Intellektuelle im Neoliberalismus

Das Beispiel Dieter Bohlen

Antonio Gramscis Theorie der Populärliteratur heute

Juni 2007

Bei seiner Untersuchung populärer, massenwirksamer Genres zeichnete sich die Literaturtheorie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci dadurch aus, dass sie stets nach Anknüpfungspunkten für eine progressive, linke Politik fragte. Dadurch unterschieden sich seine Arbeiten nicht zuletzt von den stärker „pessimistischen“ Theorien anderer Vertreter des „westlichen Marxismus“, etwa den Thesen zur Kulturindustrie im Kontext der Kritischen Theorie, die – recht einseitig – den systemintegrativen Charakter moderner Formen von Massenkultur betonten. Angesichts der Massenkultur des heutigen Neoliberalismus stellt sich die Frage, welcher Strang marxistischer Literaturtheorie im zwanzigsten Jahrhundert heute mehr Erklärungskraft besitzt. Wenn im folgenden der Versuch gemacht wird, sich dieser Frage durch eine Analyse der Autobiographie Dieter Bohlens zu nähern, so deshalb, weil dieser Band insbesondere in der Boulevard-Presse auf große Resonanz stieß. Angesichts der Einschaltquoten des RTL-Formats „Deutschland sucht den Superstar“ gehört Bohlen sicherlich nicht nur zu den erfolgreichsten, sondern auch zu den einflussreichsten Protagonisten der gegenwärtigen Populärkultur. Gerade deshalb eignet sich Bohlens Autobiographie dazu, das Verhältnis von Affirmation und der Artikulation von Bedürfnissen mit progressivem Potential zu analysieren.

Antonio Gramsci und der „westliche Marxismus“

Der „westliche Marxismus“, der sich im 20. Jahrhundert – teilweise auch in Abgrenzung zum sowjetischen „Marxismus-Leninismus“ – herausbildete, beschäftigte sich auch mit Fragen des Bewusstseins. Abgelehnt wurde eine „Widerspiegelungstheorie“, die den geistig-politischen Überbau“ darauf reduzierte, ein bloßer Reflex auf die „ökonomische Basis“ einer Gesellschaft zu sein, der dann allenfalls eine „Rückwirkung“ auf sie ausüben könne. Statt dessen wurden „Basis“ und „Überbau“ als zwei sich wechselseitig konstituierende Pole eines Verhältnisses betrachtet. Die Basis – so die These – könnte das, was sie ist, genauso wenig ohne den „Überbau“ (also ohne Gedanken-, Staats- und Rechtsformen) sein, wie umgekehrt der „Überbau“ ohne Basis zu denken wäre. So formulierte Karl Korsch 1923 in „Marxismus und Philosophie“ die These, „dass auch die materiellen Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Epoche das, was sie sind, nur zusammen mit denjenigen Bewusstseinsformen sind, in denen sie sich ... widerspiegeln, und ohne diese Bewusstseinsformen in Wirklichkeit nicht bestehen könnten.“ (Korsch 1966, S. 128). Das Bewusstsein wurde in diesem Kontext als Faktor ernst genommen. Im selben Jahr wie Korsch schrieb Georg Lukács in „Geschichte und Klassenbewußtsein“: „Das Kriterium der Richtigkeit des Denkens ist zwar die Wirklichkeit. Diese ist aber nicht, sondern wird – nicht ohne Zutun des Denkens ... Und in diesem Werden ist das Bewusstsein ... ein notwendiger, unentbehrlicher, konstitutiver Bestandteil. Denken und Sein sind also nicht in dem Sinne identisch, dass sie einander ‚entsprechen‘, einander ‚abbilden‘... sondern ihre Identität besteht darin, dass sie Momente eines und desselben real-geschichtlichen dialektischen Prozesses sind.“ (Lukács 1968, S. 349)

