vermögensvorteil gegen-
über der Mehrheit der Bevölkerung. Das muss aufhören. Das muss rückgängig
gemacht werden. Das aber ist nicht möglich im Rahmen der bestehenden so-
zialen Zustände. Also: Exit Euro. Wenn das mit dem Willen der Bevölkerung
und im Rahmen einer breiten Mobilisierung geschieht, dann gibt es eine gute
Chance, diese Entwicklungen rückgängig zu machen und die dringend not-
wendige Umverteilung durchzusetzen. Mehr soziale Gleichheit ist eine grund-
legende Voraussetzung für Wachstum. Das ist unabdingbar. Nur so können
die Reichen, kann die griechische Elite dazu gebracht werden, ihren Beitrag
zu leisten. Eine weitere Sache, die Griechenland für eine Gesundung braucht –
soweit die Eliten betroffen sind – ist natürlich eine öffentliche Kontrolle und
öffentliches Eigentum im Bankensektor. Die griechischen Banken sind eigent-
lich zahlungsunfähig. Sie haben einen Haufen von griechischen Staatsanlei-
hen, die sie abschreiben müssten. Der Wert der griechischen Banken liegt da-
her gegenwärtig bei Null. Wenn sie frei verkäuflich wären, wäre der Börsen-
wert Null. Sie müssen entschädigungslos verstaatlicht und unter nationale
Kontrolle gebracht werden. Im Folgenden müssten sie restrukturiert und dazu
gebracht werden, sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren, die Finan-
zierung der Binnenwirtschaft. Es geht um die Unterstützung der Klein- und
Mittelbetriebe, die Finanzierung der Produktion, die Schaffung von Arbeits-
plätzen. Denn die größte Tragödie, die Griechenland gegenwärtig erlebt, ist
die Zerstörung der Beschäftigung. Es gibt heute Hunderttausende von Famili-
en in Griechenland, in denen niemand mehr Arbeit hat.

TRNN: Costas, das hört sich ja wie ein Programm für eine politische Bewe-
gung an. Gibt es denn eine solche Bewegung mit einem solchen Programm?

CL: Es gibt keine bestimmte Bewegung, die so etwas vertritt. Und genau das ist
bis jetzt Teil der Tragik der gegenwärtigen politischen Bewegungen. Allerdings
werden diese Dinge breit diskutiert. Die Leute sind sich der angesprochenen Prob-
leme bewusst und Teile dieser Vorschläge wurden schon von politischen Parteien
aufgenommen. Das Kernproblem allerdings, das was die politischen Parteien in
Griechenland nur schwer akzeptieren können, ist die Aufgabe des Euro. Das ist
wirklich schwierig. Und das Problem ist: Ein Austritt ist wirklich schwierig, er
wäre ein Schock; niemand kann sagen, dass es leicht wäre...

TRNN: Ja, es wäre ein Schritt ins Unbekannte.

CL: Genau. Jedenfalls teilweise ins Unbekannte. Dabei gibt es allerdings auch ei-
ne ideologische Seite, denn bei Geld geht es immer auch um Ideologie. Die Leute
identifizieren sich mit der Währung, sie wird Teil von ihnen. Und es ist sehr
schwer zuzugeben, dass die Übernahme des Euro als nationale Währung ein Feh-
ler war. Jetzt müssen wir zu einer schwächeren und engeren Form des Geldes zu-
rückkehren. Das können die Leute nur schwer akzeptieren. Da weigern sie sich,
oder zumindest einige von ihnen. Die Kombination dieser beiden Elemente – der
Schritt ins Unbekannte, die damit verbundenen Gefahren einerseits und die ideo-
logische Seite andererseits – führt dazu, dass politische Parteien diesen Schritt
nicht wagen. Eine weitere sicherlich sehr wichtige Sache sind die geopolitischen
Implikationen. Denn was wir hier diskutieren hat ernste geopolitische Folgen, wie
immer, wenn es um Währungen geht. Wenn man sich entschlossen hat, sich der
Europäischen Währungsunion anzuschließen und man scheitert, dann ist ein Aus-
tritt auch eine geopolitische Entscheidung; viele griechische Parteien fürchten die-
se Folgen. Sie sind nicht bereit, diesen offen ins Auge zu sehen und dem griechi-
schen Volk entsprechende Vorschläge zu machen.

TRNN: Aber was wären denn die Folgen? Marginalisiert zu werden? Oder was
sonst?

CL: Ja, da ist die Angst vor einer Marginalisierung, von Europa abgeschnitten
zu werden. Die Angst vor verstärkten Spannungen mit Nachbarländern. Die
Unsicherheit, wie wohl Griechenland als kleines Land seinen Weg in der Welt
machen kann. Alle diese Ängste werden von der Regierung gepflegt und von
denen, die in der Eurozone bleiben wollen. Der Euro wird noch immer als si-
cherer Hafen für Griechenland dargestellt. Eigentlich ist das lächerlich, ange-
sichts der Tatsache, dass der Euro die schwerste Wirtschaftskrise in der Ge-
schichte des Landes verursacht hat. Doch die Rede vom sicheren Hafen kommt
noch immer an, jedenfalls in einem gewissen Ausmaß. Und solange politische
Parteien, eine einzelne politische Partei oder eine Parteienallianz, auf diese
Ängste keine befriedigende Antwort haben, solange diese den Menschen nicht
versichern, dass sie auf ihre eigene Kraft vertrauen können, dass sie nicht in ei-
nem dunklen Abgrund verschwinden werden, dass sie das Land mit Hilfe ihrer
Fähigkeiten umgestalten können, solange werden die Menschen unentschlossen
bleiben. Und solange wird sich die Lage nicht beruhigen.

TRNN: Vielen Dank, Costas, dass Sie zum TRNN gekommen sind.

Übersetzung: Jörg Goldberg

Das Gespräch wurde vor den Doppelwahlen im Mai/Juni 2012 geführt.

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