Editorial

Dezember 2012

Nach wie vor stehen die Zeichen auf Krise: Dies gilt für die Fortdauer der „Großen Krise“ des Finanzmarktkapitalismus, die Ende 2007 über die kapitalistische Welt hereinbrach, für die sich abzeichnende konjunkturelle Krise in Europa, die Krise der Eurozone und der EU insgesamt. Welche Rolle spielen die bundesdeutschen Gewerkschaften in dieser Krise, welche Rolle weisen sie sich selber zu, welche Rolle könnten sie spielen? Das ist Thema des Schwerpunktes des vorliegenden Heftes „Gewerkschaften und ‚Systemfrage’“.

Ausgangspunkt der Überlegungen von Frank Deppe ist die Tatsache, dass die Gewerkschaften im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in den alten Zentren des Kapitalismus mit dem Siegeszug des Neoliberalismus deutlich geschwächt wurden. Gegenwärtig wird auf europäischer Ebene mit der Fokussierung auf die Staatsschulden dieses Programm weiter umgesetzt. „Fiskaldiktatur“, Demokratieabbau und das Anziehen des Nationalismus sind Stichworte. Deppe verweist darauf, dass auch in der herrschenden Politik von einer „Systemkrise“ gesprochen wird, in der systematische Alternativen gefordert sind. Dieser Systemkrise müssten sich die Gewerkschaften stellen und eigenständige Antworten entwickeln. Es komme darauf an, „die Systemfrage mit der konkreten Interessenvertretung und mit der Alltagserfahrung der arbeitenden Menschen sowie der Prekären und Ausgegrenzten zu vermitteln“.

Hans-Jürgen Urban fragt, ob die Gewerkschaften als Interessenorganisationen derer, die zu Opfern der Finanzmarktkrise geworden sind, „Träger einer neuen Kapitalismuskritik“ sein können. Er konstatiert bei den Gewerkschaften eine sukzessive Abkehr von dezidierter Systemkritik (z.B. im DGB-Grundsatzprogramm von 1996) und eine Rücknahme ihrer Gestaltungsansprüche auf die Interessenwahrnehmung der Lohnabhängigen innerhalb der jeweiligen Kapitalismusformation. (Urban setzt sich in diesem Rahmen kritisch mit neueren Arbeiten des Gewerkschaftstheoretikers Müller-Jentsch auseinander.) Zweifellos gebe es Zeichen einer Revitalisierung der Gewerkschaften im Zusammenhang mit keineswegs selbstverständlichen Defensiverfolgen im Zuge der Krisenbekämpfung. Aber sie seien mit Verzicht auf „systemoppositionellen Widerstand sowie soziale und politische Militanz“ erkauft. Angesichts der Krisenerfahrungen ist, so Urban, „eine Erneuerung der gewerkschaftlichen Kapitalismuskritik“ angesagt, die die kapitalistischen Eigentumsstrukturen und die finanzkapitalistische Profitlogik nicht weiter als Tabus akzeptiert.

Felix Syrovatka geht der strategischen Orientierung der bundesdeutschen Gewerkschaften auf einen „Wettbewerbskorporatismus“ kritisch nach, die er als eine – zwar immer umstrittene und umkämpfte, aber letztlich dominierende – Reaktion der Gewerkschaften auf den offenen Siegeszug des Neoliberalismus seit den frühen 1980er Jahren charakterisiert. Sie bewirkte de facto eine Integration in das „Exportmodell Deutschland“ und ließ die Gewerkschaften ohne wirksame strategische Gegenstrategie in einer Position der Defensive verharren. Mit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 nahm sie die Form eines „Krisenkorporatismus“ an, der zwar dazu beitrug, allzu massive Arbeitsplatzverluste abzufangen, der sich aber auch zunehmend als strategische Sackgasse erwies und den Bedarf nach einer Revitalisierung gewerkschaftlicher Strategien offenbarte.

Grundlage der Artikel von Achim Bigus und Thomas Goes sind zwei aktuelle sozialwissenschaftliche Studien zum Arbeiterbewusstsein in der Krise. Während Bigus die Ergebnisse auch vor dem Hintergrund gewerkschaftlicher Kämpfe bei dem mittlerweile stillgelegten Osnabrücker Automobilzuliefererwerk Karmann vorstellt und diskutiert, ist Thomas Goes’ Zugang von der Leitfrage „Wie ist es um die mit der Lohnarbeitsfrage verbundenen Legitimationsprobleme im Gegenwartskapitalismus bestellt?“ geprägt. Bigus unterstreicht u.a. das in den Studien konstatierte erhebliche Protestpotenzial und die „adressatenlose Wut“. Er ergänzt diese Diagnose um die Beobachtung, dass die aktive Beteiligung an Kämpfen, den Blick von Beschäftigten auf gesellschaftliche Zusammenhänge auszuweiten imstande ist. Er plädiert insofern für eine Politisierung der Gewerkschaftsarbeit und ein Abrücken von Stellvertreterpolitik. Goes zufolge lassen sich derzeit durchaus Legitimationsdefizite in Form von Ungerechtigkeitsgefühlen und scharf formulierter Kritik an den Eliten konstatieren. Aber: Es komme nicht zu offenen Konflikten, Mobilisierungspotenziale blieben blockiert. Warum das im Einzelnen so sei, bedürfe indes weiterer Erhebungen.

