Kapitalismus im 21. Jahrhundert

Empire oder (Neo-)Imperialismus

Erleben wir ein zweites „amerikanisches" Jahrhundert?

März 2008

Vorbemerkung des Autors

Der folgende Artikel ist bereits im Herbst 2006 geschrieben worden für einen Sammelband von Gerd Hankel zum Thema „Recht und Macht“ in der Hamburger Edition des von J. Ph. Reemtsma unterhaltenen Hamburger Instituts für Sozialforschung. Gerd Hankel hatte den Beitrag akzeptiert, bis ein bis dahin nicht in Erscheinung getretener Publikationsrat ihn im Juli 2007 ablehnte. Ihm gefiel manches nicht an dem Artikel, vor allem aber nicht meine Kritik an Hardt/Negri, der Rückgriff auf Lenins Imperialismustheorie, der Ansatz, die Kriege der USA aus ökonomischen Gründen zu verstehen, „das ohnehin unterkomplexe Theorem vom Ausgleich der ‚Widersprüche im innern‘ durch den Gang in die Kolonien“ des deutschen Kaiserreichs, meine Bemerkungen zum Haager Kriegstribunal, mein positiver Bezug auf Amitav Gosh und einiges mehr. Insgesamt rügten Reemtsma und sein Publikationsbeirat jedoch die mangelnde Konzentration auf die völkerrechtliche Argumentation – dies war allerdings seinerzeit mit dem Herausgeber so ausdrücklich besprochen worden.

Mir wurde die Alternative zwischen einer „weitgehenden Neufassung des Textes“ und einem Ausfallhonorar eröffnet. Aber auch meine stärker völkerrechtlich argumentierende Neufassung wurde vom Publikationsrat abgelehnt, obwohl sie vom Herausgeber Hankel wiederum akzeptiert worden war. Juristisch hätte ich nun die Publikation meines Beitrages einklagen können, da im Autorenvertrag allein Autor und Herausgeber über die Publikation zu entscheiden hatten. Für diesen Fall drohte der Verlag jedoch mit der Kündigung aller anderen Autorenverträge und vollkommenen Aufgabe des Projektes. Das lag nicht in meiner Intention, weswegen ich auf eine Klage verzichtet habe.

Der Mitautor und Kollege Gerhard Stuby warf Herrn Reemtsma in seinem Protest gegen das Vorgehen des Publikationsrats vor, dass dieses wohl nur aus meinen Aktivitäten für die Linkspartei zu erklären sei, da alle anderen Gründe offensichtlich vorgeschoben seien. Dieser Vorwurf blieb unwidersprochen. Das mir überwiesene Ausfallhonorar in Höhe von 520.- Euro habe ich als Beitrag des Instituts für den Hamburger Wahlkampf der Linkspartei auf ihr Konto überwiesen. Der Redaktion von Z danke ich für die Möglichkeit, dennoch diesen Beitrag zu veröffentlichen.

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Im Verlauf des Jahres 2005 mehrten sich die Stimmen aus den USA, die darauf hinwiesen, dass die US-Administration bereits alle strategischen und logistischen Vorbereitungen für eine militärische Intervention im Iran abgeschlossen haben.[1] Ähnlich wie in der Vorbereitung des Irakkrieges würden bereits unbemannte Drohnen und andere technologisch hochspezialisierte Instrumente den Iran überfliegen und ausspionieren. Subversive Aktivitäten bis zu Terroranschlägen von Oppositionsgruppen, die in den USA als Terrororganisationen auf dem Index stehen, würden vom CIA finanziert. Im nördlichen Nachbarland Aserbaidschan – mit dem Iran durch gemeinsame ethnische Bande der Azeri eng verbunden – bereite die US-Army eine massive militärische Operationsbasis für eine spätere Intervention vor. Lediglich die Entscheidung über das „ob“ und den Zeitpunkt der Aktion sei noch nicht gefallen. Einig ist man sich auch über Ziel und Motive dieses Muskelspiels, bei denen die Gefahr einer atomaren Waffenkapazität des Iran durchaus eine Rolle spielt: die Schlacht um die Energiereserven dieser Welt. Schon unter der Clinton-Administration hatte das US Central Command seine „in war theater plans“ zur Invasion des Iraks wie des Irans als „interest-based and threat-focused“ umschrieben: „The purpose of U.S. engagement, as espoused in the National Security Strategy, is to protect the United States’ vital interest in the region – uninterrupted, secure U.S./Allied access to Gulf oil.“[2] Seit Clintons Amtszeit hat sich der weltweite Kampf um die Energiequellen erheblich verschärft und damit die Kriegsgefahr gesteigert, worauf insbesondere Michel T. Klare in seinem Aufsatz „Energizing new wars”[3] hinweist.

Einige Monate zuvor, Ende November 2004, wurden wir von Jim Lobe in der Asia Times auf zwei Aufsätze aufmerksam gemacht, die sich mit der Zukunft Nord-Koreas beschäftigen.[4] Autoren sind William Kristol vom Project for the New American Century (PNAC), jener einflussreichen neo-konservativen Organisation um Vizepräsident Dick Cheney, Ex- Pentagon-Chef Donald Rumsfeld, seinen ehemaligen Stellvertreter Paul Wolfowitz und Cheneys mächtigen Stabschef Lewis Libby, sowie Nicholas Eberstadt, Korea-Spezialist des American Enterprise Institut (AEI), welches den neo-konservativen The Weekly Standard herausgibt – Chefredakteur William Kristol. Ihre Papiere tragen programmatische Titel: „Toward Regime Change in North Korea” und „Tear down this Tyranny“ und verbreiten die These, dass die US-Geheimdienste über Beweise verfügen, dass Nord-Korea schon acht Atomwaffen habe. Ihre Aufforderung ist daher zwangsläufig, die Möglichkeiten eines Regimewechsels auch mit Embargo- und notfalls mit militärischen Mitteln wahrzunehmen und sich aktiv auf eine „post-kommunistische Koreanische Halbinsel“ vorzubereiten. Auch dies kennen wir aus der Vorbereitung des Irak-Krieges, die mit den gleichen Argumenten der Bedrohung von Kristol und dem American Enterprise Institut massiv ideologisch betrieben worden war. Selbst wenn die Drohungen zeitweilig in den Hintergrund zu treten scheinen, wie jetzt bei der geplanten Wiederaufnahme der sog. Sechsergespräche, verschwinden sie nie ganz. Sie tauchen an anderer Stelle wieder auf, wie gegenüber dem Sudan, der in den Planungen der USA nun mit militärischen Mitteln gezwungen werden soll, dem Einsatz eines größeren UNO-Kontingents in Darfur zuzustimmen.[5]

Imperialismus: Koloniale Anfänge

Was ist das, müssen wir uns fragen, was sich da wieder bedrohlich ankündigt und weiter ausbreitet? Gibt es einen Begriff für diese Politik des „brinkmanship“, des Spiels mit dem Feuer? Ist es der des Empire oder der des Imperialismus – und was nützt uns überhaupt ein derartiger Begriff? Wir haben uns eine Vorstellung von den Ambitionen und Bewegungen der großen Mächte zu machen, um ihren Einfluss auf die internationale Politik, die internationale Rechtsordnung, auf die Zukunft der internationalen Beziehungen und unsere eigenen Staaten, die nach Brzezinskis Worten nur „tributpflichtige Vasallen“ sind,[6] einschätzen zu können. Konkret gesagt gilt es zu fragen, welche Rolle der Krieg im Kampf um die neue Weltordnung in den nächsten Jahren spielen wird.

