Berichte

Handeln in der Krise

21. Walter-Kuhn-Forum (Weinstadt-Beutelsbach, 3.-4. 4. 2009)

Juni 2009

Unter dem Motto „Handeln in der Krise“ kamen knapp 50 GewerkschaftsfunktionärInnen und WissenschaftlerInnen zum diesjährigen Walter-Kuhn-Forum (WKF) in der Region Stuttgart zusammen, um Auswirkungen der Krise auf die Realwirtschaft und Gegenstrategien zu diskutieren.

Das WKF wird jährlich vom Verein für internationale Arbeits- und Kulturbeziehungen (VIAK) veranstaltet. 1989 trafen sich erstmals Bevollmächtigte der IG Metall in der Nähe von Göppingen (Württemberg), um über Durchsetzungsstrategien unter den Bedingungen des § 116 Arbeitsförderungsgesetz (AFG, heute § 146 SGB III) zu diskutieren. Der § 116 AFG war nach dem Streik um die 35-Stunden-Woche 1986 von der Kohl-Regierung so abgefasst worden, dass die bis dahin angewandten Arbeitskampfstrategien der IG Metall finanziell unkalkulierbar wurden. Das „Göppinger Forum“ verständigte sich daher über neue Formen des Arbeitskampfes, wie bspw. ganztägige Warnstreiks in allen Arbeitsschichten, um so - den AFG 116 umgehend - Durchsetzungsdruck zu erzeugen und eine größere Einbeziehung der Beschäftigten zu erreichen. Nach dem Tod von Walter Kuhn (Mitinitiator und 1. Bevollmächtigten der IG Metall Göppingen) wurde das Forum von Dieter Knauß in seinem Namen fortgeführt. Thematisch hat sich das WKF seither von einem tarif- zu einem gesellschaftspolitischen Forum entwickelt, dem es um die Umsetzung gesellschafts- oder gewerkschaftspolitischer Positionen in konkrete Handlungsansätze geht. Ziel des diesjährigen Forums war es, die verschiedensten Erfahrungen und Handlungsebenen zusammen zu bringen und eine gemeinsame Einschätzung der Lage sowie der darin angelegten Handlungsoptionen und -notwendigkeiten zu bekommen.

In mehreren Blöcken wurden gesellschaftliche und ökonomische Dimensionen der aktuellen Wirtschaftskrise mit ihren weit reichenden betrieblichen Auswirkungen analysiert und Handlungsmöglichkeiten für die betrieblichen sowie die industrie- und gewerkschaftspolitischen Ebenen entwickelt. Der erste Block umfasste „die gesellschaftliche Dimension der aktuellen Krise“ (Frank Deppe), „die ökonomische Dimension der aktuellen Krise“ (Dierk Hirschel - Chefökonom beim DGB) und „die betrieblichen Auswirkungen der aktuellen Krise“ (Heinz Bierbaum - INFO Institut). Im zweiten Block ging es um „Handlungsbedingungen und -möglichkeiten vor Ort“ (Mirko Geiger - Erster Bevollmächtigter der IG Metall Heidelberg). Die Betriebsratsvorsitzenden von Daimler Untertürkheim und Opel Bochum konnten den Termin wegen kurzfristiger betrieblicher Verhandlungen nicht wahrnehmen. Der dritte Block befasste sich mit dem Themenbereich „Vom Krisenmanagement zur Industriepolitik. Gibt die Krise Ansätze für Wirtschaftsdemokratie“ (Ulrich Eckelmann - Bereichsleiter für Wirtschaft, Technologie und Umwelt beim Vorstand der IG Metall) und diskutierte „aktuelle Handlungsnotwendigkeiten - wie erhält man Cluster und Wertschöpfungsketten?“ (Frank Iwer - Tarifsekretär der IG Metall Baden-Württemberg). Der vierte und letzte Block „Gewerkschaftspolitik in der Krise - Chancen, Handlungsoptionen und Konsequenzen“ wurde von Hans-Jürgen Urban (geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall) eingeleitet.

In der Analyse der gegenwärtigen Krise ließ Frank Deppe in seinem Referat keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um eine „große Krise“ des Kapitalismus mit weit reichenden ökonomischen, sozialen und politisch-ideologischen Konsequenzen handelt. Während die kleinen Krisen eine „Reinigungsfunktion“ haben, in der die „Überhitzung“ korrigiert wird, stellen große Krisen eine Zäsur von weltwirtschaftlicher Bedeutung dar. Die Chance liegt nun darin, dass in der Krise das Verhältnis von Staat und Wirtschaft - nach einer Phase der „Entstaatlichung“ - neu justiert werden kann. Dierk Hirschel sah die Besonderheit der aktuellen Krise im Zusammenwirken von Wirtschaftsabschwung, Finanzkrise und Strukturkrise der Automobilindustrie. Damit ist nicht mehr nur von einer zyklischen, sondern von einer systemischen Krise auszugehen, die politisch bekämpft werden muss. Die im letzten Jahrzehnt beschleunigte weltweite Umverteilung zu den Vermögensbesitzern hat einerseits die Bedeutung der Realwirtschaft verringert, andererseits einen enormen Bedarf an renditeträchtigen Anlageformen geschaffen. Dies ist ein wesentlicher Kern der Krisenursache. Zentrale Instrumente eines Krisenmanagements sind deshalb eine aktive Geld-, Finanz- und Umverteilungspolitik, ein Rettungsschirm für Banken und Betriebe und eine aktive Arbeitsmarktpolitik.

