165 Jahre „Kommunistisches Manifest"

Der Kapitalismus als transitorische Formation

Historisch-kritische Bemerkungen zur Revolutionsperspektive von Marx und im Marxismus

von Wolfgang Küttler
März 2013

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Als sich 1998, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, das Erscheinen des Kommunistischen Manifests zum 150. Male jährte, bezeichnete Eric Hobsbawm in der Einleitung zum Gedenkband die Diskrepanz zwischen der nachhaltigen Aktualität der genialen Beschreibung und Kritik der kapitalistischen Entwicklung einerseits und dem Scheitern der daran geknüpften Perspektive ihrer Überwindung durch die Revolution des modernen Proletariats andererseits als große Herausforderung für marxistisches Denken in der Gegenwart. (1998, 20) Fünfzehn Jahre später hat sich zwar die Situation, was die Aufmerksamkeit für Marx angeht, wesentlich verändert. Das Kapitalismus-Problem ist mit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 und ihren Folgewirkungen, die sich als neue Große Krise in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft auswirken, mit aller Schärfe als gesellschaftliche Perspektivenfrage wieder in den Fokus der öffentlichen Diskussion gerückt. Auch im etablierten Diskurs ist dabei die Kapitalismuskritik von Marx nach einer Periode des Totsagens und Totschweigens in ungeahnter Weise aktualisiert worden. Hier aber überwiegt bei aller Beachtung – je mehr Auswege aus der Krise gefunden zu sein scheinen, desto stärker – weiterhin die skeptische Beurteilung oder völlige Ablehnung seiner Gesellschafts- und Geschichtstheorie, soweit darin die Gestaltung einer grundsätzlich anderen Gesellschaft als existenzielle Notwendigkeit für den weiteren Fortschritt der menschlichen Zivilisation begründet wird. Die Hegemonie neoliberaler Ideologie, der zufolge es letztlich keine realistische Alternative zum globalen Kapitalismus gibt, ist trotz zeitweiliger Erschütterung nicht gebrochen, was die praktischen Orientierungen der Herrschenden in der Krise und für deren Überwindung angeht. Diese Denkweise hat bei aller vordergründigen Interessenbindung ihren realen Kern in der ungebrochenen Entwicklungsfähigkeit des Kapitalismus, die ihn bisher alle Krisen überstehen und nach dem Untergang des Sozialismus sowjetischen Typs wieder zum weltbeherrschenden System werden ließ.

Damit sind die beiden widersprüchlichen und nach wie vor in den ideologisch aufgeladenen Grundlagendebatten über den Marxismus heftig umstrittenen Seiten angezeigt, mit denen auch jede konstruktiv praxisbezogene Marx-Rezeption zu Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert ist: Der erstaunlichen Aktualität seiner Kapitalismusanalyse und -kritik steht das Scheitern der bisher versuchten alternativen Entwicklungen und, mehr noch: der scharfe Widerspruch zwischen dem emanzipatorischen Grundanliegen von Marx und der tatsächlichen Praxis von kommunistischen Parteien an der Macht, entgegen.

Die notwendige Problematisierung der Perspektivenfrage zu Beginn des 21. Jahrhunderts verlangt zum einen nach Konzepten und Methoden, die den qualitativen Veränderungen im Kapitalismus seit dem zweiten Drittel des 19. und vor allem seit Ende des 20. Jahrhunderts angemessen sind. Um hier zeitgemäße Orientierungen zu finden, ist auch eine kritische Prüfung der theoretischen Rahmenvorstellungen erforderlich, auf denen die in vieler Hinsicht nach wie vor aktuelle marxsche Kritik beruhte. Auch im linken Diskurs, so vor allem in der Transformationsforschung, ist eine deutliche Distanz zu den „Großtheorien“ des 19. und 20. Jahrhunderts und darunter auch zur marxschen Formations-, Revolutions- und Klassentheorie zu beobachten (Reissig 2009, 15 ff., 20 ff.). So sehr die Transformationsfrage in konkreten Projekten auf spezielle Probleme heruntergerechnet und pragmatisch auf realisierbare Veränderungen konzentriert werden muss (Thomas 2011, 9 ff.), ist sie in linksorientierter Politik und Gesellschaftsanalyse auch und gerade im globalen Kapitalismus der Gegenwart doch immer mit gesamtgesellschaftlichen Systemfragen verknüpft.

Angesichts der Erfahrungen mit der Entwicklung des Marxismus und auch mit aktuellen Debatten ist es dabei nicht trivial, besonders darauf hinzuweisen, dass es sich beim Erbe von Marx und Engels nicht um einen in sich geschlossenen Kanon, sondern um ein offenes „work in progress“ handelt. Ihr Werk entwickelte sich in unaufhörlichem Ringen mit immer neuen Problemen, die sich aus den real ablaufenden Vorgängen für die eigene Konzeption ergaben. Ich beschränke mich im Folgenden auf einen kritischen Vergleich dieses Erkenntnisprozesses und der dabei konzipierten theoretischen und praktischen Wege zur Umgestaltung der Gesellschaft mit der veränderten realen Situation, in der sich ähnliche ebenso wie ganz neue Perspektivenfragen für die menschliche Zivilisation Anfang des 21. Jahrhunderts stellen. Im Vordergrund steht dabei der direkte Zugriff auf das Werk von Marx in Bezug auf das Verhältnis von Formation und Revolution in seiner Analyse und Kritik des Kapitalismus. Die vielschichtige Entwicklung des Diskurses danach und die Analyse der seitherigen realgeschichtlichen Veränderungen können im Rahmen dieser knappen Problemskizze nur angedeutet werden.

1. Proletariat und gesellschaftlicher Umbruch

Das wichtigste dieser kritischen Probleme ist die für den Marxschen Entwurf emanzipatorischer gesellschaftlicher Praxis konstitutive Verbindung der emanzipatorischen Perspektive einer progressiven gesellschaftlichen Entwicklung über den Kapitalismus hinaus mit der sozialen Revolution des modernen, in der großen Industrie konzentrierten Proletariats.

Bereits in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie wird die Befreiung dieser Klasse zugleich als menschliche Emanzipation überhaupt gekennzeichnet (MEW 1: 390f.). Der Standpunkt des neuen Materialismus, der die Praxis der Menschen bei der Produktion und Reproduktion ihrer Existenzbedingungen als Grundlage aller Geschichte betrachtet, ist „nicht die bürgerliche Gesellschaft“, sondern, so Marx in den Feuerbachthesen, „die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit“ (MEW 3: 7). Die Kritik der ersteren wird wissenschaftlich auf die Kritik der politischen Ökonomie gegründet, aus der sich die objektiven Bedingungen und die geschichtliche Notwendigkeit für die Herstellung letzterer ergeben. Diese ist „die Bewegung, die den bestehenden Zustand“ aufhebt, wie in der Deutschen Ideologie der Kommunismus als praktische Handlungsorientierung und gesellschaftliche Perspektive charakterisiert wird (MEW 3: 35).

Die soziale Revolution des Proletariats ist daher die Zukunft aller modernen Völker, die mit 1789 die politische Befreiung erreicht haben, und sie wird dort, wo noch die antifeudale Transformation nachzuholen ist wie in Deutschland, zusammen mit dieser in einem permanenten revolutionären Übergang erfolgen (MEW 1: 385 f., 391). Diese Perspektive ist auch durchweg die Leitsicht für die ökonomische und gesamtgesellschaftliche Analyse, mit der das Projekt kognitiv begründet wird.

