Berichte

Alternative Wirtschaftsstrategien in Lateinamerika –Herausforderungen für die europäische Linke

Rosa-Luxemburg-Stiftung, Helle Panke und Arbeitskreis Lateinamerika der Fraktion DIE LINKE, Berlin, 27.-28. Oktober 2007

Dezember 2007

Die Konferenz stellte die Frage nach den heutigen inneren, regionalen und globalen Voraussetzungen und Bedingungen für die Verwirklichung linker Wirtschaftspolitik in Lateinamerika, aber auch nach den Grundzügen eines alternativen zukunftsfähigen Wirtschaftsmodells. Demgegenüber konstatierte Victor Klagsbrunn (Rio de Janeiro) das Fehlen wirklich kritischer wirtschaftswissenschaftlicher Ansätze und die Defizite der heutigen universitären Lehre: „An den Universitäten wird nicht mehr darüber diskutiert, wie eine andere Wirtschaftspolitik aussehen soll“ – eine Feststellung, die nicht nur für Brasilien gilt. Klagsbrunn forderte dazu auf, über den Rückgriff auf Keynes hinaus „das Neue zu denken“; nicht nur die Linke, auch eine Fraktion der Bourgeoisie, die an der Einschränkung der Macht des Finanzkapitals interessiert sei, habe dafür Bedarf.

Zunächst stand die Unterschiedlichkeit der Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen die gegenwärtigen (Mitte-)Links-Regierungen in Südamerika in Regierungsverantwortung gekomen sind, im Mittelpunkt. Die unterschiedlichen Kräfteverhältnisse und die verschiedenen Wege und bisherigen Ergebnisse in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der linksregierten Länder wurden zunächst analysiert. Von der häufig anzutreffenden „Gut-Böse-Gegenüberstellung“ zum Beispiel der Regierungen Chávez und Lula hob sich wohltuend ab, dass hier nach den objektiven Grundlagen für Hemmnisse oder Fortschritte beim Umbau der existierenden Wirtschaftsordnungen gefragt wurde: etwa der unterschiedliche Grad der kapitalistischen Durchdringung der Gesellschaften und der Durchsetzung des neoliberalen Modells als Ausgangssituation, das Kräfteverhältnis der Klassen und der Grad der Delegitimierung der existierenden Ordnung, die Art der Einbindung in die kapitalistische Weltwirtschaft. Folglich ging es in der Diskussion auch vor allem um die Rolle sozialer Bewegungen beim Vorantreiben der Transformationsprozesse, um Widerstände aus den Mittelschichten, Vorteile der neoliberalen Politik für bestimmte Bevölkerungskreise („Piqueteros und protestierende Mittelschichten in Argentinien wollten nicht dasselbe“ – Joachim Becker, Wien), um neue verfassungsrechtliche Grundlagen für die Veränderung der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Für weitere Schritte der gesellschaftlichen Veränderung müssen ökonomische, politische und soziale Voraussetzungen geschaffen werden.

Verschiedene Varianten der Wirtschaftspolitik der (Mitte-)Linksregierungen in Lateinamerika und ihre Rahmenbedingungen wurden hauptsächlich an den Beispielen Venezuela, Bolivien und Brasilien diskutiert. Besonders am Beispiel Boliviens wurde die Gratwanderung zwischen strategischen Anforderungen und Tagesaufgaben zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Wirtschaft (Joachim Becker) sichtbar. Von diesen Unterschieden im nationalen Rahmen spannte sich der Bogen zu deren Auswirkungen auf die Konzeption und Politik, die jeweils in der regionalen Integration in Lateinamerika – Grundbedingung jeder alternativen Strategie – angesteuert werden. Daraus ergaben sich interessante Blicke auf existierende Spannungen, Interessenkonflikte und -gemeinsamkeiten auf regionaler Ebene, sowohl auf den Mercosur, für den eine Politik des Interessenausgleichs gefordert wurde, die sich vom Freihandel lösen müsste, als auch auf ALBA, ein grundlegend geopolitisch bestimmtes Konzept kooperativer Beziehungen, das sich auch an die soziale Bewegungen richtet und damit in die nationalen Transformationsprozesse aktiv eingreift (Edgardo Lander, Caracas).

Die Diskussion entspann sich vor allem an folgenden Punkten: das Verhältnis von makroökonomischen Bedingungen und Formen solidarischer Ökonomie auf der Mikroebene; Grunderfordernisse und Schwierigkeiten einer alternativen Wirtschaftspolitik angesichts der Notwendigkeit einer nachhaltigen Energie- und Umweltpolitik und der Anhebung des Lebensniveaus der Massen; Kapitalverkehrskontrollen als Schlüsselmaßnahme für eine souveräne Wirtschaftspolitik; die lenkende Rolle des Staates und die Notwendigkeit eines starken staatlichen Sektors; Notwendigkeit und Schwierigkeiten der Diversifizierung der wirtschaftlichen Strukturen, die als langfristige Aufgabe verstanden werden muss – eine systematische Industriepolitik ist in keinem der Länder erkennbar, zum Teil fehlen den Staaten auch als Folge der neoliberalen Umgestaltungen die Instrumente dafür. Alternative Vorhaben und reale ökonomische Entwicklung gehen nicht selten entgegengesetzte Wege, so ein Fazit , und die Antworten der Linken reichen oft nicht aus.

Erfreulicherweise kam es auch zu einer recht ausführlichen Diskussion der Herausforderungen, die aus Lateinamerika – bei aller Unterschiedlichkeit der Situationen – an die europäische Linke ergehen. Nicht nur Solidarität, sondern die Identifizierung gemeinsamer Anliegen muss dabei im Mittelpunkt stehen forderte Kerstin Sack, die auf die Vorbereitung des Alternativen Gipfels zum nächsten EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima hinwies. Die Linke muss gegen die von den europäischen Mächten betriebene Politik der Spaltung Lateinamerikas auftreten, gegen die Versuche, die Handlungsspielräume linker Regierungen durch die Freihandelsverträge einzuschränken. Ein schwieriges, aber auf die Dauer kaum zu umgehendes Thema für die Linke des „Nordens“ bleibt das Problem der Veränderung der Konsum- und Lebensweise hier, das bis weit in die Maßstäbe des Wohlstandes und in das tradierte ökonomische und philosophische Denken reicht.

Der Arbeitskreis Lateinamerika bei der LINKEN, der diese Konferenz mit gestaltet hat, führt seit einiger Zeit jährlich eine solche Veranstaltung durch, deren Anliegen es ist, Kenntnisse und Problemsicht über linke Politik in Lateinamerika zu vertiefen und Bezüge zur Linken in Europa herzustellen. Die Beiträge dieser Konferenz erscheinen in der Reihe Pankower Vorträge des Vereins Helle Panke.