Auch Antonio Gramsci gehört in diese Tradition von Marxisten, die sich – zunächst in Abgrenzung zum von Kautsky repräsentierten Marxismus der Zweiten Internationale, dann auch im Gegensatz zur von Bucharin als Lehrbuch ausgearbeiteten Theorie eines Marxismus der Dritten Internationale – der Analyse von Bewusstseinsphänomenen widmeten. Beide Spielarten tendierten dazu, in der Menschheitsgeschichte einen Prozess zu sehen, der vom Bewusstsein unabhängig sei. Gramscis Ausgangspunkt war die Reflexion der Niederlage der „Revolution im Westen“, die in Italien mit dem Sieg des Faschismus endete. Von Mussolini eingekerkert, kam er zu der Schlussfolgerung, dass die westlich-kapitalistischen Gesellschaften ein wesentlich stabileres und komplexeres Herrschaftssystem ausgebildet hatten als der rückständige Zarismus, mit dem es die Bolschewiki zu tun hatten. In diesem Kontext steht seine Unterscheidung von „Staat im engeren Sinne“, vor allem den Repressionsapparaten, und der „Zivilgesellschaft“, in der Organisationen, die keinen direkten staatlichen Charakter haben, wie Vereine, Verbände, die Kirche und die Familie eine Rolle spielen. Solche zivilgesellschaftlichen Institutionen herrschen Gramsci zufolge nicht nur durch einen offenen, gewaltsamen Zwang, sondern vor allem durch „Hegemonie“, eine geistig-moralische Führung, die sich darin zeigt, dass bei den Massen eine freiwillige Zustimmung zum bestehenden Herrschaftssystem erzeugt wird. Eine Schlüsselrolle bei der Erzeugung von Hegemonie kommt nach Gramsci den Intellektuellen zu. Der Intellektuellenbegriff wird in diesem Kontext sehr weit gefasst: Nach Gramsci sind im Grunde genommen alle Menschen Intellektuelle, da es keine Tätigkeit ohne geistigen Anteil gibt und die Gesellschaft, in der sie leben, für alle Menschen ständiger Reflexionsgegenstand ist. Nicht alle Menschen haben hingegen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung die berufliche Funktion von Intellektuellen. Die Berufsintellektuellen, unter die Gramsci auch all jene subsumiert, die mit organisatorischen Aufgaben betraut sind, können eine Klasse dann „hegemoniefähig“ machen, wenn sie an ihren „Alltagsverstand“ anknüpfen und ihn im Sinne der Herrschaft systematisieren. Die Zivilgesellschaft erscheint Gramsci zugleich als ein Feld des Kampfes um Hegemonie und Macht. Jede Klasse mit einer wichtigen Rolle in der Produktion bildet hierbei auf der einen Seite ihre eigenen, „organischen“ Intellektuellen aus und assimiliert sich einen Teil der „traditionellen“ Intellektuellen – die organische Intellektuelle früherer Gesellschaftsordnungen sind.

Eine revolutionäre Bewegung im Westen muss sich nach Gramsci diesem zivilgesellschaftlichen Kampf stellen. Anders als in Russland, wo durch einen Mangel an ausgebildeter Zivilgesellschaft ein einmaliger konzentrierter Angriff auf die Staatsmacht („Bewegungskrieg“) erfolgreich war, müsse im Westen zunächst ein „Stellungskrieg“ geführt werden, also ein langwieriger Kampf um zivilgesellschaftliche Hegemonie.

Als ein solches Kampffeld geriet die Literatur in sein Blickfeld. 1912-15 hatte er in Turin unter anderem Literatur studiert (allerdings ohne Abschluss). 1913-22 schrieb er für die Turiner Universitätszeitung, den Grido del popolo, die sozialdemokratische Parteizeitung Avanti und schließlich für das Strömungsblatt L‘Ordine Nuovo Rezensionen, Theaterkritiken und Essays über literarische Themen. In den im faschistischen Kerker entstandenen Gefängnisheften finden sich umfangreiche Überlegungen zur Rolle der Literatur in der Zivilgesellschaft, zur faschistischen Literaturkritik und zu italienischen und ausländischen Schriftstellern.

Das in diesem Kontext von Gramsci verfolgte Konzept zielt insbesondere auf eine Aufhebung der Differenz zwischen „künstlerischer“ und „populärer“ Literatur. Die Literatur soll zwar ästhetischen Kriterien genügen, aber zugleich an die Probleme anknüpfen, die breite Massen bewegen: „Frage, warum und wie eine Literatur populär ist. Die ‚Schönheit‘ reicht nicht aus: es bedarf eines bestimmten intellektuellen und moralischen Gehalts, welcher der ausgearbeitete und vervollkommnete Ausdruck der tiefsten Bestrebungen eines bestimmten Publikums ist, das heißt, von Volk-Nation in einer bestimmten Phase seiner geschichtlichen Entwicklung. Die Literatur muss gleichzeitig gegenwärtiges Element der Zivilisation und Kunstwerk sein, sonst wird der Kunstliteratur die Trivialliteratur vorgezogen, die auf ihre Weise ein gegenwärtiges Element von Kultur ist, einer zwar heruntergekommenen, aber lebhaft erfahrenen Kultur.“ (Gramsci 1991ff., S. 2040).[1]

Indem Gramsci daher kein bloß ablehnendes Verhältnis zur Massenkultur hat, sondern stets nach progressiven Anknüpfungspunkten sucht und die Linke zur Produktion massenwirksamer Kunst auffordert, unterscheidet er sich deutlich von einer anderen linken Theorieströmung, die ungefähr im gleichen Zeitraum auf die Bedeutung der Massenkultur aufmerksam wurde. Die Frankfurter Schule wurde im Exil in den USA mit einer anderen Form von Kapitalismus konfrontiert als im faschistischen Deutschland. Der US-Kapitalismus zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass Kulturgüter in standardisierter Form zum massenweise produzierten Gut wurden. Adorno und Horkheimer prägten dafür den Begriff der „Kulturindustrie“: Dadurch, dass Kultur eine Ware wie jede andere geworden sei, werde jeder kritische Impuls ausgeschaltet. Kulturindustrielle Güter würden aus Profitmotiven produziert, nicht um ihrer Aussage willen. Funktion der Kulturindustrie sei es, vom realen Elend abzulenken und das Bestehende als selbstverständlich darzustellen: „An den Mann gebracht wird allgemeines unkritisches Einverständnis, Reklame gemacht für die Welt.“ (Adorno 1997 Bd. 10.1, S. 339). Die standardisierte Produktion führt Adorno und Horkheimer zufolge zu einer Stereotypisierung des Denkens. Die Kulturindustrie sei in diesem Zusammenhang ein viel wirksameres Unterdrückungsinstrument als offene Gewalt. Im Gegensatz zu Gramsci, demzufolge sich der Alltagsverstand stets durch Widersprüchlichkeit auszeichnet, die aufgespürt werden muss, um an fortschrittliche Elemente anknüpfen zu können, sieht die Kritische Theorie der Frankfurter Schule im Zeitalter der Kulturindustrie kaum eine Möglichkeit zur progressiven Gesellschaftsveränderung.