Gemäß diesem Konzept beschreiben Marx und Engels die moderne Entwicklung im Abschnitt „Bourgeois und Proletarier“ des Manifests der Kommunistischen Partei (MEW 4: 462-474) als fortwährenden progressiven Umwälzungsprozess, den die Kapitalisten zwar initiiert und vorangetrieben haben, den sie aber wegen der den neu geschaffenen Produktivkräften immanenten Tendenz zu immer höheren Graden der Vergesellschaftung nicht mehr beherrschen. Mit der Entwicklung der großen Industrie richten sich die Waffen, mit denen die Bourgeoisie die Feudalherren besiegt hat, gegen sie selbst, denn sie hat dadurch mit dem Proletariat auch die Klasse geschaffen, die sich ihrer gegen die Herrschaft des Kapitals bedienen wird (ebenda: 468). Denn mit der Konzentration der Produktion wird „an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation“ gesetzt und auf diese Weise „unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eignen Totengräber. ... Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ (Ebenda: 474)

Bei aller Aktualität dieses Textes fällt eine für unser Thema wichtige Asymmetrie in der Sichtweise der historisch realen Auflösung des Feudalismus und der prognostizierten Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft auf. Einerseits sieht Marx zwischen beiden Transformationsprozessen die Parallele in der Sprengung von nicht mehr mit der Entwicklung der Produktivkräfte übereinstimmenden Produktions-, Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen. So kann er für die Tendenz zur proletarischen Revolution feststellen, dass „unter unsren Augen eine ähnliche Bewegung“ vor sich geht wie beim Untergang der feudalen Gesellschaftsorganisation (MEW 4: 467). Andererseits wird im ersten Fall eine stagnierende durch eine dynamische Produktionsweise abgelöst, die auch im Prozess der eigenständigen Entwicklung nur durch die permanente Umwälzung der Produktivkräfte und aller gesellschaftlichen Lebensbereiche existieren kann. Ihre Überwindung kann somit nur dadurch erfolgen, dass die sich im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft ständig weiter entwickelnden Produktivkräfte von den Fesseln der Kapitalherrschaft befreit werden. Als Voraussetzungen dafür hatten Marx und Engels bereits im Manifest objektiv die Tendenz zur Spaltung der Gesellschaft „mehr und mehr ... in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat“ und subjektiv den Zusammenschluss der Arbeiterklasse zur Assoziation als aktive Kraft der modernen sozialen Revolution (ebenda: 463, 469ff.) ausgemacht.

Aus dieser Sichtweise folgt, dass die moderne Arbeiterklasse den gesellschaftlichen Charakter, die Bourgeoisie aber das anarchische, noch naturwüchsige Element der modernen Produktionsweise repräsentiert. Die Bourgeoisie ist nach der Prognose im Manifest zum einen „willenloser und widerstandsloser Träger“ des Fortschritts der Industrie (ebenda: 473), während dieser zum anderen zur Vereinigung der Arbeiterklasse führt. Darauf gründet sich die starke Prognose im Manifest und auch die Hoffnung, die kommende Umwälzung werde schneller erfolgen als frühere Formationsübergänge. Denn durch den hohen Vergesellschaftungsgrad des konzentrierten Kapitals werde, so heißt es dazu später im Kapital, die „Verwandlung des tatsächlich bereits auf gesellschaftlichem Produktionsbetrieb beruhenden kapitalistischen Eigentums in gesellschaftliches“, ungleich weniger schwierig und langwierig sein als die den Kapitalismus konstituierende „Verwandlung des auf eigner Arbeit der Individuen beruhenden zersplitterten Privateigentums in kapitalistisches“ (MEW 23: 791).

Wie sich an dieser Übernahme in das Hauptwerk zeigt, hielt Marx grundsätzlich an dieser exponentiellen Tendenzanalyse und Prognose in allen Schaffensperioden fest, wobei sich allerdings die kognitive Basis mit den umfassenden ökonomischen und historischen Untersuchungen des modernen Formationsprozesses verändert. Im ersten Band des Kapital wird die Perspektive von 1848 im Abschnitt über die „Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“ (MEW 23: 789-792), wo Marx in einer Fußnote auf das Manifest verweist (ebenda: 791), nochmals bekräftigt, aber nunmehr im Kontext einer umfassenden Analyse der Genesis des Kapitalismus. Darin erscheinen die zuvor ausführlich beschriebenen Entstehungsbedingungen bereits als Vorstufe der Überwindung der Kapitalherrschaft. Die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals geschieht durch die „Expropriation der unmittelbaren Produzenten, d.h. die Auflösung des auf eigner Arbeit beruhenden Privateigentums“ (ebenda: 789). Sobald nach hinreichend durchgreifender Verwandlung „der Arbeiter in Proletarier“ und ihrer „Arbeitsbedingungen in Kapital ... die kapitalistische Produktionsweise auf eignen Füßen steht, gewinnt die weitere Vergesellschaftung der Arbeit“ eine qualitativ neue Form: „Was jetzt zu expropriieren, ist nicht länger der selbstwirtschaftende Arbeiter“, sondern auf dem Wege der immer weiteren Konzentration des Kapitals „der viele Arbeiter expropriierende Kapitalist“ (ebenda: 790). Im Ergebnis dieses Konzentrationsprozesses steht schließlich einer „beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten“ eine ständig wachsende, „durch den Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise selbst“ geschulte und organisierte Arbeiterklasse gegenüber, und die „Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt.“ (Ebenda: 791)

Einerseits schienen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise 1847 wie auch weiterer folgender zyklischer Krisen und die Revolution von 1848/49, die in Frankreich bereits in eine direkte Konfrontation des Proletariats mit der Bourgeoisieherrschaft kulminierte, ebenso wie später die Pariser Kommune von 1871 diese Prognose sowohl in der Ökonomie als auch durch Verlauf und Tendenz der Klassenkämpfe zu bestätigen. Andererseits aber offenbarte deren realer Ausgang, dass weder die ökonomische noch die soziale und politische Entwicklung für den erwarteten Durchbruch reif war. Vielmehr brachte die weitere Entwicklung auf beiden Seiten der Klassenspaltung sehr bald zusammen mit sich verstärkender Polarisierung in der festgestellten Richtung auch langfristig wirkende gegenläufige Tendenzen hervor, und zwar sowohl in der mit der Konzentration des großen Kapitals immer wieder einhergehenden Behauptung und Entstehung von Kleinbetrieben als auch in der Differenzierung der Unternehmerschichten ebenso wie der Lohabhängigen. Damit wurde neben der Tendenz zur Konzentration auf den einen Antagonismus von Kapitalisten und Arbeiterklasse eine ebenso ständig zunehmende Differenzierung der Sozialstrukturen auf beiden Seiten und damit auch der gesamtgesellschaftlichen Formierungen deutlich. Insofern ist die Werk- und Problemgeschichte des marxschen emanzipatorischen Projekts auch die Geschichte einer beständigen Auseinandersetzung mit der Variabilität und Flexibilität der zu überwindenden Produktions- und Herrschaftsweise.

2. Formationsgeschichtliche Überlegungen und revolutionäre Perspektive

Diese Veränderungen erforderten umfassende Analysen und theoretische Reflexionen zur Frage des geschichtlichen Platzes der neuen Produktionsweise und Gesellschaftsordnung. Es war von vornherein das Neue der marxschen Kritik, dass sie sich nicht einfach gegen eine neue ökonomisch begründete Form der Ausbeutung und Unterdrückung sowie deren Widerspiegelung in der bürgerlichen ökonomischen Wissenschaft richtete, sondern diese als das Grundverhältnis einer besonderen Gesellschaftsformation begriff. Was später als Formationstheorie rezipiert wurde, war ursprünglich das begrifflich-methodische und theoretische Instrumentarium der marxschen Analyse des Kapitalismus. Dafür sind zunächst drei Grundaspekte zu unterscheiden: Erstens die Erfassung der auf Warenwirtschaft, in der Produktion investiertem Kapital und der Ausbeutung von Lohnarbeit beruhenden, modernen Gesellschaftsform als einer auf eigenen ökonomischen Grundlagen sich entwickelnde Formation, wobei deren Bezeichnung als „kapitalistisch“ erst in der Phase der Arbeiten am „Kapital“ die bisherige, von Hegel übernommene Bestimmung als „bürgerliche Gesellschaft“ ersetzte. Zweitens deren historische Unterscheidung und Herleitung im Verhältnis zu früheren Gesellschaftsformen im Prozess der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. Drittens die Begründung der Prognose des Untergangs durch die inneren Widersprüche der ökonomischen Entwicklung, auf der die Kapitalherrschaft beruht, und die daraus abgeleitete Perspektive der sozialen Revolution des Proletariats.