Sarah Hinz und Daniela Woschnack untersuchen die Auswirkungen der Metall-Tarifrunde 2012 auf mögliche Revitalisierungsansätze in der Strategie der IG Metall. Sie stützen sich dabei auf eine eigene Studie in Bereichen des IG Metall-Bezirks Frankfurt. Die Autorinnen zeigen, wie der Tarifkampf nach Jahren der Lohnzurückhaltung positive Ergebnisse erbrachte und inwieweit dies mit einer erfolgreichen Mobilisierung der Belegschaften zusammenhing. Sie betonen die Bedeutung einer stärkeren Gewichtung qualitativer Elemente, etwa was das Engagement für prekarisierte Beschäftigtengruppen betrifft.

Gewerkschaftliche Ansätze zum Thema „Wirtschaftsdemokratie“ diskutiert Paul Oehlke am Beispiel von drei neuen Publikationen. Der Ausgangspunkt ist auch hier die Einsicht, dass korporatistische Einbindung in den Zeiten der neoliberalen Offensive die Gewerkschaften in eine strategische Sackgasse geführt hat. Die Autoren der diskutierten Studien sehen die Erosion demokratischer Sozialstaatsnormen als eine existenzielle Herausforderung für die Gewerkschaften und versuchen, ihr arbeitsdemokratische Impulse von unten als Grundlage erweiterter gesellschaftspolitischer Aktivierungen und wirtschaftsdemokratischer Transformationsbestrebungen entgegen zu setzen.

Ideologietheorie II: Im laufenden Heft dokumentieren wir einen Briefwechsel zwischen Jan Rehmann und Thomas Metscher, der die in Z 90 (Juni 2012) begonnene Diskussion über marxistische Ideologietheorie fortsetzt. In ihm loten Rehmann und Metscher Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihren Ansätzen aus und skizzieren weiterführende Forschungsfragen. Claudius Vellay setzt sich im zweiten Teil seines Aufsatzes zu Lukács’ späten Überlegungen zum Entfremdungsbegriff insbesondere mit der Rolle der Religion auseinander. Er rekonstruiert Differenzen zwischen Lukács und Bloch, aber auch zwischen Lukács und Gramsci, und diskutiert kritisch Uwe Jens Heuers Neukonzeptionierung des Zusammenhangs von Marxismus und Glauben.

Marx-Engels-Forschung: Rolf Hecker und Jörn Schütrumpf berichten über den aktuellen Stand der Neuausgabe der Marx-Engels-Werke (MEW). Sie legen die Editionsprinzipien offen und gehen auf das Verhältnis dieser klassischen „Studienausgabe“ zur Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) ein.

Geschichte des Sozialismus: An das Werk des marxistischen Rechts-Theoretikers Uwe Jens Heuer erinnert Hermann Klenner. Karl Heinz Gräfe behandelt in einer Detailskizze den repressiven Umgang der sowjetischen Staatsmacht mit den wenig bekannten Arbeiterunruhen in Novočerkassk im Jahr 1962. Er ist für Gräfe ein Ausdruck der Unfähigkeit der damaligen sowjetischen Staats- und Parteiführung, in ihnen Hinweise auf den tatsächlichen Zustand der Gesellschaft zu erkennen und insofern auch eine vertane Chance, Ansätze zur Erneuerung des Sozialismus zu finden. Wurzeln autoritärer Tendenzen im Sozialismus thematisiert Jörg Wollenberg in seinem Beitrag zu „Basisdemokratie und Arbeiterbewegung“ aus Anlass der Festschrift für Günter Benser. Der Konflikt zwischen Basisdemokratie und Zentralismus ist für Wollenberg ein durchgehendes Kennzeichen der Geschichte der Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert. Zahlreiche basisdemokratische Bestrebungen und die unterschiedlichen Gründe ihres Scheiterns stellt der Autor in seinem Beitrag vor. Z-Autor Werner Röhr hat eine umfangreiche zweibändige Darstellung zur DDR-Geschichtswissenschaft vorgelegt. Die Geschichtswissenschaft der DDR hat sich, so Alexander Bahar in seiner Besprechung des ersten Bandes, zwischen produktivem Geschichtsmaterialismus und teleologischen Annahmen bewegt.

Weitere Beiträge: Einen Überblick zur Entwicklung der Staatsschuldenkrise in Griechenland gibt Marcia Frangakis. Sie verweist auf die deformierende Wirkung der Integration Griechenlands in die EU und EURO-Zone auf die Wirtschaft des Landes und die extremen Auswirkungen des von der Troika aufgezwungenen Austeritätskurses. Dieter Boris setzt sich kritisch mit verschiedenen Positionen der lateinamerikanischen Linken auseinander, die in einem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebenen Sammelband „Demokratie, Partizipation, Sozialismus. Lateinamerikanische Wege der Transformation“ vertreten werden. Berichte und Rezensionen betreffen aktuelle Debatten u.a. zu Fragen der Gewerkschaften und Wirtschaftsdemokratie, zur Geschichte des Sozialismus und zur internationalen Politik.