Die ideologischen Momente in Dieter Bohlens Buch

Bietet nun Dieter Bohlens Buch Ansatzpunkte, die eine kritische Massenkultur berücksichtigen sollte, oder bestätigt es vielmehr die Frankfurter These eines umfassenden „Verblendungszusammenhangs“? Um diese Frage beantworten zu können, muss zunächst analysiert werden, welche ideologischen Implikationen Bohlens Memoiren enthalten

„Jeder ist seines Glückes Schmied“

Für Dieter Bohlen ist völlig klar, was der Ausweg aus Schwierigkeiten aller Art ist: der individuelle Aufstieg, basierend auf individueller Leistung. Direkt in der Einleitung bringt er seine Lebensmaxime auf den Punkt: „Talent arbeiten arbeiten arbeiten arbeiten – dann kommt irgendwann auch die Kohle. Und: Haste Kohle, haste Frauen, haste Autos.“ (Bohlen 2003, S. 9). Mit der Schilderung seiner Kindheit geht es dann weiter: Beinahe wäre Bohlen auch – wie seine Großeltern – in der ostfriesischen Landwirtschaft gelandet, doch er kann seinem Vater danken, dass dieser „...ein echter Sturkopp ist und unbedingt Abi machen wollte.“ (ebd., S. 11). Außerdem bekommt er von seiner „Omi“ die richtigen Werte mit auf den Weg: Sie musste nämlich aus Ostpreußen flüchten und sich in Niedersachsen eine neue Existenz aufbauen. So lernt Bohlen von ihr: „‚Vor den Erfolg hat der Heiland den Schweiss gesetzt‘, ‚Du sollst immer ehrlich sein‘ - ihre Schnacks waren meine Werte...“ (ebd., S. 11), und er bekommt von ihr das Gefühl vermittelt, „auch etwas Besonderes zu sein.“ (ebd.). Sein Vater kündigt schon zwei Jahre nach Dieters Geburt seinen spießigen „Job als Beamter im Straßenbauamt Aurich“ (ebd., S. 13) und macht sich selbständig. Leicht hat er es nicht, da die Auftragslage schwierig ist; Bohlens Kindheit besteht daher vor allem aus „immer aufpassen, immer kalkulieren.“ (ebd., S. 15) und ist von ständiger Existenzangst begleitet. Durch viel Fleiß schafft es der Vater schließlich, der Familie ein schickes Eigenheim bieten zu können. Bohlen muss sich wegen des bescheidenen Luxus der Familie über ständigen Neid ärgern, wird etwa wegen des Mercedes seines Vaters andauernd mit Schlägen bedroht. Und er schafft es einfach nicht, in der Schule beliebt zu werden – was er doch, in Anlehnung an seinen erfolgreichen Vater, so gerne sein möchte. Bei Klassensprecherwahlen bekommt er regelmäßig nur seine eigene Stimme. Schließlich kommt er auf die Idee, über das Musikmachen beliebt zu werden, und verdient sich durch Feldarbeit das Geld für eine Gitarre. Beim Lernen hat er dann auch noch mit der zusätzlichen Unterprivilegierung zu kämpfen, dass er Linkshänder ist.

Im Studium der Betriebswirtschaftslehre geht der Existenzkampf dann weiter: Für neunzig Mark im Monat mietet er einen „Karnickelstall, der sich Wohnung nannte, mit Gemeinschaftsklo auf dem Flur.“ (ebd., S. 32) und besitzt „nur einen Teller, ein Glas, ein Besteck.“ (ebd.). Doch er beißt sich durch und sitzt nach drei Semestern schon an seiner Diplom-Arbeit. Irgendwann schafft er es schließlich in die Musikbranche und wird mit Modern Talking berühmt. Auch hier zeigt er wieder vollen Einsatz: „Ich ackerte und ackerte, doch von hundert Nummern waren hunderteine nicht gut genug.“ (ebd., S. 78). In dieser Zeit entsteht auch ein Titel, der Bohlens Lebenseinstellung auf den Punkt bringt: „You can win if you want“; dazu sein Kommentar: „Ich war überzeugt, man konnte gewinnen, wenn man nur wollte...“ (ebd.). So zieht sich der Mythos vom Mann aus dem Volk, der es durch viel Fleiß bis ganz nach oben geschafft hat, durch das ganze Buch – bis zu den „twenty tollen Thesen to Erfolg & Happiness“, wo es direkt zu Beginn heißt: „Hab ein klares Ziel vor Augen! ... Wenn es wirklich das Ziel ist, von dem du überzeugt bist, dass du es erreichen willst, kannst du es schaffen.“ (ebd., S. 302).