Imperialismus bezeichnet ganz allgemein die Ausdehnung des Herrschaftsanspruchs über die nationalen Grenzen hinaus in die Dimensionen eines prinzipiell grenzenlosen Großraums. Er umgreift viele Staaten und Regionen und wird gleichzeitig beherrscht, gesteuert und organisiert von einem Zentrum, wie wir es vom Römischen Imperium und britischen Commonwealth kennen. Imperialistische Politik bezeichnet die Methoden der Eroberung und Verwaltung des Großraums, um dessen Ressourcen für die eigene Entwicklung und Wohlstand auszubeuten: mittels Raub, Plünderung, Kolonialgesellschaften, tributpflichtiger Staaten und Protektorate. Es geht, mit anderen Worten, um die direkte politische, ökonomische und militärische Kontrolle strategisch wichtiger Räume und Kommunikationswege (z.B. Kanäle, Wasserstraßen). Allgemeines Merkmal imperialistischer Herrschaft ist die Gewalt nach innen und nach außen – sie ist allgegenwärtig.

Soweit die allgemeine Definition. Der moderne Imperialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatte viele Facetten: Expansion und Ausdehnungsdrang sind dem Kapital immer immanent. Verwertungszwang und Konkurrenz drängen nicht nur zur Konzentration und Monopolbildung, sondern auch zur Expansion über die Grenzen des Nationalstaates. Auf der Basis dieser Dynamik wird der Staat aktiv unter Einsatz seiner rechtlichen (Gesetze, Verordnungen), diplomatischen und militärischen Mittel, um die Widersprüche im innern (Arbeiterparteien, Gewerkschaften) repressiv zu steuern und die Widersprüche nach außen (innerimperialistische Konkurrenz, Widerstand der Kolonien) militärisch zu lösen. Bismarcks Bündelung von Sozial-, Sozialisten- und Kolonialpolitik ist dafür ein klassisches Beispiel.

Aber nicht nur Rüstung und Militär, sondern auch imperialistische Ideologie der politischen Machteliten und Intellektuellen von Treitschke bis Jünger ist eine der notwendigen Grundlagen imperialistischer Politik, jener reaktionären Mischung aus Nationalismus, Chauvinismus und Rassismus, die die prekäre Bereitschaft der Bevölkerung zur Gewalt nach innen und außen schürt und immer wieder missbraucht. „Sozialimperialisten“ (Max Weber) plädierten dabei für die Integration der nichtrevolutionären Sozialdemokratie in einen „sozialliberalen“ Herrschaftsblock. Die aggressivere Variante setzte auf Krieg, so wie Kaiser Wilhelm II 1905: „Dass wir wegen unserer Sozialdemokraten keinen Mann aus dem Land nehmen können, ohne äußerste Gefahr für Leben und Besitz der Bürger. Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn möglich per Blutbad und dann Krieg nach außen; aber nicht vorher und nicht à tempo.“[7]

Diese martialische Haltung war in der preußischen politischen Klasse weit verbreitet, wie der Russische Botschafter in Berlin, Nikolai Graf von der Osten-Sacken, nach Moskau berichtete: „Die Kriegspartei, verleitet durch die unbestreitbare militärische Bereitschaft der Armee und der übrigen Schichten der Gesellschaft, gekränkt in den Gefühlen ihrer traditionellen Ergebenheit dem Obersten Führer gegenüber, hält den Krieg für das einzig mögliche Mittel, um das in den Augen der Volksmassen erschütterte Prestige der monarchischen Macht wiederherzustellen.

Die Stimmung der militärischen Kreise nährt sich von der Überzeugung, dass die gegenwärtige zeitliche Überlegenheit der Armee Deutschland die größten Erfolgschancen verspricht. Solche Überzeugung kann diesen Kaiser verlocken und seiner Außenpolitik militanten Charakter geben.

Andererseits könnte ein siegreicher Krieg wenigstens in der ersten Zeit den Druck der radikalen Bestrebungen im Volke für eine Änderung sowohl der preußischen wie der Reichsverfassung in mehr liberalem Sinne zurückschlagen.“[8]

Für alle Imperialismustheorien sind die krisenhafte Dynamik der Kapitalakkumulation und die Tendenz zur Gewalt nach innen und außen zu ihrer Überwindung die zentralen Merkmale, wobei der Druck der sozialen Probleme im eigenen Staat von Anfang an als ein zusätzlicher Treibsatz der Expansion wirkte. Lenin wies in seiner Imperialismusschrift ausdrücklich auf die „grobe und zynische“ Verteidigung des Imperialismus durch den „Millionär, Finanzkönig und Hauptschuldigen am Burenkrieg“ Cecil Rhodes hin: „Ich war gestern im Ostende von London (Arbeiterviertel) und besuchte eine Arbeitslosenversammlung. Und als ich nach den dort gehörten wilden Reden, die nur ein Schrei nach Brot waren, nach Hause ging, da war ich von der Wichtigkeit des Imperialismus mehr denn je überzeugt ... Meine große Idee ist die Lösung des sozialen Problems, d.h. um die vierzig Mio. Einwohner des Vereinigten Königreiches vor einem mörderischen Bürgerkrieg zu schützen, müssen wir Kolonialpolitiker neue Ländereien erschließen, um den Überschuss an Bevölkerung aufzunehmen, und neue Absatzgebiete zu schaffen für die Waren, die sie in ihren Fabriken und Minen erzeugen. Das Empire, das habe ich stets gesagt, ist eine Magenfrage. Wenn Sie den Bürgerkrieg nicht wollen, müssen Sie Imperialisten werden.“[9]

Imperialismustheorien: Hobson, Lenin, Kautsky

John Atkinson Hobson, der erste, der sich mit dem Imperialismus zur Jahrhundertwende wissenschaftlich auseinandergesetzt hat, war auch der erste, der sein räuberisch-parasitäres und zugleich gewalttätiges Auftreten thematisierte: „Man sagt nicht zuviel, wenn man feststellt, dass die britische Außenpolitik im wesentlichen ein Kampf um gewinnträchtige Investitionsmärkte gewesen ist. Großbritannien hat sich mehr und mehr zu einer Nation entwickelt, die von dem anderswo erwirtschafteten Steueraufkommen lebt; und jene Klassen, welche die Nutznießer dieser Abgaben sind, machen sich in zunehmendem Maße die Politik des Staates, seine Machtmittel sowie die öffentlichen Finanzen zunutze, um immer neue Möglichkeiten für ihre privaten Investitionen zu erschließen.“[10]