Dabei zeigten sich bei der Untersuchung der konkreten Prozesse, durch die sich die neue Produktionsweise als eigenständiges System und formierende Grundlage aller gesellschaftlichen Bereiche entwickelte und ausbreitete, gegenüber dem englischen Muster sehr unterschiedliche Wege ihrer Entstehung und Ausprägung. Marx befasste sich mit der konkret-historischen Vielfalt dieses modernen kapitalistischen Umwälzungsprozesses und seiner historischen Voraussetzungen in umfangreichen empirischen Forschungen. In den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie und im Kapital konfrontiert er die kapitalistische Produktionsweise allgemein mit dem noch naturwüchsigen Charakter aller Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen (MEW 42: 383-421), und speziell mit deren Veränderungen in der europäischen Feudalgesellschaft, aus deren Auflösung sie in ihrer Ursprungsregion unmittelbar hervorgeht. Im ersten Band des Kapital verweist er bei der Beschreibung der ursprünglichen Akkumulation neben der typischen Auflösungsform auch auf die „unmittelbare Verwandlung von Sklaven und Leibeignen in Lohnarbeiter, also bloßen Formwandel“ als mögliche Übergangsform (MEW 23: 789). Die unterschiedlichen Formen der Herausbildung der Kapitalistenklasse werden im von Engels edierten dritten Band des Kapital in Studien über das Handelskapital und die Genesis der Grundrente (MEW 25: 335-349; 790-821) analysiert. Marx unterscheidet einen revolutionären und einen konservativen Weg ihrer Entstehung, d.h. einerseits die unabhängige Herausbildung kapitalistischer Unternehmen wie in England und andererseits die allmähliche Unterwerfung feudaler und anderer vorkapitalistischer Formen durch den anpassenden Formwechsel sowohl der besitzenden Klassen als auch der unmittelbaren Produzenten und ihrer sozialen Beziehung (ebenda: 344 f.).

Neben diesen sozialökonomischen Differenzierungsprozessen ging es bei der Analyse der Voraussetzungen für die künftige soziale Revolution auch um Veränderungen in den politischen Machtverhältnissen und gesamtgesellschaftlichen Strukturen. In Mittel- und Südeuropa waren am Ausgang der Revolution von 1848 mit ihren Folgeentwicklungen neben den vorwärtstreibenden auch die aus dem Widerstand feudaler Elemente sowie den Aktionen der Kapitalistenklasse resultierenden hemmenden Faktoren für die Revolutionierung der neuen Gesellschaft zu berücksichtigen. Darüber hinaus beschäftigte Marx angesichts der außereuropäischen Entwicklungen die Frage, wie die moderne Arbeiterbewegung nach einer siegreichen Revolution in den fortgeschrittenen Ländern in einer Umwelt von mehrheitlich noch in alten Strukturen verharrenden, von außen dem Kapitalismus unterworfenen Regionen bestehen könne. Hier traf das expandierende Kapital nicht nur auf den Widerstand von seit Jahrhunderten bestehenden vorkapitalistischen Herrschaftsformen, sondern auch auf Reste ursprünglicher Gemeinwesen vorklassengesellschaftlichen Ursprungs. (Engelberg/Küttler 1978, Kap. IV)

Vor diesem Hintergrund wandte sich Marx in seinen letzten Lebensjahren verstärkt der Entwicklung vor der Entstehung klassengesellschaftlicher Verhältnisse zu. Theoretisch und empirisch knüpfte er dabei an die Untersuchungen von Lewis H. Morgan zu den urgemeinschaftlichen Organisationsformen der nordamerikanischen Indianer, an Forschungen über die britischen und niederländischen Kolonien in Asien und an die seit Mitte des 19. Jahrhunderts aufstrebende ethnologische Forschung über die europäischen Gemeindeformen sowie über die russische Obschtschina an. Ihren Niederschlag fanden seine Studien in umfangreichen Exzerpten und in den Briefentwürfen an die russische Revolutionärin Vera Sassulitsch vom Frühjahr 1881 (MEW 19: 384-405; vgl. im französischen Original und mit Übersetzung und ausführlichem Kommentar MEGA2, I.25, 217 ff., 823 ff.). Darin skizziert Marx seine Position zu deren Frage, ob in Russland die sozialistische Revolution auf der Grundlage der hier in den Dorfgemeinden fortbestehenden Formen des Gemeineigentums möglich sei, ohne dass sich der Kapitalismus zuvor entwickelt hätte. In diesem Zusammenhang skizzierte er als erste Ergebnisse seiner damaligen Studien allgemeine formationsgeschichtliche Überlegungen, auf die Engels dann in der Einleitung zum Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats verwies (MEW 21: 27).

Dabei ging es Marx nun auf der Basis neuer Forschungsliteratur wieder wie schon im Frühwerk um das Verhältnis von ursprünglichem Gemeineigentum, Klassengesellschaft und modernem Kommunismus. Die Vorstellung, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung in der Dialektik von Gemein- und Privateigentumsformen nach Grundtypen der Erzeugung ihrer Existenzbedingungen und der Eigentumsformen erfassen lässt, war schon in den Schriften der 1840er Jahre ausgeprägt. Bereits in der Deutschen Ideologie wird die bürgerliche Form als Endphase der auf die ursprünglichen naturwüchsigen Verhältnisse der „Barbarei“ folgenden klassenantagonistischen Zivilisation und damit als unmittelbare Vor- und Durchgangsstufe zur Herstellung der gesellschaftlichen „Verkehrsform selbst“ durch die soziale Revolution des Proletariats dargestellt (MEW 3: 70ff.). Im Manifest wird die bürgerliche Gesellschaft zunächst allgemein der bisherigen Geschichte von Klassenkämpfen (MEW 4: 462) zugeordnet. Sie hat die Ausbeutung nicht aufgehoben, sondern „neue Klassen, neue Bedingungen“ des Antagonismus geschaffen und ist insofern „selbst Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Umwälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise“ (MEW 4: 463f.).

Genau in dieser Denkrichtung hatte Marx auch im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 die „bürgerlichen Produktionsverhältnisse“ als „die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses“ charakterisiert: Die „im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ (MEW 13: 9)

Hier wird deutlich, dass diese revolutionäre Perspektive schon unter den damaligen Bedingungen in einem gewissen Widerspruch zum Begreifen des Kapitalismus als sich auf eigenen Grundlagen entwickelndes gesamtgesellschaftliches System mit spezifischen Funktionsweisen der Steuerung, Anpassung und Stabilisierung stand. Aus der Erwartung der modernen sozialen Revolution folgt eine Relativierung und zugleich Verflüssigung der Systemstabilität im Moment des beständigen revolutionären Übergangs. Der Kapitalismus bedeutet hier permanente Transition, gehört auf der Ebene der Produktivkraftentwicklung selbst schon zu jener geschichtlichen Bewegung, mit der das moderne Proletariat den „bestehenden Zustand“ aufhebt. Engels verortete in diesem Sinne 1880 in Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft die gesamte Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise als „kapitalistische Revolution“ zwischen dem Feudalismus und der proletarischen Revolution (MEW 19: 227f).

In dieser Hinsicht sah sich Marx durch Morgans Erkenntnisse auch und gerade angesichts der weltweiten Vielfalt möglicher Entwicklungsformen in der historischen und perspektivischen Kritik am Privateigentum an Produktionsmitteln und damit auch in der transitorischen Perspektive auf die notwendige Überwindung des Kapitalismus als dessen höchster und letzter Stufe bestärkt.

Aber die formationsgeschichtliche Begründung dieser Standortbestimmung wird jetzt von Marx durch die nähere Bestimmung übergreifender Formationsprozesse in großen Entwicklungsfolgen konkretisiert und erweitert. Ich bezeichne sie, an frühere Diskussionen anknüpfend (Küttler 1976, Engelberg/Küttler 1978), als Großformationen, um sie von der in der einschlägigen marxistischen Diskussion üblichen engeren Begriffsbestimmung zu unterscheiden, mit der asiatische, antike, feudale und bürgerliche Gesellschaften wie auch am Anfang die Urgesellschaft und am Ende die Zukunftsvorstellung vom Kommunismus auf einer Ebene als Gesellschaftsformationen erscheinen.