Dies ist neoliberale Ideologie in Reinkultur. Der Neoliberalismus zeichnet sich schließlich durch die Individualisierung gesellschaftlicher Sachverhalte aus – es sind niemals strukturelle Faktoren, die für Erfolg oder Misserfolg verantwortlich sind, es ist das konkurrente, „eigenverantwortliche Individuum“, dass sich ausreichend angestrengt hat oder eben nicht. Obwohl etwa die Bildungssoziologie wieder und wieder den nach wie vor engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen belegt, ist der Mythos, dass jeder es schaffen kann, der nur will, sowohl im Alltagsverstand als auch im politischen Diskurs sehr weit verbreitet. Dies hemmt natürlich die Entwicklung kollektiver Gegenwehr gegen die neoliberale Politik.

Auffällig ist dabei die Parallelität zweier Diskurse: Neben dem Mythos von der Allmacht des Individuums gibt es ja gleichzeitig den Mythos von den unentrinnbaren, schicksalhaften Sachzwängen – „There is no alternative“ heißt ja bekanntlich ein neoliberaler Glaubenssatz. Das „eigenverantwortliche Individuum“, das von den Fesseln des bürokratischen Wohlfahrtsstaates und der kollektivistischen Gewerkschaft befreit werden muss, soll also seine neu gewonnene Freiheit und Eigenverantwortung zu nichts anderem verwenden als dazu, sich „freiwillig“ ins Unvermeidliche zu fügen.

Auch im Weltbild des Dieter Bohlen gibt es nicht allzu viel Platz für unterschiedliche Lebensentwürfe. Individualität misst sich für ihn vielmehr daran, wie gut jemand den unvermeidlichen Zwängen des Marktes gerecht wird. Diejenigen, die im „bellum omnium contra omnes“ nicht so gut mitkommen, bekommen seine Verachtung zu spüren. Seine Mutter wirft seinem Vater, dem Bauunternehmer, beispielsweise vor, zu wenig wie ein Geschäftsmann zu denken: „Wenn sie mahnte: ‚Hans, diesen Arbeiter musst du jetzt wirklich entlassen, der war acht Wochen krank, außerdem säuft er wie ein Loch‘, dann brauchte sich der Typ nur hinzustellen und sich ein paar Tränen abzuweinen und schon zerfloss mein Vater vor Mitgefühl ... Auch mein Papa wäre, glaube ich, auf marodierende Feld-, Wald-, Wühl- und Tränenmäuse reingefallen.“ (ebd., S. 13/14). Ähnlich dann das Kapitel über den von ihm produzierten Roy Black (ebd., S. 206-213): Er schildert, dass dieser zu gutmütig und gutgläubig für das Musikgeschäft war und daran zugrunde gegangen ist. Zwar tut er in diesem Kapitel so, als täte ihm dieses Schicksal leid; das Mitleid konterkariert er jedoch durch die Kapitelüberschrift „Roy Black – oder: Die Guten kommen in den Himmel, die anderen wohnen in Tötensen“ (das Villenviertel, in dem Bohlen lebt).

Mehrfach äußert er auch die Ansicht, dass manche Menschen „eben so sind, wie sie sind“, und es reine Zeitverschwendung sei, sich mit ihnen auseinander zu setzen: „Eine Devise meiner Eltern lautete: ‚Man kann über alles reden!‘ Quatsch, kann ich nur sagen! Tatsächlich gilt der Spruch von Blume, dem Plattenchef: ‚Mach mal einem Bekloppten klar, dass er bekloppt ist!‘“ (ebd., S. 88) – so bringt er diese Einstellung auf den Punkt. Mehrere konkrete Beispiele sind ebenfalls zu nennen: So heißt es über Thomas Anders‘ Freundin Nora, der vorgeworfen wird, Modern Talking auseinandergebracht zu haben: „Würde man mich heute fragen, warum Nora war, wie sie war, würde ich sagen: Sie war ein kleines Mädchen, das eben noch im Kindergarten mit seinen Puppen gespielt hatte ... Eine verzogene Göre, die es gewohnt war, dass alle nach ihrer Pfeife tanzten.“ (ebd., S. 91). Über Freundin „Naddels“ Alkoholproblem heißt es nur: „Heute weiß ich: Man kann niemandem helfen, der das nicht will. Naddel wollte nicht.“ (ebd., S. 161). Selbstverständlich kommt ihm in keinem Moment die Frage, ob ihr Verhalten beispielsweise etwas mit seiner demonstrativen Frauenverachtung zu tun haben könnte. Auch mit dieser Einstellung stimmt Bohlen voll und ganz mit dem neoliberalen Zeitgeist überein: Mehr und mehr werden ja beispielsweise Kriminalität, Drogensucht, Schulversagen etc. als individuelles Versagen, nicht als gesellschaftliches Problem behandelt (und dann oft auch noch als „genetische Veranlagung“ biologisiert).