Hobson nahm den Burenkrieg zum Anlass seiner Auseinandersetzung mit dem „wahren Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik“. Es war die Zeit der endgültigen Aufteilung der Kolonien vor allem in Afrika unter die europäischen Staaten. Der Übergang vom Handels- zum Kapitalexport war in der Tat der entscheidende Entwicklungsschritt des Kapitalismus und erzwang die vollständige Eroberung und Unterwerfung der noch nicht von den kapitalistischen Großmächten beherrschten Gebiete – eine Dynamik, die nur mit kriegerischen Mitteln gegen den Widerstand der betroffenen Völker und gegen die Konkurrenz der rivalisierenden Mächte durchgesetzt werden konnte. Lenin hat aus Hobsons Werk ausführlich exzerpiert und auf der Basis seiner Analyse der Produktionsverhältnisse ebenfalls den Kapitalexport, die territoriale Aufteilung der Erde und die Rivalität der kapitalistischen Großmächte als zentrale Kräfte des Imperialismus hervorgehoben.[11]

Für Hobson war der Imperialismus die Pervertierung des wahren Nationalismus, wie er im europäischen Nationalstaat verkörpert war. Denn der für ihn durchaus begrüßenswerte ökonomische Internationalismus und Kolonialismus wird durch seine militärische Aggressivität und expansive Gewalttätigkeit nicht nur zu einer Bedrohung des Friedens, sondern führt durch seine parasitären Profiteure in Industrie, Militär und Bürokratie zur moralischen Deformation der eigenen Gesellschaft. In dem Kapitel über „die politische Bedeutung des Imperialismus“ merkt er leicht resignierend an: „Wie sehen wir darum im Lichte dieser Untersuchung, die auf das Imperium als Ganzes gerichtet ist, den neuen Imperialismus an? Fast das ganze Welt­reich besteht, wie wir gesehen haben, aus tropischem oder subtropischem Gebiet, das von Wilden oder ‚niederen Rassen’ bevölkert ist. Nur wenig hiervon hat selbst in einer fernen Zukunft Aussicht, das Terrain für ein gesundes Kolonialleben zu vergrößern. An den wenigen Orten, wo englische Kolonisten sich niederlassen können, wie in Teilen der neuen südafrikanischen Staaten, ist ihnen die dunkelhäutige Bevölkerung an Zahl so überlegen, daß die Einführung einer freien Repräsentativregierung untunlich ist.

Mit einem Wort, der neue Imperialismus hat den Bereich des britischen Despotismus vermehrt. Diese Zunahme überwiegt bei weitem den Bevölke­rungszuwachs und den Fortschritt in der faktischen Freiheit, den unsere wenigen demokratischen Kolonien erzielt haben. Der Imperialismus hat nicht die Ausbreitung der britischen Freiheit und unserer Regierungskunst gefördert. Die Länder und Völkerschaften, die wir annektiert haben, regieren wir – soweit wir sie überhaupt regieren – mit ausgesprochen autokratischen Methoden. In der Hauptsache werden sie von Downing Street aus verwaltet, teilweise auch von Zentren der Kolonialregierung aus, in den Fällen nämlich, wo sich selbst regierenden Kolonien gestattet worden ist, Annexionen vorzunehmen.”[12]

Im Gegensatz zu Lenin und zur marxistischen Imperialismustheorie meinte er allerdings, dass sich der Expansionszwang durch die Veränderung der Einkommensverhältnisse, die Anhebung der Kaufkraft der arbeitenden Klasse, durch soziale Gerechtigkeit und die Ausweitung des Binnenmarktes auffangen und somit die Gewalttätigkeit der Internationalisierung des Kapitals eindämmen lasse. Lenins kommentierte das mit der Randbemerkung: „haha!! Der Kern kleinbürgerlicher Kritik des Imperialismus“[13], denn er war der Ansicht, dass die Konkurrenz der einzelnen Monopolkapitale in den Nationalstaaten notwendig in Krieg ausarten musste. Kautsky räumte zwar ein, das dies in der Tat zum Ersten Weltkrieg geführt habe, aber er behauptete, dass er nicht unvermeidbar gewesen war. Er prognostizierte eine innerimperialistische Allianz, in der sich die herrschenden Klassen und die Monopolkapitale verbünden werden. Das war seine Vorstellung vom „Ultraimperialismus“.

Das trat so nicht ein, da es nach dem Weltkrieg an einer gesamtkapitalistischen Institution, also einem Staat fehlte, der imstande war, die anderen Staaten zu dominieren und zu organisieren, um einen relativ stabilen und funktionsfähigen globalen Kapitalismus zu garantieren. Auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg begrenzte noch das sozialistische Lager den globalen Expansionsdrang des Kapitals und schweißte die kapitalistischen Staaten eher in ihrem gemeinsamen Abwehrkampf gegen das sozialistische Lager als in einem ultraimperialistischen Bündnis zusammen.

Imperialismus oder Empire?

Dies änderte sich erst mit dem Zusammenbruch des sowjetischen und chinesischen Kommunismus, mit dem Ende der antagonistischen Bipolarität, die mit der zweiten imperialen Welle der USA zusammenfiel, sie wahrscheinlich sogar auslöste. Um was für eine neue Struktur beziehungsweise Weltordnung handelt es sich dabei und in welche Richtung treibt sie uns?

Fragen wie diese sind es, die jüngst Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem Buch „Empire“ aufgegriffen haben.[14] Obwohl in der Zeit zwischen dem Golf- und Jugoslawienkrieg entstanden, ist ihr Ausgangspunkt nicht die Rückkehr des Krieges in das Arsenal der Weltmächte, auch nicht – in klassischer materialistischer Tradition – die Analyse der Produktionsverhältnisse und die ungebrochene Entwicklungsdynamik des Kapitals; letztere wird schlicht unterstellt. Ihre Überlegungen setzen am Weltmarkt an, den sie als politische Kategorie überhaupt erst mit dem Fall der Berliner Mauer als gegeben ansehen. Die nicht neue, aber von ihnen radikalisierte These lautet: Der globalisierte Markt, die ihn zusammenhaltende Rechtsordnung und die sie wiederum garantierende Macht sind Ausdruck einer neuen „imperialen“ Regierungsform; diese besitzt zwar alle Attribute souveräner Gewalt wie diejenigen militärischer, polizeilicher, ökonomischer, monetärer oder kommunikativer Art, entbehrt aber jeglicher nationalstaatlicher Identität und Fixierung. Dieses neue „Machtdispositiv“ ist supranational, global und total und wird von den Autoren „Empire“ genannt. Es hat den Nationalstaaten die drei wesentlichen Felder der Souveränität – Militär, Politik, Kultur – entwendet, die damit zwar nicht formell, aber als souveräne Akteure aufgehört haben zu existieren. Der alte Imperialismus mit seiner die nationalen Grenzen überschreitenden Expansion, der Durchsetzung kolonialer Verhältnisse und der staatlichen Aggression starker gegen arme und schwache Staaten hat ausgedient: „Die Unterordnung der alten Kolonialländer unter die imperialistischen Nationalstaaten ist verschwunden oder im Verschwinden begriffen und mit ihr die imperialistische Hierarchisierung der Kontinente und Nationen. Alles reorganisiert sich und richtet sich auf den neuen und einheitlichen Horizont des Empire (...) Nein, das Empire ist schlicht kapitalistisch.“[15]

