Berichte

Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Prekarität – Abstieg - Ausgrenzung

Friedrich-Schiller-Universität Jena, 4. Mai 2007

September 2007

Die Rückkehr der sozialen Frage in die Diskurse von Wissenschaft und Politik hat weniger mit der Herausbildung einer neuen Unterschicht zu tun, sondern hängt in erster Linie mit der Verunsicherung der Mittelschichten zusammen, für die die Auseinandersetzung um das ‚abgehängte Prekariat’ ein Medium der Selbstverständigung über gesellschaftliche Umbrüche ist. Mit dieser These eröffnete Klaus Dörre eine Konferenz, die am 4. Mai 2007 unter dem Titel „Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Prekarität – Abstieg – Ausgrenzung“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie, veranstaltet wurde. Aufgrund der großen Bedeutung, die die Lohnarbeits-Chronik „Metamorphosen der sozialen Frage“ für kritische Untersuchungen gehabt hat, die in letzter Zeit auch und gerade in Jena zu dem Thema angestellt wurden, erschien es nur folgerichtig, ihren Autor Robert Castel selbst zu Rate zu ziehen und seinen Anregungen einen eigenen Kongress zu widmen.

Vor etwa 250 ZuhörerInnen zeichnete Castel in seinem Vortrag die historischen Bruchlinien nach, die in Deutschland wie in Frankreich zu einer Wiederkehr der sozialen Unsicherheit und in der Folge sogar zur „Entstehung einer neuen sozialen Klasse“ geführt hätten. Hatte der Industriekapitalismus in den ersten Nachkriegsjahrzehnten einen „sozialen Kompromiss zwischen Marktinteressen und Arbeitsplatzsicherheit“ gefunden, geriet dieses sozialdemokratische Arrangement seit den 1970er-Jahren unter den Druck von „Dekollektivierung und Individualisierung“. Die Anforderungen an die Mobilität der Arbeitskräfte hätten seitdem stark zugenommen und die Bedrohung mit sozialer Not spürbarer gemacht. Sehr deutlich wandte sich Castel gegen die Verwendung des Exklusionsbegriffes: „Niemand steht außerhalb der Gesellschaft.“ Das Konzept der Prekarisierung eigne sich nicht nur besser zur Kennzeichnung des Prozesscharakters, sondern weise auch darauf hin, dass die Unsicherheit nicht nur das Prekariat, sondern auch Angehörige der Mittelschicht betreffe. Castel forderte die Sozialwissenschaft auf, die Arbeits- und Lebensbedingungen der verschiedenen von Prekarisierung betroffenen Kategorien noch genauer zu studieren. Erst wenn über deren Handlungskorridore mehr Klarheit herrsche, könne ein neuer „Kompromiss zwischen Mobilität und sozialer Absicherung“ gefunden werden.

In ihren Korreferaten bezogen Klaus Dörre (FSU Jena), Martin Kronauer (FHW Berlin) und Brigitte Aulenbacher (Universität Hannover) zu Castels Argumenten Stellung. Klaus Dörre wagte auf der Basis einer neuen qualitativen Studie die unter ausdrücklichen Vorbehalt gestellte These, dass neben den drei von Castel beschriebenen Zonen der Integration, der Prekarität und der Entkoppelung möglicherweise eine neue Zone der Fürsorge im Entstehen begriffen sei. Der Arbeitszwang, der auf die in diese Zone abgeschobenen Leute ausgeübt werde, raube ihnen ausgerechnet jene Sicherheiten, die zur Ausbildung eines ökonomischen Habitus unverzichtbar sind. Die eigentliche Funktion der Fürsorge-Zone bestehe deswegen nicht etwa in der ‚Aktivierung’ der Hartz IV-Empfänger, sondern in der indirekten Disziplinierung all derjenigen Lohnabhängigen, deren größte Furcht der soziale Abstieg unter die Schwelle der Respektabilität ist.