Schließlich bietet Bohlen auch noch einen Weg, mit der durch ein rücksichtsloses Verhalten nach seinem Vorbild eventuell entstehenden Selbstverachtung umzugehen: Projektion auf andere. Immer wieder wirft er anderen genau diejenigen Verhaltensweisen vor, die er an sich selbst rühmt: Rücksichtslosigkeit, Geldgier, Härte und Kälte. Zum Beispiel hat er Angst, „mit einundvierzig oder zweiundvierzig aufs Abstellgleis zu geraten“ (ebd., S. 229), weil es in der Musikbranche so rücksichtslos zugeht. Oder er hat „Paranoia, dass alle Frauen, mit denen ich zusammen bin, mich nur wegen der Kohle lieben...“ (ebd., S. 238). Und schließlich weiß er ganz genau: „Auch deine Freunde hätten am liebsten, dass du auf gleicher Stufe mit ihnen bleibst. Und es gibt auch Freunde, die hätten dich gern noch eine Stufe drunter.“ (ebd., S. 303) Er rät: „Doch baue niemals auf die Hilfe anderer, denn sonst bist du abhängig.“ (ebd., S. 304).

Am auffälligen Nebeneinander von radikalem Individualismus und Schicksalsgläubigkeit bei Bohlen wird der schon immer widersprüchliche Charakter bürgerlicher Freiheit deutlich, der in der marxistischen Diskussion mehrfach analysiert wurde. Schon Marx sah in seiner Frühschrift „Zur Judenfrage“ (1844), dass der bürgerliche Staat Menschen als freie und gleiche Staatsbürger setzt, die in ihren materiellen Lebensverhältnissen nicht frei und gleich sind: „Die Grenze der politischen Emanzipation erscheint sogleich darin, daß der Staat sich von einer Schranke befreien kann, ohne daß der Mensch wirklich von ihr frei wäre, daß der Staat ein Freistaat sein kann, ohne daß der Mensch ein freier Mensch wäre.“ (Marx 1990, S. 40). Georg Lukács charakterisiert in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ den Kapitalismus als einen Zustand, „in dem die Menschen einerseits in ständig steigendem Maße die bloß ‚naturwüchsigen‘, die irrationell-faktischen Bindungen ... hinter sich lassen, andererseits aber gleichzeitig ... eine Art zweiter Natur um sich errichten...“ (Lukács 1968, S. 235). Das Individuum treibt also zwar die rationale Berechenbarkeit des Teilbereiches, auf den es spezialisiert ist, auf die Spitze, der gesellschaftliche Gesamtprozess wird jedoch nicht rational geplant, sondern trifft das Individuum mit der Schicksalhaftigkeit von Quasi-Naturgesetzen, die es höchstens ausnutzen, an denen es jedoch nichts ändern kann. Leo Kofler erklärt, dass nach der Befreiung von feudalen Bindungen die Notwendigkeit eintrat, auf sich allein gestellt ums materielle Überleben zu kämpfen; dies hatte eine Vermaterialisierung des Bewusstseins und eine Vernachlässigung geistiger und kultureller Interessen zur Folge, so dass sich die Hoffnung der bürgerlichen Humanisten, die Menschen würden ihre neue Freiheit zur allseitigen Entwicklung ihrer Persönlichkeit nutzen, nicht eintrat, sondern es vielmehr zu einer Uniformierung der Menschen kam: „Das Individuum erkaufte seine ‚Freiheit‘ durch Integration in den kapitalistischen Prozess und durch Entindividualisierung seiner subjektiven Eigenschaften.“ (Kofler 1967, S. 190).

Eine Gemeinsamkeit dieser kritischen Ansätze ist, dass sie alle darauf aufmerksam machen, dass der bürgerliche Individualismus sein Freiheitsversprechen nicht einlösen kann, da er die gesellschaftlichen Bedingungen der individuellen Entwicklung ignoriert und Autonomie, Vernunft etc. zu Eigenschaften macht, die der Einzelmensch einfach so hat. Damit wird Freiheit jedoch zu einer Last, einer Anforderung, der der Einzelne nicht nachkommen kann, vor der er gar versucht ist zu fliehen, wie Adorno sagt: „Die, deren reale Ohnmacht andauert, ertragen das Bessere nicht einmal als Schein; lieber möchten sie die Verpflichtung zu einer Autonomie loswerden, von der sie argwöhnen, dass sie ihr doch nicht nachleben können, und sich in den Schmelztiegel des Kollektiv-Ichs werfen.“ (Adorno 1997, Bd. 10.2, S. 567) – so heißt es über die Massenbasis faschistischer Bewegungen. So erklärt sich auch der Widerspruch des Neoliberalismus, dass der Aufruf zur Eigenverantwortung letztlich nur ein Aufruf zum Konformismus ist, sehr gut.