Es hat den Anschein, dass die reelle Subsumtion auch der entferntesten und unbedeutendsten Ökonomie unter das globalisierte Kapital und die Auflösung alternativer Produktionsverhältnisse der ehemals sozialistischen Staaten im Säurebad des kapitalistischen Weltmarktes die Autoren zu der Vision verführt haben, wonach sich die lediglich noch auf dem Atlas und in der UNO identifizierbaren Staaten zu entsouveränisierten und subjektlosen Territorialgebilden unter dem supranationalen Dach einer universellen kapitalistischen Herrschaftsstruktur mit Namen „Empire“ verflüchtigt haben. Den Autoren ist nicht der Vorwurf zu machen, dass sie mit dieser Wandlung vom Imperialismus zum Empire die aggressiven, kriegerischen, zerstörerischen, unterdrückenden, kolonisierenden und korrumpierenden Praktiken des „Empire-Kapitalismus“ leugnen wollten. Sie behaupten nur, dass diese Machenschaften nicht mehr den Nationalstaaten alten Typs, etwa den USA oder den NATO-Staaten, zuzuordnen sind. Zwar kommen sie nicht an der Tatsache US-amerikanischer Interventionen vorbei, dennoch sehen sie in ihnen lediglich den Ausdruck und das Instrument der sehr viel effektiveren Herrschaftsordnung des Empire. Diese ist nicht nur in den großen multinationalen Finanz-, Dienstleistungs- und Industrieunternehmen konzentriert, sondern muss auch den Druck aus den armen Ländern und durch gewerkschaftliche Organisationen berücksichtigen und wird damit sogar mit dem Prädikat der „demokratischen Macht“ ausgezeichnet: „In einem fortschreitenden Prozess der Durchdringung aller Regionen der Erde nutzt das Empire die weltweiten ökonomischen und finanzpolitischen Verhältnisse zur Durchsetzung des imperialen Rechts.“[16]

Darin liegt wahrscheinlich der Charme dieses Entwurfs, welcher ihm so breite Zustimmung in der bürgerlichen Öffentlichkeit zuträgt: die Verlagerung der eindeutigen und zurechenbaren Verantwortung für Krieg und Aggression weg vom intervenierenden Staat auf die imperiale Herrschaft des Empire. Ja, ihr wird gegenüber der Disziplinargewalt der alten Nationalstaaten eine viel intensivere und durchdringendere Kontrollgewalt zuerkannt, „was auf eine totalitäre Manipulation aller Aktivitäten, der Umwelt, der sozialen und kulturellen Verhältnisse usw. hinausläuft.“

Nicht genug damit, dass dieses subjektlose Ungeheuer trotz oder gerade wegen seiner Allgegenwärtigkeit für alle Formen des klassischen Widerstandes nur schwer auszumachen ist. „Den Gegner zu bestimmen, ist keine geringe Aufgabe wenn man bedenkt, dass die Ausbeutung über keinen spezifischen Ort mehr verfügt“ – es ist nach Hardt und Negri gerade durch die Kämpfe der Arbeiterklasse, des Proletariats und der Befreiungsbewegungen der zweiten und dritten Welt hervorgebracht worden. „Die Globalisierung der Märkte war, weit entfernt davon, bloß bittere Frucht kapitalistischen Unternehmertums zu sein, tatsächlich Ergebnis des Begehrens und der Forderungen taylorisierter, fordistischer und disziplinierter Arbeitskraft.“[17] In gut marxistischer Manier werden die Kämpfe zum Motor der Entwicklung erklärt. Einst war es das Proletariat, nun ist es die zur Menge erweiterte „Multitude“, die als „absolut positive Kraft“ Geschichte macht und das System über sich hinaus zur Apoplexie treibt.

Auf die zentrale Frage, wie der Bürgerkrieg der Massen innerhalb des Empire gegen das weltweite Kapital zum Ausbruch kommen kann, antwortet Negri: durch Volksbewegungen, die von Individuen und Gruppen geführt werden und die den nationalstaatlichen Rahmen hinter sich lassen und auf universelle Bürgerrechte und die Abschaffung der Grenzen zielen. Dass alles, was das System an Widersprüchen, Krisen, Katastrophen aber auch neuen Subjekten aus sich hervortreibt – von den Migrationsströmen, den Hungerrevolten und Aufständen bis zu den globalen Konzernen, Menschenrechtsaktivisten und NGO’s – zur Selbstzerstörung des Empires führt, ist eine nicht unbekannte Vorstellung, die eine vage Perspektive zum Kommunismus aufweist. Nicht überraschend, weil ein allgemeiner Zug des postmodernen Diskurses ist, dass die Autoren dabei keinen Heller mehr auf die alten Strategien des Sozialismus und der nationalen Gewerkschaftsbewegungen sowie den sozialen Reformismus geben.

Empire und die „neuen Kriege“

Lassen wir einmal all das anarchistische Befreiungslametta und die aus allen Epochen zusammen gesammelten Theoriebausteine, die das Werk nicht nur schmücken, beiseite und machen wir die Probe auf den analytischen Kern. Danach müsste der Terroranschlag vom 11. September 2001 jener staatenlose Angriff auf das Empire aus der Multitude heraus sein, dieser zwischen „Biomacht“ und „Liebe“ oszillierenden „Menge“ des Widerstandes. Dieser Widerstand ist ebenso global und total wie die Herrschaftsstruktur des Empires selbst. Er ist der Auftakt zum Bürgerkrieg aus dem Herzen und mit den Mitteln des Empires und damit die adäquate Form zur Destabilisierung und Destruktion der komplexen Ordnung des Empires. Es ist unklar, ob Hardt und Negri soweit gehen würden. Allerdings fänden sie in der US-Administration eine prominente Vertreterin der Auffassung, dass es sich nicht so sehr um einen Angriff gegen die USA und die Institutionen ihrer unabweislichen Souveränität handelte, sondern um den unerklärten Krieg gegen das westliche Wertesystem von Freiheit und Demokratie, gegen die Zivilisation – das „Empire“ – schlechthin. Diese Deutung ist allmählich von allen europäischen Regierungen zur Legitimation ihrer Anti-Terror-Gesetzgebung übernommen worden.[18] Dazu passen auch die Art und Modalitäten des „Verteidigungskrieges“, den die USA am 7. Oktober 2001 gegen den internationalen Terrorismus ausgerufen und dem sie zunächst den Namen „infinite justice“, dann aber „enduring freedom“ gegeben haben, und der immer noch anhält.