Nach dem modifizierten Konzept folgt die klassenantagonistische Formationsreihe auf die Urgesellschaft und entwickelt sich selbst in Koexistenz oder Mischformen mit der Stufen- und Schichtenfolge von Urgesellschaften bzw. deren Auflösung bis hin zu ihrer „modernsten Form“, der Territorialgemeinde mit gemeinschaftlicher Bodennutzung und privater Hauswirtschaft in der russischen Obschtschina. Die Entwicklung von privaten Aneignungsformen im Rahmen des noch dominierenden Gemeineigentums hatte als Konsequenz des Übergangs zu Viehzucht und Ackerbau am Anfang der Herausbildung von klassengesellschaftlichen Kulturen gestanden und war nun die Form, in der archaische Strukturen im Rahmen von Klassengesellschaften erhalten blieben. Dagegen trägt nach Marx die kapitalistische Gesellschaft umgekehrt den Dualismus von schon vergesellschafteter Form der Produktivkräfte und noch privater Aneignung der Produktionsmittel in sich. In der Situation Russlands existieren beide Konstellationen, die eine innerhalb der Dorfgemeinde und die andere als deren „historisches Milieu“, durch „die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion“, die ihr „fix und fertig ... die materiellen Bedingungen der in großem Maße organisierten kollektiven Arbeit“ darbiete. Daher könne sie unter den Vorbedingungen des Sieges der proletarischen Revolution im Westen und der Bauernrevolution in Russland „der unmittelbare Ausgangspunkt des ökonomischen Systems werden, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert ..., ohne mit ihrem Selbstmord zu beginnen“ (MEW 19: 405).

Die erste Voraussetzung für diese Perspektive einer formationsgeschichtlichen „Triade“ Urkommunismus – Klassengesellschaft – moderner Kommunismus (Herrmann 1984) ist somit, dass sich das „kapitalistische Gesellschaftssystem heute, in Westeuropa ebenso gut wie in den Vereinigten Staaten, im Kampfe befindet gegen die Wissenschaft, gegen die Volksmassen und gegen die Produktivkräfte, die es erzeugt“ und dass es sich also in einer Krise befindet, „die erst mit seiner Abschaffung“ enden wird. Sie wird zweitens dadurch erleichtert, dass dieses Ende zugleich die „Rückkehr der modernen Gesellschaften zum ‚archaischen Typus’ des Gemeineigentums“ bedeuten werde, nun allerdings – so Marx’ von der späteren Revolutionsgeschichte nicht bestätigte optimistische Überzeugung – auf Basis der modernsten Produktivkräfte, so dass man diesen Vergleich nicht zu fürchten brauche (MEW 19: 385f.).

In diesem Text wird direkt an Passagen aus dem Manifest und aus dem ersten Band des Kapital angeknüpft: Die Bourgeoisie hat mit der großen Industrie, so heißt es im Manifest, „massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen“, von denen kein früheres Jahrhundert ahnen konnte, dass sie „im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten“ (MEW 4: 465). Aber zugleich zeigen die sich häufenden Krisen die „Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse“ (ebenda: 467). Im Kapital schreibt Marx, mit dem „Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale ... entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung der Völker in das Netz des Weltmarkts, und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes“ (MEW 23: 790).

Hier wird übereinstimmend durch Metaphern von der Empörung und der Auflehnung der Produktivkräfte die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus bekräftigt: Die neue Qualität der modernen Umwälzung besteht nicht mehr wie bei der Entstehung der bürgerlichen im Schoße der feudalen Gesellschaft und überhaupt bei früheren Neuformierungen lediglich im Formwechsel der Ausbeutung. Die Alternative zum bürgerlichen Formationsprozess ist vielmehr, dass die mit der großen Industrie entstandenen Produktivkräfte, denen die Tendenz zur fortschreitenden Vergesellschaftung immanent ist, durch das Proletariat von den Fesseln der Kapitalherrschaft befreit werden.

Gesamtgeschichtlich, vom allgemeinen Fortschritt und der Perspektive der Emanzipation der Menschen von Unterdrückung und Ausbeutung wie auch der Gestaltung ihres Zusammenlebens her gesehen, ergaben sich daraus unterschiedliche Inhalte formationsgeschichtlicher Betrachtung: als Formierung der menschlichen Gesellschaft aus der Natur und in Wechselbeziehung zur Natur; als Formwechsel der Ausbeutung auf Grund des Privateigentums an Produktionsmitteln, im Prozess der Entwicklung antagonistischer Gesellschaften und schließlich als Dialektik von Gemeineigentum und Privateigentum in der Folge ursprünglicher Gemeinwesen, klassenantagonistischer Formationen und der daraus hervorgehenden Entwicklung zum Sozialismus und Kommunismus, womit Marx und Engels die transkapitalistische Entfaltung der menschlichen Gesellschaft zu sich selbst auf den Begriff künftiger Perspektiven brachten.

Aber wie 1848, so erfüllten sich auch Anfang der 1880er Jahre die daran geknüpften Erwartungen nicht. Die Frage, ob die russische Dorfgemeinde im Zuge einer Bauernrevolution hilfreich für die moderne soziale Revolution im Westen und diese umgekehrt stimulierend für die Revolutionierung Russlands sein könne, hatte sich schon wenige Jahre später durch die realgeschichtliche Entwicklung erledigt. In Russland war statt der vorübergehenden revolutionären Situation Anfang der 1880er Jahre die fortschreitende Auflösung der archaischen Strukturen infolge der Expansion des Kapitalismus festzustellen, worauf Engels 1894 im Nachwort zu seinem 1875 veröffentlichten Artikel Soziales aus Rußland nachdrücklich hinwies (MEW 22: 421-435, vgl. analog dazu Lenin, Was sind die ‚Volksfreunde’ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?, LW 1, 119-338).

Die vorläufige Stabilisierung im Rahmen der europäischen Nationalstaaten im Westen konstatierte Engels 1895 kurz vor seinem Tode als Bilanz in der Einleitung zur Neuausgabe von Marx’ Schrift Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850. Hier charakterisierte er die „auf kapitalistischer, im Jahre 1848 also noch sehr ausdehnungsfähiger Grundlage“ fortschreitende ökonomische bzw. industrielle Revolution auf dem europäischen Kontinent als Hauptursache dafür, dass sich die damaligen Erwartungen, die Revolution könne bereits bis zur „Beseitigung der kapitalistischen Produktion“ fortgeführt werden, nicht erfüllt hatten – obwohl es reale Tendenzen im Revolutionsgeschehen gab, die darauf hindeuteten (MEW 22: 513-516, Zitat 515 ). Aber auch er hielt angesichts des raschen Aufschwungs der Arbeiterbewegung im nationalstaatlichen Rahmen, besonders in Deutschland, an der Perspektive einer unvermeidlich bevorstehenden proletarisch-sozialistischen Umwälzung fest, für die er in einem neuen, wieder von den Zentren ausgehenden Anlauf gerade die veränderten Bedingungen und Kampfformen, darunter auch die weitgehende Nutzung des Parlamentarismus und der bürgerlichen Gesetzlichkeit, analysierte (ebenda: 518-527).