„Lass dir von niemandem etwas sagen“

Mit der Perspektive des individuellen Aufstiegs ist bei Bohlen nicht nur das Versprechen von materiellem Wohlstand verbunden, sondern auch das Versprechen eines selbstbestimmten Lebens, frei von der Bevormundung durch andere. Durch das ganze Buch zieht sich seine Selbstdarstellung als jemand, der vor nichts und niemandem Respekt hat, sich nie von irgendwem etwas sagen lässt und dem Sitte, Moral und Konventionen nichts bedeuten. Schon in der Einleitung präsentiert er die „Message dieses Buchs: Free your mind! Think different! Be different!“ (Bohlen 2003, S. 9) und sagt seinen Kritikern kurz und bündig: „Hier bin ich, leckt mich alle!“ (ebd.). Auch gegen die in seiner Jugend noch herrschende Sexualmoral verstößt er mehrfach: Zuerst durch die „Doktorspiele“ mit den Mädchen aus der Nachbarschaft, bei denen er auch einmal von Erwachsenen erwischt wird, dann durch einen Auftritt bei den Eltern seiner Freundin: „ ... da beugte sich ihr Vater zu mir und flüsterte: ‚Dieter, ich muss dich mal zur Seite nehmen.‘ Und ich fragte:‘ Ja, was ist denn?‘ Und er: ‚Nur damit wir uns da richtig verstehen, meine Tochter ist erst vierzehn ...‘ ... woraufhin ich zu ihm sagte: ‚ Ja wenn sie damit meinen, dass ich nicht mit ihrer Tochter schlafen soll – das hab ich schon längst erledigt!‘... Bis an mein Lebensende hatte ich Hausverbot bei Hendrike.“ (ebd., S. 24). Später dann brüstet er sich die ganze Zeit über mit einer Form von sexueller Libertinage, die deutlich zwanghafte Züge trägt. Auch das Leid einer autoritären Erziehung macht er durch – regelmäßig gibt es vom Vater im Badezimmer Schläge mit dem Gürtel – und setzt sich durch: Eines Tages trifft sein Vater beim Zuschlagen zufällig die Freundin von Dieters Freund, dieser schlägt zurück, und fortan schlägt der Vater Dieter nie wieder.

Auch mit sämtlichen Lehrern seiner Schule legt sich Bohlen an, so dass diese ihn „an dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr ... von der Schule schmeißen“ wollen (ebd., S. 27). Dem Wunsch seiner Eltern, dass aus ihm „was Ordentliches ... werden“ (ebd., S. 31) sollte, nämlich Betriebswirt, verweigert er sich und zeigt allen, dass man auch mit angeblich brotloser Kunst reich und berühmt werden kann. Auch eine antikapitalistische Phase hat er hinter sich: „Ich begann zu schleimen bei meinen Sozi-Lehrern, dass es krachte. Ich schrieb Sätze wie ‚Ich bin gegen Kapitalisten‘ und ‚Kampf dem STAMOKAP‘ in meine Aufsätze...“ (ebd., S. 28). „Ich wurde Mitglied bei den Jusos, fing an‚ ‚Mercedes ist Scheiße!‘ und ‚Guck mal, unsere Bonzen-Villa!‘ zu rufen. Das ging so weit, dass ich auf unser hässliches Flachdach kletterte und dort an der Antenne eine rote Fahne mit Hammer und Sichel hisste.“ (ebd., S. 29). Mit Freundin Erika verbindet ihn die gemeinsame „Anti-Haltung“ (ebd., S. 40), und bis heute hält er nicht viel von Hierarchien: „Alle anderen treten nach unten und buckeln nach oben, ich trete nur die Chefs.“ (ebd., S. 45). Mit demonstrativer Respektlosigkeit provoziert er gar ganze „Staatskrisen“: Nach einer Beschimpfung österreichischer Kollegen mit der Bemerkung, sie sollten doch erst einmal richtiges Deutsch lernen, steht in der Kronen-Zeitung: „‚Diplomatischer Skandal – Dieter Bohlen beleidigt Österreich!‘... Tat mir natürlich Leid, aber ich bin halt auch nur ein Mensch.“ (ebd., S. 201).

Bei Bohlen wird also individuelle Selbstbestimmung und ein bewusstes Sich-Abheben vom Rest der Welt geradezu zum Befehl – „Be different!“ heißt es ja gleich zu Beginn im Imperativ. Auch hier ist wieder die Nähe zu bestimmten Tendenzen im neoliberalen Diskurs festzustellen – nämlich zum Konzept des „Arbeitskraftunternehmers“. Die neuere Managementliteratur spricht davon, dass der Einzelne zum „Manager seiner selbst“ werden soll: Er soll seine individuellen Potentiale erforschen und aktivieren – in jeder Hinsicht, also etwa auch auf Emotionen, Charaktereigenschaften etc. bezogen. Ziel ist es, sich von anderen abzuheben, um auf dem Markt besser zu bestehen. Dieser Appell ergeht auch an abhängig Beschäftigte – Hintergrund ist die marktförmige Umstrukturierung der Betriebe im Postfordismus. An die Stelle hierarchischer, tayloristischer, vom Fließband geprägter Produktionsprozesse tritt die Zerlegung des Betriebs in kleine, teilautonome Einheiten, die zueinander in Konkurrenz- oder Kunden-Lieferanten-Beziehungen stehen. Galt im Fordismus die Individualität des Arbeiters noch als auszuschaltender Missstand, soll sich nun in die teilautonomen Arbeitsgruppen jeder aktiv und eigeninitiativ einbringen. Folge ist unter anderem, dass die betriebliche Interessensvertretung erheblich erschwert wird, weil die Lohnabhängigen selbst etwa Arbeitszeitregelungen unterlaufen. Durch die Verlagerung von Marktbeziehungen in den Betrieb hinein wird die Situation des Unternehmers auf die abhängig Beschäftigten übertragen; der Unternehmer ist zwar frei von Vorschriften durch andere Menschen, muss sich jedoch nach den Gegebenheiten des Marktes richten. So kommt es, dass die abhängig Beschäftigten ihre neue Freiheit vor allem dazu benutzen, sich „freiwillig“ den Konkurrenzzwängen zu unterwerfen (vgl. Peters/Glissmann 2001). Trotzdem sind diese neuen Formen der Arbeitsorganisation gegenüber einem starren Taylorismus ein realer Fortschritt – wie sehr auch kapitalistisch deformiert. Offenkundig bestätigt sich auch wieder einmal Gramscis These von der Bedeutung der Literatur bei der Durchsetzung neuer kultureller Muster: Das für die neuen Arbeitsformen erforderliche Selbstverständnis der Menschen wird durch populäre Bücher wie das von Bohlen vermittelt.