Beide Euphemismen bezeichnen, wie alle Propagandabegriffe, so ziemlich das Gegenteil dessen, was sie im Namen führen. Sie weisen allerdings auf wesentliche Charakteristika dieses und zukünftiger Kriege hin, die zunächst wie eine Bestätigung des globalen Konzepts des Empire aussehen, aber doch vorwiegend die Züge des alten Imperialismus im Kampf um die immer wieder notwendige Neuaufteilung der Welt tragen. Dieser Krieg ist nicht nur unendlich und andauernd, sondern auch grenzenlos. Er ist zeitlich wie auch territorial unbegrenzt, er wird nicht mehr durch Sieg und Niederlage begrenzt, da der Feind nicht mehr örtlich und zeitlich eindeutig fixierbar ist, eine Hydra, der permanent und überall neue Häupter nachwachsen. Diese andauernde Bedrohung ist nicht mehr an die Grenzen des klassischen Nationalstaates gebunden, weswegen deren Souveränität als klassischer Schutz vor Intervention für die neue Art des Verteidigungskrieges keine Rolle mehr spielt. Der permanente Krieg wechselt die Staaten seines Angriffs und interveniert überall dort, wo er Strukturen des Terrors, nachweisbar oder nicht, behauptet. Er stellt somit ganze Regionen – die „Achse des Bösen“, die ehemaligen „Schurkenstaaten“ – unter die permanente Drohung und den permanenten Ausnahmezustand eines jederzeit realisierbaren Angriffs, um die gewünschten ökonomischen und politischen Konzessionen zu erhalten. Das ist nichts anderes als eine neue Form der Rekolonisierung, die besonders deutlich an den Protektoraten wird, die nach „erfolgreichen“ Kriegen wie im Kosovo, Makedonien oder Afghanistan und jetzt im Irak eingerichtet werden.

Mit dem Krieg gegen Jugoslawien begann sich ein weiteres Charakteristikum des neuen Krieges durchzusetzen, welches an die alten Legitimationsformen des gerechten Krieges anknüpft und bewusst die Erosion der modernen Völkerrechtsordnung betreibt. Welchen Namen auch immer eine militärische Intervention bekommt, in keiner der außenpolitischen Grundsatzreden fehlt die Berufung auf die „rule of law“, die internationale Rechtsstaatlichkeit oder das Völkerrecht. Sie findet sich ebenso in der Neuen NATO-Strategie, die dem Nordatlantikpakt im April 1999 definitiv einen neuen offensiven Interventionsauftrag gegeben hat, wie in der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA vom September 2002. Die Anrufung des Völkerrechts gleicht allerdings zunehmend einem Ritual, das versucht, dem militärischen Interventionismus die fehlende Rechtsbasis durch ihre Beschwörung nachzureichen. Ultima ratio der Legitimation ist letztlich jedoch die Effektivität der Anwendung von Gewalt. Wer gewinnt hat Recht.

Das wiederum ist ganz im Sinne von Hardt und Negri. Nach ihnen intervenieren die „Einsätze der imperialen Maschine [...] nicht in unabhängig verfasste Territorien, sondern es sind Maßnahmen einer herrschenden Ordnung der Produktion und Kommunikation innerhalb einer vereinheitlichten Welt.“[19] „Der ‚gerechte Krieg’, so Hardt und Negri weiter, ist tatsächlich begleitet von ‚Polizeimoral’; die Geltung des imperialen Rechts und die Legitimität seines Einsatzes hängen ab von der notwendigen und unentwegten Anwendung der Polizeimacht. […] Armee und Polizei nehmen Gerichtsentscheidungen vorweg; sie konstituieren Gerechtigkeitsgrundsätze im Voraus, die von Gerichten dann anzuwenden sind. […] Gegebenenfalls wird eine neue Gerichtsbarkeit zu bilden sein, die der Konstitution des Empire entspricht. Gerichte werden dabei schrittweise verändert: von Organen, die nur Urteile gegen Delinquenten sprechen, zu Körperschaften der Gerichtsbarkeit, die das Verhältnis zwischen moralischer Ordnung, Ausübung von Polizeimaßnahmen und Legitimation imperialer Souveränität diktieren.“[20]

Welche Sätze könnten den Weg der NATO von der ersten Bombardierung Jugoslawiens bis zum Haager Tribunal oder den Weg der USA von Afghanistan über Guantánamo zu ihren neuen Militärgerichten besser paraphrasieren? Und auch die US-amerikanische Perspektive des „langen Krieges“ gegen den Terrorismus spiegelt sich durchaus zutreffend in dem anschließenden Satz: „Diese Art der andauernden Intervention, sowohl auf moralischer wie militärischer Ebene, entspricht einer Logik der Anwendung legitimer Gewalt unter den Bedingungen einer Legitimität, die auf dem Ausnahmezustand und der Polizeimaßnahme in Permanenz beruht. […] In diesem Sinn erweist sich die Intervention mittels Polizeieinsätzen als wirkungsvolles Instrument, das direkt zur Herausbildung der moralischen, normativen und institutionellen Ordnung des Empire beiträgt.“[21]

Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass diese „Polizeieinsätze“ wiederum nur ein Euphemismus für Kriege sind, deren Zerstörungen jede Anspielung auf polizeiliche Ordnungsaufgaben eigentlich verbieten. Wer die Welt als sein Eigentum betrachtet und die Länder zu seinem Vorhof macht, indem er durch Militär und Regierungszöglinge für Ordnung und Demokratie sorgt, neigt in der Tat dazu, den Ausnahmezustand nach den eigenen Interessen zum Normalzustand zu erklären und die normative Ordnung seines Imperiums an den Erfordernissen der notwendigen „Polizeimaßnahmen“ auszurichten. Das ist für Hardt und Negri die unvermeidbare Konsequenz des Empires und hat für die Zukunft eine fatale Wirkung. Denn sie kehrt den disziplinierenden und begrenzenden Einfluss, den das Völkerrecht auf die ungezügelte Gewalt der internationalen Konflikte haben soll, um und richtet ihn gegen das Recht selbst, welches nun durch die Imperative der Machtpolitik neu definiert werden soll. Der Ruf nach der Reform der UNO und der „Fortentwicklung“ des Völkerrechts wird gerade von den Staaten am lautesten vorgetragen, deren globale Ordnungsinteressen sich am stärksten durch die Institutionen der UNO und ihrer Charta eingeengt fühlen.