3. Periphere Revolution als Treibsatz?

Anders als erwartet, gewissermaßen mit umgekehrten Vorzeichen, gewann diese Perspektive jedoch mit den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 und der zeitlich parallelen Welle revolutionärer Umwälzungen in Mexiko, der Türkei, im Iran und in China wieder höchste Aktualität in theoretischer und praktischer Hinsicht. Die Marxsche Perspektive von 1881 schien sich ab 1905 und besonders durch den ersten Weltkrieg und seine Folgen nach 1917 in gegenläufiger Richtung zu wiederholen, indem die Initiative Russlands der revolutionären Bewegung im Zentrum neue Impulse geben und schließlich wie zuerst durch die Sowjetmacht zum Durchbruch verhelfen könnte. Obwohl auch diese Verbindung der peripheren mit einer zentralen Umwälzung ausblieb, hatte die sich aus Imperialismus, Krieg und Revolution ergebende Möglichkeit bzw. realgeschichtliche Tendenz eines allgemeinen Umwälzungsprozesses in dieser Richtung weitreichende Folgen für die Auseinandersetzungen über die Wege sozialistischer Transformation in der internationalen Arbeiterbewegung. Bezogen auf die Auffassung vom Kapitalismus war es dabei wiederum die entscheidende Frage, ob eine über diesen hinausweisende Entwicklung möglich und tragfähig sein könne, wenn sie – wie es die Bolschewiki unter Führung W.I. Lenins in Russland unternahmen – in einem rückständigen Land, an der Peripherie des Kapitalismus und mittels der Diktatur der revolutionären Partei durchgesetzt werden sollte.

Einerseits setzten sozialdemokratische Theoretiker mehrheitlich auf eine evolutionäre Transformation durch die Arbeiterbewegung (etwa Eduard Bernstein) und die Wandlungen innerhalb des Kapitalismus, die über dessen fortschreitende Konzentration im „Ultraimperialismus“ zur Transformation in Richtung auf den Sozialismus führen würden (etwa Karl Kautsky). Sie lehnten den sowjetischen Weg mit unterschiedlichen Begründungen als grundsätzliche Abweichung vom Marxschen Projekt ab. Auch revolutionäre Sozialisten wie Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci kritisierten die repressiven Tendenzen im Herrschaftssystem der Bolschewiki und setzten auf revolutionäre Entwicklungen in den Zentren, Gramsci unter dem Eindruck des Faschismus in Italien vor allem auf die Herausbildung einer breiten hegemonialen Bündniskonstellation.

Andererseits wurden die russische Revolution und die sowjetische Gesellschaftsentwicklung durch den in der Folge äußerst rezeptionsmächtigen Leninismus als neue Version des revolutionären Marxismus theoretisch begründet. Lenin hielt sich zwar „orthodox“ an die Marxsche Projektion der revolutionären Umwälzung des Kapitalismus durch das moderne Proletariat und teilte auch im Prinzip die Auffassung von Marx, dass die Entscheidung letztlich in den Zentren fallen werde. Aber er trug der Verlagerung des Revolutionsgeschehens in die Peripherie dadurch Rechnung, dass er die Gesamtheit heterogener Veränderungen, die sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts infolge der Strukturwandlungen zum Imperialismus und der weltweiten Expansion des Kapitalismus vollzogen hatten, als unmittelbare Voraussetzungen und Ausgangssituationen der neuen Revolutionsepoche betrachtete. Formationsgeschichtlich bezieht Lenin in seiner Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (LW 22) sowie in anderen Arbeiten im ersten Weltkrieg bzw. nach 1917 das transitorische Moment auf den Monopolkapitalismus, worin er wie Marx im Kapital tendenziell eine Stufe der Vergesellschaftung erkennt, die als unmittelbare Vorbereitung des Sozialismus erscheint (ebenda;. 304 ff. und vor allem in: Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, LW 25: 367 ff.) – damit sieht er wie Marx 1881 das „historische Milieu“ der Reife des Kapitalismus für seine Überwindung als gegeben an. Wiederum ist es eine antizipierende Tendenzanalyse sowohl für die Peripherie wie für das Zentrum, die auf das Endstadium des Kapitalismus schließen lässt. In Lenins Analyse der Entwicklung des Kapitalismus in Rußland (LW 3) wird der Zusammenhang der Herausbildung kapitalistischer Verhältnisse sowohl in den Anfängen auf dem Lande als auch in den „Gipfeln“ der industriellen Ballungsräume hervorgehoben, um den Kapitalismus als Entwicklungsdominante auch der rückständigen russischen Gesellschaft nachzuweisen (so auch LW 1: 510ff., LW 6: 41). Unter diesen Bedingungen sieht er die Erfolgschance für den revolutionären Durchbruch im Bündnis des Industrieproletariats zunächst mit der gesamten Bauernbewegung gegen den Zarismus und später mit der Dorfarmut gegen alle mit der kapitalistischen Ausbeutung verbundenen Klassen (Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, LW 9: 90). Einen so realisierten direkten Übergang von der Vollendung der antifeudalen zur sozialistischen Revolution betrachtete er wie Marx 1848 für Deutschland als möglichen Beginn des weltweit zum Sozialismus führenden Umwälzungsprozesses, nun aber durch den Impuls von einem Lande außerhalb der am meisten entwickelten Länder. Auf die rückständigen Ausgangsbedingungen in Russland bezogen, hatte Lenin nach dem Sieg der Revolution und dem Scheitern des im Bürgerkrieg durchgesetzten „Kriegskommunismus“ das Programm der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) für die Transformation im Rahmen einer multistrukturellen Gesellschaft mit gemischten Wirtschaftsformen unter dem Kommando der Sowjetmacht konzipiert.

Ähnlich dem Manifest verglich auch Lenin den aktuellen mit dem bürgerlichen Revolutionsprozess: Im Zustand seiner allgemeinen Krise verhalte sich – so Lenin 1921 in seiner Rede Zum 4. Jahrestag der Oktoberrevolution – der Imperialismus bzw. Monopolkapitalismus zur proletarischen Revolution und zum Sozialismus ähnlich wie der Feudalismus zur bürgerlichen Umwälzung, und zwar in der Weise, dass ausgehend von 1917 die Bourgeoisie in die gleiche Lage versetzt werde wie nach 1789 die Feudalklasse durch die Bourgeoisie (LW 33: 32).

Diese Sichtweise bestimmte weitgehend die Vorstellung vom Kapitalismus innerhalb des Marxismus-Leninismus. Sie wurde zunächst durch J. W. Stalin vollends auf die Führungsrolle der Sowjetunion, d.h. des „Sozialismus in einem Lande“ als Zentrum des Übergangs ausgerichtet (1926) und nach dem XX. Parteitag der KPdSU wieder wie bei Lenin auf eine nun als langfristig betrachtete Epoche der Koexistenz bezogen. Im weiteren Verlauf wurde die zunächst infolge veränderter Kräfteverhältnisse in den 1960er Jahren noch optimistische Übergangsperspektive angesichts des danach wieder wachsenden ökonomischen Rückstands zu den entwickelten kapitalistischen Ländern zeitlich und räumlich immer weiter in die Zukunft verschoben. Das bedeutete für die Formationsfrage zugleich die indirekte Akzeptanz einer immer weiter ausgedehnten Entwicklung des Kapitalismus und damit zugleich die Relativierung der Leninschen Prognose, mit dem Imperialismus sei dessen Endstadium erreicht. Die Entwicklung des „real existierenden“ Sozialismus wurde zunehmend defensiv als Vorgang nach- und aufholender Bewältigung der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ und ihrer Verbindungen mit den „Vorzügen des Sozialismus“ gedeutet. Wenn auch immer wieder mit dem Blick auf die kapitalistischen Zentren und deren revolutionäre Perspektiven, hatte sich seit 1917 somit das revolutionäre Übergangsmoment in die Peripherie verlagert und war, trotz Einbeziehung mitteleuropäischer Staaten und der DDR nach 1945, auf diese beschränkt geblieben, mit einer weltweiten Erweiterung des Einflusses in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, aber zugleich zum Preis der strukturellen Rückständigkeit und ideologischer Engführung, die auch nach der Stalin-Ära nie ganz überwunden wurde.