Schon Leo Kofler stellte (noch unter fordistischen Bedingungen) fest, dass im 20. Jahrhundert der Wunsch nach individueller Selbstbestimmung und nach einem Bruch mit traditionellen Tabus beträchtlich zugenommen hat, was nicht zuletzt mit neuen Formen des Massenkonsums zu tun hat – mit dem Fordismus war das Versprechen verbunden, im privaten Konsum könne man den Zwängen der Arbeitswelt entrinnen, während sich im Postfordismus das Freiheitsversprechen auch auf die Arbeitswelt selbst bezieht. Laut Kofler misslingt diese Enttabuisierung jedoch, da der Kapitalismus weiterhin verdinglichte Bewusstseinsformen produziert, die die Unterwerfung unter den Leistungsimperativ der Arbeitswelt als unentrinnbar erscheinen lassen; diese Unterwerfung gelingt jedoch nur, wenn die verinnerlichten psychischen Tabus beibehalten werden, die Enttabuisierung also oberflächlich bleibt. So erklärt sich, dass die gleichen Menschen, die sich im Privatleben teils exzessiv ausleben, im Betrieb völlig angepasst sind. Die neuen Konsumverheißungen führen sogar zu einer Verschärfung des Leistungsethos, da gesteigerte Arbeitsleistung ja Voraussetzung ist, um überhaupt an ihnen teilhaben zu können. Auch bei Bohlen sehen wir dieses merkwürdige Nebeneinander von privaten Exzessen und asketischer Leistungsideologie. Auf der anderen Seite wird durch diese Verhältnisse auch der private Genuss zutiefst deformiert. Wir können dies bei Bohlen etwa daran erkennen, dass Sexualität für ihn nichts anderes ist als eine Art Sport, wo man(n) Leistungen zu erbringen hat – daher die zwanghaften Züge seiner Libertinage.

„Ich mache die Welt für euch durchschaubar“

Dieter Bohlen verspricht seinen Lesern, sie „hinter die Kulissen“ zu führen, ihnen „nichts als die Wahrheit“ zu erzählen. Er gibt sich als jemand, der ehrliche, authentische Schilderungen liefert und die Verlogenheit seiner Branche im Besonderen und der Menschheit im Allgemeinen entlarvt. „Ich mein: Wer sagt schon, was er denkt? Haben doch alle die Büx bis oben hin voll.“ (Bohlen 2003, S. 9). Die einzigen, die Lügen, sind seine Kritiker: „... früher haben die Leute für Lügen über mich sehr viel Geld gekriegt, jetzt kassiere ich für die Wahrheit.“ (ebd.). Schon in jungen Jahren merkt er, „... wie heikel es manchmal ist, die Wahrheit zu sagen.“ (ebd., S. 24) und rühmt sich, durch seine Ehrlichkeit überall angeeckt zu sein. In der Zeit, in der er versucht, musikalisch Karriere zu machen, und bei verschiedenen Musikverlagen an die Tür klopft, sammelt er „Feinde wie andere Leute Briefmarken“ (ebd., S. 50), weil er einflussreichen Leuten ungeschminkt seine Meinung sagt. Als er einen von ihnen sehr viel später wiedertrifft, ist dieser „... so unterwürfig, dass ich mich fast übergeben musste.“ (ebd., S. 51). Mit dieser Ehrlichkeit geht es dann weiter, als er schon selbst ein einflussreicher Produzent ist: „Bohlen, der Miesmacher! Der Spielverderber! Dieser Ruf begleitet mich schon durch mein ganzes Leben als Musiker. Natürlich will jeder Künstler Zucker in den Hintern geblasen kriegen ... Und weil ich ein Typ bin, der versucht, realistisch zu sein, möchte man mich am liebsten ganz schnell loswerden.“ (ebd., S.197).