An die Stelle der UNO-Charta und der allgemeinen Völkerrechtsprinzipien treten die modernen Strategiepapiere der USA, NATO und der EU. Sie haben sich weitgehend von dem absoluten Gewaltverbot emanzipiert und enthalten deutliche Hinweise auf militärische Interventionen in jenen Regionen, in denen die Staaten ihre zentralen ökonomischen und politischen Interessen gefährdet sehen. In den Worten ihrer akademischen Apologeten handelt es sich dabei um die „Herstellung von imperialer Ordnung zwecks Absicherung von Wohlstandszonen an den Rändern.“[22] Entsprechend der militärischen Prägung jeder imperialen Ordnung wird der Krieg als unvermeidbares Mittel der Absicherung eingeplant: „Der Zwang zu einer zunehmenden Politik der Intervention ist auch die Reaktion auf die Konsequenzen der Globalisierung an der Peripherie. Es bleibt die Frage, ob es gelingt, die zentralen Bereiche in die Wohlstandszonen zu inkludieren, also in der Fläche Ordnung herzustellen, und den Rest zu exkludieren. Es steht aber außer Frage, dass an diesen neuen ‚imperialen Barbarengrenzen’ der Krieg endemisch wird, nämlich in Form von Pazifizierungskrieg aus dem Zentrum in die Peripherie hinein und in die Form von Verwüstungskrieg aus der Peripherie ins Zentrum.“[23]

Als Proben dieses „Pazifizierungskrieges“ dürfen wir die Kriege gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak begreifen, die nur notdürftig mit der Anrufung der Menschenrechte und dem Kampf gegen Terror und Massenvernichtungsmitteln legitimiert werden konnten. Der „Verwüstungskrieg aus der Peripherie“ meint die verschiedenen Terroranschläge seit dem 11. 9. 2001, wobei der Begriff absichtsvoll über das jeweilige Ausmaß der Verwüstungen beider Kriegsarten hinwegtäuscht. Ja, wir werden aufgefordert, „die Kategorie des Imperiums in Zukunft [...] als eine alternative Ordnungskategorie des Politischen, nämlich als Alternative zur Form des Territorialstaates“ zu akzeptieren. Das derart installierte imperiale Gewaltverhältnis muss deshalb als „Friedensgarant“, als „Aufseher über politische, kulturelle Werte und Absicherer großräumiger Handelsbeziehungen und Wirtschaftsstrukturen“[24] gepriesen werden, wobei dem Autor offensichtlich sein Rückfall in Wilhelminische Vorstellungen verborgen bleibt.[25]

Ein zweites amerikanisches Jahrhundert?

Kommen wir also auf die USA zurück und zu der Frage: Erleben wir ein zweites amerikanisches Jahrhundert?Im Sprachrohr des Foreign Office, der Zeitschrift Foreign Affairs, kam Sebastian Mallaby im Frühjahr 2002 unter dem Titel „Der zögernde Imperialist: Terrorismus, zusammengebrochene Staaten und die Sorge für das amerikanische Imperium“ zu dem Schluss:

„Vom Sudan über Afghanistan nach Sierra Leone und Somalia. Wenn solche Machtvakuen in der Vergangenheit Großmächte gefährdeten, hatten diese eine schnelle Lösung bereit: Imperialismus [...]. Die Logik des Neoimperialismus ist für die Bush-Administration zu überzeugend, um ihr zu wiederstehen. Das Chaos in der Welt ist zu gefährlich, um ignoriert zu werden.“[26]

Man könnte die Ordnung des Chaos auch als Globalisierung unter US-amerikanischer Hegemonie begreifen. Doch teile ich allmählich die Skepsis gegenüber diesem Begriff mit dem Soziologen Walden Bello, der aus der Perspektive der Philippinen, wo er an der Universität Manila lehrt, gegen diesen eingebürgerten Begriff einwendet, dass wir es nicht mehr nur mit Hegemonie, sondern mit dem Imperialismus der USA zu tun haben.[27] Ob der USA allein, mag im Augenblick dahinstehen, aber der Hauptgrund ist, dass dieser Begriff das enthält, was ihn auch historisch zu einer anerkannten Epochenbezeichnung machte: die Verbindung von ökonomischer Expansion, ideologischer Führung und militärischer Intervention. In der Dynamik der imperialen Okkupation aller Ressourcen der Erde finden wir sämtliche Mittel der Politik, von der Drohung über die Erpressung, Täuschung und Bestechung bis hin zur gezielten militärischen Intervention und zum klassischen Krieg.[28] Aus der Perspektive der Länder, die eher zum Schlachtfeld als zur Kommandozentrale der zukünftigen Kriege gehören werden, ist die Wahrnehmung dieses Schicksals besonders nüchtern und klar. So bei dem indischen Schriftsteller Amitav Gosh, der die „Verbindung von Kapitalismus und Imperium“ knapp zusammenfasst:

„Es ist merkwürdig, dass der Fall der Berliner Mauer weithin noch immer als Bestätigung des ‚Kapitalismus’ verstanden wird. Denn in Wahrheit deuten die weltweiten Erfahrungen der vergangenen 15 Jahre viel eher darauf hin, dass ungebremster Kapitalismus unweigerlich imperiale Kriege und die Expansion von Imperien auslöst. Müsste nicht vielmehr die nahezu unbestrittene Herrschaft eines einzigen Systems in der Tat eine Epoche universellen Friedens herbeiführen? Oder doch zumindest eine Ära, in der große Übereinstimmung über die geeigneten Mittel zur Gewährleistung von Frieden herrscht?

Was wir erleben, ist das genaue Gegenteil. Wir befinden uns in einer Periode außergewöhnlicher Instabilität und Angst, konfrontiert mit der Aussicht auf eine ständige Ausbreitung nur notdürftig getarnter Kolonialkriege [...].

Mit anderen Worten: Die Verbindung von Kapitalismus und Imperium bedeutet ein Programm des permanenten Krieges, jener Vorstellung, an der sich erst die Trotzkisten berauschten und die sich nun jene Neokonservativen aufs Neue zu eigen machen, die das „Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert“ ersonnen haben.“[29]

Sehr plastisch konnte man im April 2002 im Observer diesen Doppelcharakter des Imperialismus von Robert Cooper, dem ehemaligen Berater Tony Blairs und späteren Büroleiter von Javier Solana erklärt bekommen. Er schrieb dort unter dem Titel „Der neue liberale Imperialismus“: „Erstens ist das der freiwillige Imperialismus der globalen Ökonomie. Er wird normalerweise von einem internationalen Konsortium durch internationale Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank ausgeübt. [...] Die Herausforderung der postmodernen Welt ist es, mit der Idee doppelter Standards klarzukommen. Unter uns gehen wir auf der Basis von Gesetzen und offener kooperativer Sicherheit um. Aber wenn es um traditionellere Staaten außerhalb des postmodernen Kontinents Europa geht, müssen wir auf die raueren Methoden einer vergangenen Ära zurückgreifen – Gewalt, präventive Angriffe, Irreführung, was auch immer nötig ist, um mit denen klarzukommen, die immer noch im 19. Jahrhundert leben, in dem jeder Staat für sich selber stand. Unter uns halten wir uns an das Gesetz, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir ebenfalls das Gesetz des Dschungels anwenden.“[30]

Der US-Imperialismus hatte nie den kolonialen Okkupationscharakter der alten europäischen Staaten. Weder Siedlerkolonialismus noch direct oder indirect rule waren seine Methoden, sondern ein juristisches Instrument, der Interventionsvertrag. In seiner jährlichen Botschaft vom Dezember 1904 hat Theodore Roosevelt ein Jahr nach seiner Wahl ins Präsidentenamt die neue Version der Monroe-Doktrin für das zwanzigste Jahrhundert verkündet und dabei dieses Instrument eher beiläufig erwähnt:

„Es ist nicht wahr, dass die Vereinigten Staaten irgendeinen Landhunger verspüren oder irgendein Projekt gegenüber den anderen Nationen der westlichen Hemisphäre betreiben, außer zugunsten ihres Wohlergehens. Alles, was dieses Land wünscht ist, ihre Nachbarländer stabil, ordentlich und blühend zu sehen. Jedes Land, dessen Volk sich gut führt, kann auf unsere herzliche Freundschaft zählen. Wenn eine Nation zeigt, dass sie mit vernünftiger Effizienz und Ehrlichkeit in sozialen und politischen Angelegenheiten handelt, Ordnung hält und seinen Verpflichtungen nachkommt, braucht es keine Einmischung seitens der USA zu fürchten. Wiederholtes Fehlverhalten allerdings oder eine generelle Unfähigkeit, die zur Auflösung des besonderen Zusammenhalts in einer zivilisierten Gesellschaft führt, kann es in Amerika wie auch anderswo erforderlich machen, dass eine zivilisierte Nation eingreift. In flagranten Fällen, wenn die Vereinigten Staaten in der westlichen Hemisphäre mit einem solchen Fehlverhalten oder einer solchen Unfähigkeit konfrontiert sind, können sie sich angesichts der Monroe-Doktrin gezwungen sehen, wie widerwillig auch immer, die Funktion einer Weltpolizei auszuüben.

Wenn jedes Land, welches von der Karibischen See umspült wird, den Fortschritt an stabiler und gerechter Zivilisation zeigt, den Kuba mit Hilfe des Platt Amendments gezeigt hat seit unsere Truppen das Land verlassen haben, und den so viele Republiken in beiden Amerikas so andauernd und glänzend zeigen, würden alle Fragen der Einmischung in ihre Angelegenheiten durch unsere Nation sich erübrigen ...“[31]

Die Erwähnung des Platt-Amendments von 1901 gibt den Hinweis auf die amerikanische Strategie des Interventionsvertrages. Nachdem die USA sich lange Jahre vergeblich um den Kauf Kubas von Spanien bemüht hatten, nutzten sie 1898 den Untergang ihres Kriegsschiffes im Hafen von Havanna infolge einer Explosion zu einem bereits lange geplanten Krieg gegen Spanien – nach Meinung der beiden großen Imperialismustheoretiker der damaligen Zeit John Atkinson Hobson[32] und Wladimir Iljitsch Lenin[33], so unterschiedlich sie auch beide waren, das Musterbeispiel eines imperialistischen Krieges. Er dauerte nicht lange und auf der Konferenz von Paris musste Spanien Puerto Rico, Guam und die Philippinen an die USA abtreten. In Kuba verzichteten sie auf einen unmittelbaren Kolonialstatus, installierten jedoch eine Militärregierung, oktroyierten der Insel eine Verfassung und „schmückten“ sie ein Jahr später mit dem nach Senator Platt genannten Amendment. In Art. VIII verfügten sie: „Die kubanische Regierung erklärt sich bereit, den Vereinigten Staaten das Recht auf Intervention zuzugestehen, und zwar in folgenden Fällen: zur Erhaltung der kubanischen Unabhängigkeit, zur Aufrechterhaltung einer Regierung, die in der Lage ist, Leben, Eigentum und persönliche Freiheit zu schützen, und um jene Verpflichtungen einzulösen, welche die Vereinigten Staaten im Vertrag von Paris eingegangen sind und die nun von der kubanischen Regierung erfüllt werden sollen.“

Gleichzeitig wurde die Einrichtung einer Reihe von Militärstützpunkten vereinbart, deren letzter den USA auch heute noch zweifelhaften Nutzen bringt: Guantánamo.

Der Interventionsvertrag, das heißt die juristische Abmachung, unter bestimmten Voraussetzungen mit bestimmten Mitteln in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates eingreifen zu können, ist ein Produkt der US-amerikanischen Außenpolitik und ist insbesondere auf die Staaten Zentralamerikas ausgedehnt worden: neben Kuba, Haiti, San Domingo, Panama, Nikaragua. Die Staaten bleiben formell unabhängig und souverän, faktisch aber unter strenger Kontrolle der USA. Es sind keine Kolonien, aber eine neue Form von pseudosouveränen Protektoraten – unter Berufung auf die Monroe-Doktrin.

So sehr die verschiedenen US-Administrationen das alte Monroe-System auch renoviert und angepasst haben, wesentliche Elemente sind jedoch erhalten geblieben. Dabei haben sie zunächst das einstmals revolutionäre Interventionsverbot nun in sein Gegenteil verkehrt und den eher verborgenen imperialen Teil, genauer die Roosevelt-Interpretation, zum Zentrum der neuen Doktrin gemacht. Geblieben ist das alleinige Entscheidungs- und Interpretationsrecht darüber, ob, wann und welche Interventionsmittel angewandt werden, ob und welche Verträge, Konventionen und völkerrechtlichen Regeln eingehalten werden und die Entscheidung über die Verbindlichkeit dieser Doktrin insgesamt. Geblieben ist das System der formal souveränen Protektorate mit ihren Militärstützpunkten für die Schutzmacht und den Interventionsverträgen. Auf den Interventionsvertrag stieß unlängst der Europa-Abgeordnete André Brie während seiner Reise nach Afghanistan, als er auf einer Tafel im US-Hauptquartier die Aufgabenstellung entdeckte: „Installierung eines afghanischen Regimes, das die Armee zurückholt, wenn es zu erneuter Instabilität kommt.“

Ohne Zweifel werden auch die vertraglichen Bindungen einer zukünftigen irakischen Regierung an die Schutzmacht einen ähnlichen Interventionspassus enthalten, wobei wir davon ausgehen können, dass wie beim Platt-Amendment vor hundert Jahren die Entscheidung über das ob, wann und wie der Intervention bei den USA bleibt.

Erleben wir also ein zweites „amerikanisches Jahrhundert“? Hardt und Negri haben meines Erachtens zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die Globalisierung nicht nur darin erschöpft, dass keine Region der Welt sich mehr dem ökonomischen und militärischen Zugriff entziehen kann, sondern dass sich auch das Machtzentrum entnationalisiert hat. Nicht in dem Sinne, dass es gar nicht mehr identifizierbar und in einer subjektlosen Empirestruktur aufgehoben ist. Die Transnationalisierung der größten Konzerne, ob in der Erdöl-, Auto-, Pharma- oder Nahrungsmittelindustrie, hat einen Herrschaftszusammenhang hervorgebracht – von den Bretton Woods-Institutionen über G8 bis zur WTO –, der trotz aller Binnenkonkurrenz die führenden Staaten in einer weitgehenden Interessenidentität gegenüber den neuen Kolonien und Protektoraten in Afrika, Asien und Lateinamerika verklammert – was bei allen WTO-Konferenzen beobachtet werden kann. Der Konflikt zwischen den USA und einigen europäischen Staaten über den Irak-Krieg besteht nicht über den sicheren und preiswerten Zugriff auf die Ölressourcen, von denen alle diese Staaten abhängen, sondern über die Methode des militärischen Eingriffs – den sie allerdings auch bereit sind, selber zu praktizieren, wenn es in ihrem Interesse ist, wie es das Beispiel Jugoslawien beweist.