Sehr deutliche Kritik an Castels Prekarisierungsbegriff übte Brigitte Aulenbacher. Der Hauptmangel seiner Thesenführung besteheünde darin, die Erkenntnisse feministischer Prekarisierungsforschung so gut wie vollständig zu ignorieren. Statt der Geschlechterhierarchie und dem Haushalt in der Chronik der Lohnarbeit systematische Aufmerksamkeit zu schenken, werde der androzentrische Charakter des Normalarbeitsverhältnisses schlichtweg ausgeblendet. Unbezahlte Reproduktionsarbeit von Frauen sei für den von Castel idealisierten Fordismus und seine Kleinfamilie aber derart konstitutiv, dass sich die postfordistische Auflösung der herrschaftsförmigen Trias von Lohnarbeit, Wohlfahrtsstaat und Kleinfamilie auch für die Geschlechter ganz unterschiedlich darstelle. (In einer leider nur sehr kurzen Replik gab Castel dieser Grundsatzkritik übrigens weitgehend Recht.)

Martin Kronauer brachte für den Vorschlag, ganz auf den Exklusionsbegriff zu verzichten, nicht nur Unverständnis auf. Anstelle eines Verzichts schlug er in seinem Statement allerdings die Präzisierung vor, Exklusion fortan als Ausgrenzung in der Gesellschaft zu verstehen. Ausgegrenzte sind demnach auch dann Teil der Gesellschaft, wenn sie nicht an ihr teilhaben. Ein so verstandener Exklusionsbegriff habe den Vorzug, wie ein Seismograph zu funktionieren, der die Erschütterungen im sozialen Fundament der Demokratie messe.

Im Anschluss diskutierten insgesamt mehr als 30 ReferentInnen auf insgesamt fünf parallelen Panels die Auswirkung von Prekarisierung auf unterschiedliche Betroffenengruppen. Zum Bedauern vieler KonferenzteilnehmerInnen bedeutete dies, leider nur einem kleinen Teil der zahlreichen Vorträge beiwohnen zu können. Die TeilnehmerInnen des Panels zu den sogenannten ‚Überflüssigen’ waren sich weitgehend darüber einig, dass von einer ‚Kultur der Armut’ keinesfalls die Rede sein könne. Peter Bartelheimer (SOFI Göttingen) bewertete den unfreiwilligen Ausschluss aus Erwerbsarbeit als einen eigentlich „unlebbaren“ Zustand, der keine eigene Zone auspräge, sondern immer nach Statusalternativen Ausschau halte. Ariadne Sondermann, Soziologin aus Siegen, bestätigte diese These insofern, als sie unterstrich, wie dominant auch unter ALG II-EmpfängerInnen das Deutungsmuster ist, nur bei Besitz eines Erwerbsarbeitsplatzes als vollwertiger Bürger zu gelten. Ronald Gebauer (FSU Jena) äußerte die Vermutung, dass dieser soziale Druck für die unerwartet hohe Mobilität aus der Sozialhilfe verantwortlich sei, die er in seinen Untersuchungen feststellen konnte. Silke Röbenack (FSU Jena) hob bei der Vorstellung ihrer Interviews mit Erwerbslosen ihrerseits das Ausmaß symbolischer Gewalt hervor, das mit der Konstruktion des ‚erwerbsfähigen Hilfebedürftigen’ auf die Betroffenen nicht nur ausgeübt, sondern von diesen auch weitergereicht werde. Gisela Notz (Friedrich-Ebert-Institut, Bonn) schließlich erinnerte u.a. daran, dass die Kategorie der ‚Überflüssigen’ grundsätzlich kritisiert werden müsse und randständige Subjekte in der Geschichte nicht immer nur handlungsunfähig gewesen seien.