Wie sich die konjunkturell und strukturell bedingten Probleme in den Betrieben darstellen, zeigte Heinz Bierbaum am Beispiel eines Automobilzulieferers. Die strategische Krise entwickelt sich danach zur Rentabilitätskrise, dann zur Ergebniskrise und schließlich zur Liquiditätskrise - und der Betrieb zum akuten Restrukturierungsfall. Als Gegenkonzept setzt Bierbaum auf eine nachhaltige Unternehmenspolitik. Darin versteht sich das Unternehmen als Teil der Wertschöpfungskette, stellt sich der sozialen und ökologischen Verantwortung und erweitert sowohl die betriebliche als auch die Unternehmensmitbestimmung. Die betrieblichen Lösungen müssen jedoch in eine aktive Industrie- und Strukturpolitik eingebettet werden. Daran anknüpfend ist nach Ansicht von Mirko Geiger die Politik auch gefragt, wenn es um den Erhalt von Arbeitsplätzen geht. Er plädierte für eine Öffnung der Regelung von Beschäftigungsgesellschaften (BQG), damit Beschäftigte in einer BQG „geparkt“ werden und danach wieder in den eigenen Betrieb zurückkehren können. Bisher wird die BQG lediglich zur Abwicklung von Arbeitsplätzen eingerichtet. Beschäftigungssicherung, Kurzarbeit und BQG können die Krise jedoch nur überbrücken, so sein Fazit. An konkreten betrieblichen Beispielen verdeutlichte er die Dramatik der betrieblichen Auswirkungen und die Dynamik der Entwicklung. Auch bislang starke Unternehmen geraten in Existenz bedrohende Lagen.

Eine Verknüpfung von aktiver Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik forderte auch Ulrich Eckelmann. So braucht es neben einem Krisenmanagement - wie es das Konjunkturpaket I und II darstellen - eine „neue“ Industriepolitik. Eine solche kooperative Industriepolitik muss ein sozial, demokratisch und ökologisch ausgerichteter Zukunftsvertrag sein, der makroökonomisch - durch eine expansive Finanz-, Geld- und Lohnpolitik - und gesellschaftspolitisch - bspw. durch Bildung, Öffentliche Dienstleistungen, Klimaschutz etc. - flankiert wird. Für einen unmittelbar wirkenden Schutzschirm für Beschäftigte sprach sich Frank Iwer aus. Aufgabe der IG Metall ist es dabei, Kündigungen zu verhindern, Industriestrukturen zu erhalten, Perspektiven zu sichern und Krisenlasten zu teilen. Für die Handlungsfelder Betrieb, Wertschöpfungskette und Industriepolitik bedeutet dies mit Hilfe von Kurzarbeit, Qualifizierung, Überbrückungskonzepten und Wiedereinführung von Vorruhestandsmodellen Zeit zu gewinnen. Durch mehr Mitbestimmung und politischen Einfluss auf strategische Investitionsentscheidungen - bis hin zu klaren technischen Vorgaben (etwa nach dem kalifornischen Muster) und Infrastrukturmaßnahmen muss ein marktorientierter Strukturwandel verhindert werden. Die vorangegangen Beiträge zuspitzend zeigte Hans-Jürgen Urban, dass eine systematische Umformung vom Wohlfahrtsstaats- zum Finanzmarkt-Kapitalismus (Stichwort: Steuerreform 2000, Privatisierung der Alterssicherung 2002) erst dazu geführt hat, dass sich die Politik im Schlepptau der Finanzmärkte befindet. Durch diese „demokratieschädliche Anmaßung“ könnte Demokratie nun aber auch zur strategischen Schlüsselkategorie (gemacht!) werden. Eine „neue Wirtschaftsdemokratie“, die auf (Re-)Regulierung, (Um-)Verteilung und (Wirtschafts-)Demokratisierung gründet, könnte entstehen, deren zentrale Elemente der ökologische und gebrauchtswertorientierte Umbau der kapitalistischen Wirtschaftsweise und ein neues Verhältnis von Steuerung und Demokratisierung der Wirtschaft sind. Es mangelt jedoch noch an einer gewerkschaftlichen Utopie und an einer Reformulierung des politischen Mandats der Gewerkschaften.

Die Erkenntnisse aus dem Forum lassen sich so zusammenfassen: Die Krise ist in der Region Stuttgart und in Zentren der Metall- und Elektroindustrie Realität und ihre Dimension in exportorientierten Betrieben Existenz bedrohend. Dies gilt sowohl für die Beschäftigten als auch für ganze Unternehmen. Für die Gewerkschaften gilt es jetzt eine Doppelstrategie zu fahren: einerseits auf beschäftigungssichernde Maßnahmen - wie Kurzarbeit oder Verhinderung von Entlassungen - zu setzen und andererseits die notwendigen Strukturveränderungen mit voranzutreiben. Die betroffenen Cluster sterben zu lassen, um - wie Phönix aus der Asche - eine zukunftsfähige, ökologisch ausgerichtete Industrie auferstehen zu lassen, ist eine zu riskante Alternative. Notwendig ist vielmehr eine aktive Industrie- und Strukturpolitik.

Die Krise ist eine „große Krise“ und die darin angelegte „Neujustierung“ bietet Chancen - aber auch enorme Risiken. Eine gesellschaftspolitische Zuspitzung der systemischen Krisenursachen ist daher entscheidend. Dazu sind gewerkschaftlichen Utopien notwendig und eine Profilierung des politischen Mandats der Gewerkschaften. Der Aufruf zu Kundgebungen und Demonstrationen ist ein Schritt, ein weiterer ist die Mobilisierung der Beschäftigten für Beschäftigungssicherung und eine demokratische und ökologische Zukunftsperspektive. Vorschläge und Positionierungen aus dem Bereich der IG Metall liegen vor, müssen jetzt aber auch in konkrete Politik umgesetzt werden.