Es besteht kein Zweifel, dass in dieser imperialistischen Herrschaftsstruktur die USA die hegemoniale und dominante Position einnehmen, was bereits ihre Rüstungsindustrie ausweist. Die Globalisierung hat sie jedoch über die transnationalen Konzerne mit den anderen Staaten der zweiten Stufe so eng verbunden, dass sie bei der Neuordnung sprich Rekolonisierung der Welt, der Einrichtung und Verwaltung der neuen Protektorate nicht auf sie verzichten können. Diese haben allerdings noch weniger die Wahl der Opposition bei Gefahr ihrer Marginalisierung: Wer an den ständigen Tisch des Sicherheitsrats will, hat nur sehr begrenzten Spielraum. Sprechen wir daher eher von einem atlantischen Imperialismus denn von einer zunehmenden Kluft zwischen den USA und Europa. Aus der Sicht des Kongos und des Sudan, Venezuelas oder Indonesiens sind die atlantischen Widersprüche nicht so gravierend, dass diese Länder sie wie zu Zeiten der Sowjetunion noch für einen vermeintlichen Seitenausgang nutzen könnten.

Und die Forderung, Europa zu einer Gegenmacht gegen die USA aufzubauen, verkennt die Struktur des globalisierten Kapitalismus, in dem es – solange er herrscht – für die europäischen Staaten zwar Konkurrenz und Rivalitäten, nicht aber mehr eine entscheidende Gegenmacht gibt. Das 19. und das 20. Jahrhundert sind eben doch vorbei. Im 21. Jahrhundert deutet sich allenfalls eine Gegenmacht ganz anderer Struktur an, die aus Staaten wie China, Russland, Indien, Südafrika und Brasilien zusammengesetzt sein könnte.

[1] Vgl. Etwa Michael T Klare, Imperial Reach, in: The Nation v. 25. April 2005; Michel Chossudovsky, Planned US-Israeli Attack on Iran, Centre of Global Research on Globalisation v. 1. Mai 2005, http://globalresearch.ca/articles/CHO505A.html; Scott Ritter, The US war with Iran has already begun, in: Aljazeera v. 19 Juni 2005, http://english.aljazeera.net/NR/ exeres/7896BBD4-28AB-48BA-A949-2096A02F864D. Jüngst erst hat Daniel Ellsberg in einem Vortrag in Hamburg sogar auf die Gefahr gezielter Angriffe gegen den Iran mit atomaren Waffen hingewiesen. Höchste Zeit, Verrat zu begehen, in: Frankfurter Rundschau v. 13. 12. 2006.

[2] Chossudovsky, ebenda, S. 5.

[3] Michael T Klare, Energizing new wars, http://atimes.com/atimes/printNhtml v. 20. Mai 2005.

[4] Jim Lobe, Hawks push regime change in N-Korea, in: Asia Times v. 24. November 2004.

[5] Vgl. Financial Times v. 13. 12. 2007. Dazu N. Paech, Keine Operationen gegen „gescheiterte Staaten“, in: Freitag Nr. 51/52 v. 22. 12. 2007.

[6] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Frankfurt 1999, S. 92.

[7] Zit. n. Fritz Fischer, Bündnis der Eliten, Düsseldorf 1979, S. 20.

[8] Zit. n. Fischer, ebenda, S. 21.

[9] Wladimir Illitsch Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Berlin-DDR 1970, S. 84.

[10] John Atkinson Hobson, Der Imperialismus, London 1902, Köln, Berlin 1970, S. 53 f.

[11] W. I. Lenin, Hefte zum Imperialismus. Vorarbeiten zu dem Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, Berlin (DDR), 1957.

[12] Hobson, ebenda, S. 125 f.

[13] Lenin, Hefte zum Imperialismus, S. 397.

[14] Antonio Negri, Michael Hardt, Empire, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, deutsch: Empire. Die neue Weltordnung, Campus Verlag, Frankfurt a.M., 2001.

[15] Toni Negri, Empire – das höchste Stadium des Kapitalismus, in: Le Monde diplomatique, Januar 2001, deutsche Fassung S. 23.

[16] Negri, ebenda, S. 23.

[17] Negri/Hardt (Anm. 13), S. 267.

[18] Vgl. jüngst Tony Blair, A battle for global values, in: Foreign Affairs, Jan/Febr. 2007.

[19] Negri/Hardt (Anm. 13), S. 49.

[20] Ebenda, S. 52.

[21] Ebenda.

[22] Herfried Münkler und Dieter Senghaas, Alte Hegemonie und Neue Kriege, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5, 2004, S. 539 ff., 549. Münkler fügt hinzu: „In diesem Modell gibt es zentrale Regionen, die müssen inkludiert, also territorial kontrolliert werden – das ist zum Beispiel die Golfregion.“

[23] Münkler und Senghaas, ebenda, S. 549 f.

[24] Münkler, ebenda. In seinem neuen Buch „Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, preist der Autor den imperialen Sicherheitszugewinn noch ausführlicher: „Wenn es Imperien gelingt, das Prosperitätsversprechen einzulösen, durch den Barbarendiskurs eine imaginäre Grenze zu errichten, die Überzeugungskraft der imperialen Mission aufrechtzuerhalten und schließlich den Frieden in dem von ihnen beherrschten Raum zu sichern, dann verschafft ihnen das Stabilität und Dauer.“

[25] Auf die von Münkler kalkulierte mediale Wirkung seines Konzepts macht K. Prümm, Die Historiographie der „neuen Kriege“ muss Mediengeschichte sein, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2005, online-Ausgabe 2, H. 1. www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Pruemm-1-2005, aufmerksam.

[26] Steve Mallaby, The Reluctant Imperialist: terrorism, Failed States, and the Case for American Empire, in: Foreign Affairs, 2/2002, S. 2 ff., 6.

[27] Vgl. Walden Bello, Interview „Die Globalisierung ist zu Ende“, in: taz v. 28./29. Juni 2003. S. 8.

[28] Vgl. etwa Michel Chossudovsky, GlobalBrutal, Der entfesselte Welthandel, der Krieg, Frankfurt a.M. 2002; Maria Mies, Krieg ohne Grenzen, Die neue Kolonisierung der Welt, Köln 2004.

[29] Amintav Gosh, Das Leben in Amerika ist angenehm. Aber kein Modell für alle, in: Die Zeit Nr. 18, 2005.

[30] Robert Cooper, The new liberal imperialism, in: The Observer v. 7. April 2002.

[31] Quelle: http://www.theamericanpresidency.net/1904.htm.

[32] Vgl. Hobson, Der Imperialismus, S. 49

[33] Vgl. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, S. 17, 145.