Genau diese Frage der Handlungsfähigkeit von Prekarisierten hatte das Panel zum Gegenstand, das mit einem Vortrag von Iris Nowak (Büro für angenehme Lebensweisen, Hamburg) eröffnet wurde. Sie ging vom Widerspruch zwischen allgemeinen und besonderen Prekarisierungserfahrungen aus und gab zu bedenken, dass etwa der Versuch, Hausarbeiterinnen zu organisieren, an Selbsthilfenetzwerke anknüpfen müsse, den Zwang zur Selbstvermarktung aber nicht ignorieren dürfe. Manfred Krenn (FORBA, Wien) gegenüber äußerten österreichische Arbeiter das Gefühl, von Politikern und ‚Sozialschmarotzern’ übers Ohr gehauen zu werden und damit nicht auf die Kosten zu kommen, die die Unterwerfung unter Rationalisierungsprozesse ihnen abverlangt habehat. Der Jenenser Politologe Mario Candeias stellte am Beispiel der französischen Vorstädte die Annahme einer „anomen“ Nicht-Klasse von Prekarisierten in Frage. Seiner Beobachtung nach gibt es in den Banlieues nicht nur Anzeichen von selbstorganisierten Koordinationen, sondern auch das Ziel, den Alltag ins Zentrum der Politik zu rücken. Mit Blick auf den Einzelhandel erläuterte Thomas Goes (Universität Oldenburg) einige Schwierigkeiten, mit denen sich gewerkschaftliche Organisierung in der Zone der Prekarität konfrontiert sieht. Prekäre Beschäftigung mache Solidarität eben nicht nur notwendiger, sondern auch schwieriger. Martin Petzke (Universität Bielefeld) trug Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ vor. Zwar ließen sich statistische Zusammenhänge zwischen der Angst vor sozialen Desintegrationstendenzen und rassistischen Einstellungsmustern erkennen, dennoch sei diese Korrelation noch von vielen weiteren Faktoren abhängig. Christiane Schnell (Universität Bremen) schließlich stellte die Beobachtungen vor, die sie bei den Selbstorganisationsversuchen einerseits von JournalistInnen und andererseits von LiteraturübersetzerInnen gemacht hat. Während sich der Zusammenhalt der Letzteren lediglich der Macht der Medienkonzerne beugen musste, leidet die Solidarisierung von freien JournalistInnen an deren immenser Konkurrenz untereinander.

Bei der abschließenden Podiumsdiskussion entzündete sich eine Kontroverse an der Frage, ob und unter welchen Bedingungen mit einer sozialen Bewegung von Prekarisierten zu rechnen sei. Zunächst wunderte sich Joachim Rock (Grundsatzreferent des Paritätischen Wohlfahrtverbandes)darüber, dass der FC St. Pauli offenbar mehr Mobilisierungsfähigkeit besitze als der Protest gegen Sozialabbau. Angesichts der hier und da beobachtbaren Massierung diffuser Unzufriedenheiten fand Klaus Dörre es demgegenüber nicht unplausibel, in Zukunft mit dem Auftreten subproletarischer labor unrest zu rechnen. Er fügte indes hinzu, dass solche Unruhen wahrscheinlich mehr Ähnlichkeit mit Hooliganismus als mit linker Politik haben dürften. Gegen die Erwartung prekärer Sozialbewegungen äußerte Jens König, taz-Redakteur und Ko-Autor des Bestsellers „Einfach abgehängt. Leben in der Unterschicht“ eine Skepsis sehr lakonischer Art. So hätte zum Beispiel nicht einmal ein einziger der zwölf von ihm Befragten auch nur eingestanden, selbst „arm“ zu sein. Und von einem Gedanken an gesellschaftliche Veränderung sei erst recht nichts zu spüren gewesen. Vielmehr könnten die Abgehängten schon bei der Bewältigung ihres Alltags kaum ein Licht am Ende des Tunnels sehen. Angesprochen auf die Handlungsmöglichkeiten gab Dörres Jenaer Kollege Stephan Lessenich zu verstehen, dass er dem Anti-Etatismus, den er aus der Hoffnung auf Selbstorganisation gelegentlich heraushöre, ziemlich kritisch, dem Sozialstaat aber solidarisch gegenüberstehe. Dieser Sozialstaat habe nicht nur die Möglichkeit, Armut zu bekämpfen, sondern stehe auch in einer politischen Verantwortung. Jens König wiederum war es, der eine solche Verantwortung für alles andere als ausgemacht hielt. Als Elke Reinke (die wahrscheinlich einzige ehemalige Hartz IV-Empfängerin im gesamten Deutschen Bundestag) auf eine Regierungserklärung Angela Merkels mit einer Schilderung ihrer Lebensgeschichte antwortete, hätten die anderen Parlamentarier getan, was sie immer tun, wenn eine Abgeordnete der Linkspartei ans Mikrofon tritt: Zeitung lesen, Kaffeetrinken und Weghören. Niemand von ihren KollegInnen, auch nicht aus ihrer eigenen Fraktion, hätte sie danach auch nur ein einziges Mal auf ihre eigenen Erlebnisse angesprochen. Reinke, so König, möchte das zynische Desinteresse des Establishments an Armut einfach nicht wahrhaben, das doch mehr als offenkundig sei.