In den westlichen Grundlagendebatten über Merkmale und Trends moderner Gesellschaftsentwicklungen wurde „Kapitalismus“ während des Kalten Krieges im Gegensatz zu früheren Konzeptionen, die zumeist bei Teilrezeption der Marxschen Analyse den Kapitalismus als herrschendes System zu erklären und eigene systemkonforme Reformvorstellungen zu begründen suchten (u.a. Max Weber, Werner Sombart oder Joseph Schumpeter), als gesellschaftstheoretischer Systembegriff weitgehend marginalisiert oder ganz ausgeklammert. Zunächst geschah dies im Rahmen von komplexen Alternativkonzepten wie der Industriegesellschafts-, Konvergenz- und Entwicklungstheorie. Im „goldenen Zeitalter“ des regulierten Kapitalismus konnte die Qualifizierung der westlichen Gesellschaften als „kapitalistisch“ zugunsten sekundärer Merkmale vermieden werden, um den „Fluch vom Begriff zu nehmen“, wie der amerikanische Soziologe Richard Sennett (2000: 9) schreibt.

Statt als umfassendes Gesellschaftssystem erschien der Kapitalismus als eines von vielen, aber keinesfalls als das bestimmende und alles beherrschende Merkmal der modernen Gesellschaft (Pongs 2000). Erst recht zerfaserte der Systemdiskurs nach der Epochenwende von 1989-91 – zum einen im Zeichen des über den „realen“ Sozialismus triumphierenden westlichen Modells, in dessen globaler Ausbreitung das Ende, d.h. die liberale Vollendung der Geschichte Realität zu werden schien, und zum anderen unter dem Einfluss der postmodernen Negation aller großen Theorien und Erzählungen.

4. Ein neues Entwicklungsstadium des Kapitalismus

Mit dem alle Bereiche des Lebens und alle Erdteile erfassenden „Erdrutsch“ (Hobsbawm 1994: 503ff.) seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat sich der Bezugsrahmen, in dem das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem bisher im Pro und Kontra betrachtet wurde, gegenüber der zweiten Hälfte des 19. und den Umwälzungsprozessen des „kurzen 20. Jahrhunderts“ nochmals grundlegend verändert. Die aktuelle Umwälzung ist wieder vom Kapitalismus ausgegangen und wurde zur Grundlage sowie Triebkraft eines neuen Entwicklungsstadiums dieser Produktionsweise. Und in den neuesten Entwicklungen des globalen Kapitalismus scheint dieser seine 1848 von Marx und Engels in einem damals genialen Vorgriff treffend festgestellte Fähigkeit zur permanenten Umwälzung der Produktivkräfte – und damit auch aller Lebensbereiche – erst voll zu entfalten: Die Bourgeoisie kann nicht existieren, „ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“, während die „unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise“ die Existenzbedingung der früheren herrschenden Klassen war. „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können.“ (MEW 4: 465)

Dabei aber brachte die Entwicklung des Kapitalismus neben Krisenzyklen und revolutionären Erschütterungen auch die Fähigkeit zur systemstabilisierenden Erneuerung und Veränderung in und, wie vor allem Schumpeter gezeigt hat, gerade durch Krisen und Revolutionen hervor. Vor allem hat sie in mehrfacher Hinsicht das an anderer Stelle bereits angedeutete asymmetrisches Verhältnis in der damaligen Auffassung von Kapitalismus, Revolution und Formation aufgezeigt: 1. – wie gezeigt – in der unterstellten Analogie zwischen bürgerlicher Revolution, die eine stagnierende Ordnung überwindet, und der sozialistischen Umwälzung, die eine dynamisch fortschreitende Entwicklungsform von ihrer Ausbeutungs- und Herrschaftsform befreit, was auch mit der revolutionären Alternative von 1917 und danach nicht gelang; 2. zwischen finaler sozialer Polarisierung und gegenläufiger Differenzierung des Gegensatzes von Kapital und Arbeit; 3. zwischen Ökonomie und soziokulturellen Strukturen mit deren rückwirkenden Einflüssen durch Steuerung und Anpassung des sich ständig verändernden Kapitalismus. Auf der einen Seite bewies das Kapital in den späteren Stadien der Produktionsweise gerade im Vorgang der weiteren Konzentration beträchtliche Steuerungsfähigkeiten. Und auf der anderen erreichte die Arbeiterbewegung trotz aller Erfolge nicht das Ziel der dauerhaften Überwindung des Kapitalismus, letztlich auch infolge ihrer strukturellen und regionalen Differenzierung. So vollzogen und vollziehen sich die permanenten Umwälzungen weiter im Rahmen des Kapitalismus.

Griff somit die Entwicklungsskizze von Marx im Manifest in den damaligen Verhältnissen weit voraus, so werden nun mit ihrer Aktualität zugleich auch die Grenzen der damals möglichen Erkenntnisse deutlich. Trotz der katastrophalen Krisen und tief greifenden revolutionären Erschütterungen, die zur Entstehung eines nicht vom Kapital beherrschten alternativen Gesellschaftssystems führten, und ungeachtet weitreichender Erfolge der Arbeiterbewegung bei inneren Wandlungen und sozialen Reformen in den entwickelten kapitalistischen Ländern ist die Marxsche Prognose der Überwindung des Kapitalismus durch die Arbeiterbewegung in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nicht verwirklicht worden. Sie erscheint aber auch perspektivisch infolge der tiefgreifenden ökonomischen und sozialstrukturellen Veränderungen sowohl in den Zentren als auch in den Peripherien nunmehr als überholt. Dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit unverändert fortbesteht, ändert m.E. an dieser Einsicht nichts Wesentliches. Von den 1917 begonnenen Umwälzungen ist trotz zeitweilig großer weltweiter Wirkung eine qualitativ neuartige Entwicklung, die den Kapitalismus in jene Lage unaufhaltsamen Verfalls und transformatorischer Prozesse hätte versetzen können, in die dieser die Feudalgesellschaften und alle vorgefundenen Strukturen früherer Formationen brachte, nicht ausgegangen. Das gilt zum einen für die ursprüngliche marxsche Prognose, dass die vom Kapitalismus geschaffenen Produktivkräfte von den Fesseln der Kapitalistenherrschaft befreit werden. Stattdessen waren es periphere Revolutionen mit der Tendenz nachholender Entwicklung (Kossok 2000, 289 ff.), und die darin implizierten antikapitalistischen Vorstöße in der Eigentums- und Machtfrage sowie in den Sozialverhältnissen erwiesen sich nach 1989 als reversibel und obendrein in einen sehr kruden Kapitalismus reintegrierbar. Die Exempel der NÖP in Russland und der aktuellen Entwicklung Chinas sowie auch die mit einem Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Verbindung gebrachten Ansätze transformatorischer Entwicklung in Lateinamerika – mit begünstigenden wie erschwerenden Bedingungen (Crome 2006, 7) – bekräftigen zwar die Offenheit der seit dem 20. Jahrhundert sich vollziehenden Formationsprozesse für alternative Entwicklungen, aber eine allgemeine dauerhafte Überwindung des Rahmens der kapitalistischen Produktionsweise wurde und wird bislang nicht angezeigt.

Auf der anderen Seite haben auch weitreichende reformsozialistische Wandlungen in entwickelten westlichen Ländern den Formationsprozess in seiner kapitalistischen Grundlage nicht angetastet. Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts gab es auch in Schweden, Deutschland und Frankreich erhebliche neoliberale Rückschläge. Schließlich ist auch die Ungleichmäßigkeit trotz und gerade unter den Bedingungen der Globalisierung sowohl in der Bandbreite der Entwicklungspfade als auch in der Aufsplitterung der sozialen Strukturen nochmals gewachsen. Die langen Konjunkturwellen ebenso wie die kurzen Krisenzyklen führten bisher ebenfalls nicht zu Tendenzen der Auflösung, sondern nur zu stadialen Veränderungen der Produktionsweise. Die bisherigen Revolutionen und Entwicklungen zum und im „realen“ Sozialismus stehen insofern ebenso wie die durch Veränderungen der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur sowie durch die Erfolge der Arbeiterbewegung erreichten Formen eines regulierten Kapitalismus nicht außerhalb, sondern – als Alternativen – innerhalb dieser Entwicklungsreihe.

Im aktuellen hochtechnologischen Stadium werden abermals Potentiale menschlicher Schöpferkraft in Wissenschaft und Technik, in Produktion und Kommunikation geschaffen. Sie übertreffen bei weitem alle bisherigen Vorstellungen nicht nur quantitativ, sondern auch in der Qualität der Möglichkeiten, die natürlichen und soziokulturellen Existenzbedingungen zu verändern. Aber im gegebenen Rahmen des ebenfalls auf neue Weise global entfesselten Kapitalismus werden mit den produktiven wiederum auch seine damit untrennbar verbundenen, verheerend destruktiven Potenzen und realen Wirkungen unermesslich gesteigert. Das geschieht einerseits weiterhin im Rahmen der von Schumpeter erkannten Systemlogik von Krise und Innovation als Moment ständiger Stabilisierung und Erneuerung der Kapitaldominanz. Andererseits verstärkt sich dabei auch jedes Mal das katastrophale Ausmaß der dafür in Kauf genommenen Verluste. In der Verflechtung ökonomischer, sozialer, politischer, demographischer und ökologischer Krisensymptome zeichnen sich damit strukturell und räumlich existenzielle Bruchzonen für den Bestand der Zivilisation überhaupt ab, wenn sich die herrschenden Entwicklungstendenzen ungehindert fortsetzen. Derartige Grenzen, an die der Kapitalismus im Verhältnis der Gesellschaft zur Natur, in der Organisation der Produktion, in der Entwicklung von Wissenschaft durch destruktive Beschränkung des Fortschritts immer wieder gerät, hat er auch immer wieder von Neuem überwunden. „Daraus aber, daß das Kapital jede solche Grenze als Schranke setzt und daher ideell darüber weg ist,“ schreibt Marx dazu in den Grundrissen, „folgt keineswegs, daß es sie real überwunden hat, und da jede solche Schranke seiner Bestimmung widerspricht, bewegt sich seine Produktion in Widersprüchen, die beständig überwunden, aber ebenso beständig gesetzt werden. … Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintreibt, findet Schranken in seiner eignen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben.“ (MEW 42: 323f.)

5. Kapitalismus als Großformation – Fortschrittsfrage heute

Aber mit der langfristigen Fortsetzung und seit Ende des 20. Jahrhunderts nochmaligen Verstärkung dieses Prozesses ständiger Be- und Entgrenzung ist der Transformationsdruck auf den global dominierenden Kapitalismus keineswegs kleiner geworden. Denn die menschliche Gesellschaft befindet sich nunmehr in einer – auch gegenüber den von Marx und Engels im Manifest beschriebenen Prozessen ständiger Umwälzungen – neuartigen, die Entwicklung derart beschleunigenden und vertiefenden Produktivkraftrevolution und kulturellen Umwälzung, dass sie, wie in den Debatten über die Folgen der digitalen Revolution reflektiert wird, in der Tendenz wiederum über die Grenzen des kapitalistischen Charakters hinauszuweisen scheint

Das Kernproblem besteht folglich darin zu prüfen, ob und wie in der Marxschen Tradition emanzipatorischer gesellschaftlicher Fortschritt ohne das Junktim mit der sozialen Revolution des modernen Industrieproletariats zu denken ist. Hier nun bietet die von Marx im Spätwerk konzipierte Erweiterung des formationsgeschichtlichen Bezugsrahmens die Möglichkeit eines tragfähigen Lösungsansatzes. Einerseits muss er dafür von der utopielastigen Triade Urkommunismus – Klassengesellschaft – Kommunismus gelöst werden, Andererseits aber bleibt auch dann der leitende Bezug auf das transkapitalistische Moment des Übergangs erhalten, wenn der Kapitalismus selbst als Entwicklungsreihe gesehen und diese insgesamt sowohl als Vielfalt auf dieser Produktionsweise beruhender Entwicklungsformen als auch – und darauf kommt es mir besonders an – als Vorbereitung des Übergangs zu einer immer dringlicher werdenden grundsätzlichen Richtungsänderung der gesellschaftlichen Entwicklung gesehen wird. Der Marxsche Entwurf ist dafür methodisch unabhängig vom Inhalt der Vorstellungen über die Urgesellschaften und auch vom Streit über den Charakter der russischen Dorfgemeinde interessant, wenn die Unterscheidung von Großformationen auf der Basis von Grundtypen der Erzeugung der Existenzbedingungen der Menschen, des Eigentums an Produktionsmitteln und der gesellschaftlichen Organisation auf die Gesamtentwicklung der Gesellschaften angewandt wird, die – so Marx eingangs seines Hauptwerks – „auf gesellschaftlicher Produktionsweise beruhen“ (MEW 23: 49). In dieser Sichtweise kann die auf Warenproduktion, Marktwirtschaft und Investition von Kapital gegründete moderne Produktionsweise angesichts der Dimension ihrer realgeschichtlichen Entwicklung nicht nur seit Ausgang des 20. Jahrhunderts, sondern auch in der gesamten nun schon fünfhundertjährigen Formierung im Unterschied von der Marxschen Projektion nicht als bloßes Übergangsmoment, sondern vielmehr als Grundtyp einer eigenständigen Entwicklungsreihe und damit selbst als Großformation aufgefasst werden.

Die Stadien, Wege und Typen des Kapitalismus können in diesem Rahmen ähnlich den asiatischen, antiken und feudalen Gesellschaften innerhalb der auf Grundeigentum beruhenden Entwicklungsreihe als aufeinander folgende oder in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen untereinander und mit vorgefundenen fremden Formen koexistierende Formationen begriffen werden. Die Übergänge zwischen ihnen werden ebenfalls in ähnlicher Weise trotz des gleichbleibenden Grundcharakters der Produktionsform jeweils durch Einschnitte in den Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen gekennzeichnet, die sich aber angesichts der neuartigen Dynamik der modernen Formationen und des erreichten Zivilisationsgrades in anderen Formen und Ausmaßen vollziehen. Dabei sind Revolutionen „von unten“ und Systemveränderungen „von oben“ nur die unterschiedlichen Seiten einer sich immer mehr beschleunigenden Entwicklung mit ebenso gewaltigen Fortschritten wie auch katastrophalen Rückschlägen. Der Gesamtzyklus neuzeitlicher Revolutionen (Kossok 1982, Kossok/Küttler 1988) kann so, ausgedehnt auch auf die Revolutionen des 20. Jahrhunderts, als Folge den inneren Formenwechsel dieser Entwicklungsreihe begleitender und mit verursachender Umbrüche betrachtet werden. Sie erscheine dann auch als Bruchzonen der Globalisierung, wenn man diese insgesamt mit der Entstehungsgeschichte des kapitalistischen Weltmarktes in Beziehung setzt. (Middell 2008: 200 ff.)

In diesem lange währenden Formationsprozess hat sich die kapitalistische Produktions- und Existenzweise der Zivilisation längst von der Systemverbindung mit der bürgerlichen Gesellschaft gelöst, in der sie sich in Europa im 18. und 19. Jahrhundert entwickelt und die auch dort im frühen Stadium des Handels- und Manufakturkapitalismus im noch überwiegend spätfeudal-absolutistisch verfassten, frühneuzeitlichen Staatensystem allenfalls in den Niederlanden und in England nach der Revolution ihren Rahmen gebildet hatte. Mit der weltweiten Expansion des Kapitalismus im 19., seiner Konfrontation mit einem alternativen Gesellschaftssystem im 20. und der globalen Herrschaft seit der Epochenwende von 1989-91 ist an die Stelle dieser ursprünglichen Systemverbindung von kapitalistischer Produktionsweise und bürgerlicher Gesellschaftsordnung eine Vielfalt unterschiedlicher Formationsbeziehungen im Rahmen der kapitalistischen Großformation getreten. Sie reichte schon im 19. Jh. von den britischen Unternehmern bis zu den kapitalistisch wirtschaftenden Gutsherren ostwärts der Elbe und den für den Markt produzierenden Plantagenbesitzern in den USA und sie umfasst heute, um nur extreme Gegenpole zu nennen, das „Imperium“ des westlichen Finanzmarktkapitalismus ebenso wie einen dynamischen Kapitalismus unter kommunistischer Herrschaft in China (Haug 2012).

Aber auch und gerade in der veränderten Sichtweise einer Entwicklungsreihe bzw. Großformation, die einen schrittweise über viele Zwischenstufen erfolgenden Entwicklungsprozess retrospektiv und als Handlungsorientierung für die Lösung unaufschiebbarer Existenzfragen umfasst, hat sich die emanzipatorische Perspektive grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen nicht erledigt. Vielmehr ist sie angesichts der Tiefe und des Ausmaßes der progressiven und destruktiven Tendenzen des aktuellen globalen Umwälzungsprozesses gegenwärtig umso dringlicher geworden. Sie ist auch nach wie vor gleichbedeutend mit der Frage, wie und von welchen sozialen Kräften und mit welchen gesellschaftsperspektivischen Ideen die Existenz der menschlichen Zivilisation in ihrer Gesamtheit, d.h. nicht nur in den Zentren, nachhaltig gesichert und weiter entwickelt werden kann. Nicht mehr und nicht weniger besagt zunächst, für sich gelesen, die viel zitierte Textstelle von Marx’ Vorwort zu seiner Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ Daher stellt sich die Menschheit immer nur „Aufgaben, die sie lösen kann“, wobei wiederum „die Aufgabe selbst nur entspringt, wenn die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind“ (MEW 13: 9). Im Kontext gesehen, sind hier aber zwei unterschiedliche Fortschrittsperspektiven enthalten, zum einen die Bewahrung, Sicherung und weitere Entfaltung der gesellschaftlichen Existenzbedingungen im Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur auf den je erreichten Grundlagen und zum anderen die Verbindung dieser allgemeinen mit der besonderen Aufgabe der Überwindung des Kapitalismus durch die soziale Revolution des modernen Proletariats. Marx macht hier keinen wesentlichen Unterschied, weil er beides, die Formulierung der Aufgabe und die Reife der Verhältnisse für die darin implizierte Lösung, als grundsätzlich gegeben ansah – eine Grundposition, die im Marxismus-Leninismus bis zur Epochewende 1989ff. verbindlich blieb.

Projizieren wir diesen Fortschrittsbegriff ohne die damalige Gewissheit einer kurz- oder mittelfristig bevorstehenden Überwindung des Kapitalismus auf eine weiter fortschreitende langfristige Formierung und zugleich Transformation, so sind diese Aufgaben und ihre objektiven Bedingungen nicht weniger anspruchsvoll im Sinne von nötigen Umgestaltungen und keineswegs ohne tiefgreifende gesellschaftliche Konflikte zu lösen. Denn so sehr die Transformationsfrage vor allem in den entwickelten kapitalistischen Ländern in konkreten Projekten auf spezielle Probleme heruntergerechnet und pragmatisch auf realisierbare Veränderungen konzentriert werden muss, ist sie in linksorientierter Politik und Gesellschaftsanalyse auch und gerade im globalen Kapitalismus der Gegenwart doch immer mit gesamtgesellschaftlichen Systemfragen verknüpft. Diese aber lassen sich ebenso wenig in der ausschließlichen Beschränkung auf allmähliche schrittweise Schritte des Übergangs wie im Sinne letzter Gefechte und vollständiger Lösungen der Widersprüche erkennen, in denen sich die kapitaldominierte Produktionsweise entwickelt. Außerdem muss eine realistische Reflexion der Chancen progressiven gesellschaftlichen Wandels auch die Möglichkeit erneuter katastrophaler Fehlentwicklungen und Rückschläge einbeziehen, wie sie mehr denn je in der gewaltigen Steigerung der destruktiven Mittel angelegt sind, die zur Herrschaftssicherung und -ausweitung eingesetzt werden können. Das Übergangsmoment, das in der Losung: „Eine andere Welt ist möglich“ eindringlich zum Ausdruck kommt, umgreift aber – schon im gesamten 20. Jahrhundert und noch viel mehr im globalen finanzmarktgesteuerten Kapitalismus am Anfang des 21. Jahrhunderts – eine Vielfalt teils gegenläufiger, teils sich verstärkender Prozesse und Bewegungen. Nachholende Vorgänge kapitalistischer Umwälzung mischen sich mit reaktionären Tendenzen des fundamentalistischen Kampfes gegen alle Resultate der modernen Zivilisation, die mit imperialistischer Unterdrückung per se identifiziert werden. Alte und neue Klassenkonstellationen, vor allem aber der nach wie vor in allen kapitalistisch strukturierten Gesellschaften dominante; aber in Form und Inhalt stark modifizierte und differenzierte Gegensatz von Kapital und Arbeit, bringen sehr unterschiedliche Formen sozialer Auseinandersetzung mit ebenso vielschichtigen Möglichkeiten von Bündnissen hervor. Was als „Große Krise“ wie und in noch anderer Qualität als 1929ff. erscheint, kann weder in den globalen Dimensionen und ganz unterschiedlichen regionalen Wirkungen eindeutig bestimmt noch in der Frage, ob hier wieder eine längere Stabilisierungs- und Aufschwungsphase folgt oder andere, neuartige Prozesse des Systemwandels zu Tage treten, eindeutig entschieden werden. Allenfalls sind Tendenzen der einen oder anderen Richtung auszumachen (Busch 2012). Theoretische Arbeit und interdisziplinäre wissenschaftliche Analysen können dazu Rahmenbedingungen und mögliche Tendenzen aufzeigen und die Wirkungen und Gegenwirkungen dieser oder jener praktischen Entscheidung für konkrete Transformationen analysieren, aber nicht, wie im „Zeitalter der Extreme“ mit allseits verheerenden Folgen versucht, Weltanschauungen als objektiv gültige praktische Direktiven der Gestaltung der menschlichen Gesellschaft begründen.

„Großformation“ soll in diesem Sinne wohlverstanden nicht etwa der Begriff einer neuen historisch unbegrenzbaren Projektion kapitalistischer Herrschaft sein, sondern neben der räumlichen und zeitlichen Dimension kapitalistischer Entwicklung auch eine langfristige Tendenz zu einer „anderen Gesellschaft“. umreißen. Deren Konturen lassen sich zwar aus Defiziten und Destruktionskräften im gegenwärtigen Kapitalismus ableiten – im Hinblick auf die Veränderungen der Arbeitswelt, der Reproduktion, der Geschlechterverhältnisse, der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, der Eigentumsverhältnisse, der neuen Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik, der Abhebung der Finanzmärkte von der Produktionssphäre mit fatalen Rückwirkungen, der drohenden Umweltkatastrophe infolge des Klimawandels, um nur einige wichtige Elemente notwendiger Veränderung der Existenzbedingungen zu nennen. In diesem Sinne könnten die gegenwärtigen Umwälzungsprozesse seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch als zweite „große Transformation“ verstanden werden, um den Begriff Polanyis (1978) zu verwenden, mutatis mutandis im Sinne des Vergleichs mit der industriellen, aber auch mit der am Anfang der Zivilisation stehenden neolithischen Revolution auf einen anstehenden grundlegenden Qualitätswechsel des Geschichtsprozesses bezogen. Aber die Fristen und konkreten Wege dieses Wandels sind nicht in ein konkretes Modell zu fassen, wie es mit den früheren Sozialismus- und Kommunismusvorstellungen versucht wurde.

Literatur

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[1] Dieser Beitrag ist die veränderte und erweiterte Fassung meines Aufsatzes „Perspektiven und Grenzen des Kapitalismus als Gesellschaftsformation. Historisch-kritische Bemerkungen zur Kapitalismuskritik von Marx“, in: Kapitalismus und Krisen heute. Herausforderung für Transformation, Hrsg. v. G. Krause, Berlin 2011, der auch als Diskussionsvorlage zum V. Winterkolloquium der Heinz-Jung-Stiftung (März 2012) „Revolte, Aufstand, Revolution“ (vgl. Z 90, Juni 2012, S. 183 ff.) diente. Darin werden Ergebnisse von W. Küttler, Stichwort Kapitalismus, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Hrsg. v. W. F. Haug, F. Haug u. P. Jehle, Bd. 7/1, Hamburg 2008, Sp. 238-271 (dort auch ausführliche Literaturhinweise) zusammengefasst und inhaltlich weiter reflektiert.