Es geht damit weiter, dass er die Effekte, auf denen der Erfolg kulturindustrieller Produkte beruht, gnadenlos in ihrer Produziertheit entlarvt, einschließlich seiner eigenen Werke: „... Gequietsche in Eunuchen-Tonlage war seit Studententagen ... mein Spezialgebiet.“ (ebd., S. 69) heißt es etwa über den Modern-Talking-Hit „You‘re My Heart, Youre My Soul“. Diesen Song musste man natürlich „abschmecken wie die Chefköche eine gute Soße: hier noch ein bisschen Trommelwirbel, da noch ein bisschen Schalalalala.“ (ebd., S. 70); danach wird ein großes Geheimnis darum gemacht, wer eigentlich hinter Modern Talking steht, um die Vermarktungschancen zu verbessern. Nach dem Erfolg kommt es natürlich zum „Aufjuchzen der Speichellecker.“ (ebd., S. 79). Genüsslich beschreibt er dann, wie er aus einer jungen Frau mit dem Namen Caroline Müller und einem „eher mittelmäßigen Stimmchen“ (ebd., S. 104) den Popstar C.C.Catch gemacht hat - dabei wird deutlich, dass die kulturindustriellen „Stars“ bloße austauschbare Produkte ohne eigene Persönlichkeit sind. Howard Carpendale ist auf dem Weg ins Studio „sein Akzent abhandengekommen“ (ebd., S. 116), und pünktlich zur Aufnahme ist er wieder da. Für sein Projekt „Blue System“ fängt Bohlen an, seine Stimme „eine Oktave nach unten zu pressen und zu röcheln“, denn: „Ein neues, rockigeres Image musste her.“ (ebd., S. 124). Dann fällt er auf den Anlagebetrüger Jürgen Harksen herein; noch schlimmer als das verlorene Geld findet er daran den Mißbrauch seiner Freundschaft, und er lernt daraus: „Jeder Mensch ist auf seine Art geldgierig.“ (ebd., S. 180). Der gealterte Engelbert Humperdinck muss vor jeder Sendung erst einmal wieder imagegerecht zurechtgemacht werden (ebd., S. 184). Das Gleiche gilt für Al Martino, der „stramm auf die siebzig“ zugeht: „Die Maske brauchte Stunden, um Al überhaupt so hinzukriegen, dass er vor die Kameras konnte.“ (ebd., S.220). Und bei einem Auftritt des Alkoholikers Roy Black „schalteten die Kameras auf Weitwinkel und zeigten ganz viel Publikum und ganz viel Kulisse, weil Roy seinen Text vergessen hatte und den Mund nicht mehr synchron zum Playback bewegen konnte.“ (ebd., S. 211). Im Kapitel über Bonnie Tyler werden wir dann darüber aufgeklärt, dass es echte und unechte raue Stimmen gibt: Die von Tyler ist echt, was allerdings auch mit der Trinkfestigkeit ihrer Trägerin zu tun habe.

Das Bedürfnis, die Welt erklärt zu bekommen, sie endlich durchschaubar werden zu lassen, ist natürlich seinerseits erklärungsbedürftig. Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, dass der Kapitalismus in der Tat deutlich schwerer zu durchschauen ist als frühere Produktionsweisen. Er bedarf der wissenschaftlichen Analyse, wie Karl Marx sie im „Kapital“ vorgenommen hat. Während Herrschaft etwa im Feudalismus noch unmittelbare Herrschaft von Menschen über Menschen war, erscheinen die kapitalistischen Verhältnisse als Verhältnisse zwischen Dingen. Gesellschaftliche Kontakte werden über den Austausch von Waren vermittelt; nach dem einzelnen Warentausch haben die Warenproduzenten nichts mehr miteinander zu tun, und so wird nicht sichtbar, dass hinter dem Austausch von Waren ein gesellschaftliches Verhältnis steht. Daher wird auch nicht reflektiert, welche gesellschaftlichen Verhältnisse im Wert der Ware stecken; er scheint der einzelnen Ware vielmehr aufgrund von geheimnisvollen Natureigenschaften anzuhaften. Marx nennt dies ihren „Fetischcharakter“. Der Fetischismus prägt das gesamte Bewusstsein der Marktsubjekte: Gesellschaftliche Vorgänge erscheinen ihnen als unerklärliches Schicksal, als unentrinnbarer Sachzwang. Am deutlichsten wird dies angesichts der um sich greifenden Biologisierung des Sozialen, wie in Begabungs- oder Rassentheorien. Daher sind die im Kapitalismus lebenden Menschen oftmals sehr empfänglich für „Enthüllungs“-Geschichten aller Art: Das Interesse etwa an Magazinen, die über Vorgänge in Adelshäusern berichten, oder auch an Korruptionsskandalen etc. zeugt davon. Dieses Bedürfnis wird von Bohlen geschickt angesprochen.

Die „Kritik“ an den von ihm enthüllten Praktiken der Kulturindustrie ist jedoch letztlich eine Pseudokritik, denn er macht ja im ganzen Buch – wie oben geschildert – deutlich, dass er in keiner Weise dazu aufrufen will, mit den Zwängen von Markt und Konkurrenz zu brechen. Seine „Kritik“ läuft also nur darauf hinaus, sich zynisch mit dem Bestehenden abzufinden – nach dem Motto: die Welt ist nun einmal so. „Unter den Motiven der Kulturkritik ist von Alters her zentral das der Lüge: dass Kultur eine menschenwürdige Gesellschaft vortäuscht, die nicht existiert ... Aber gerade dieser Gedanke, gleich allem Wettern über die Lüge, hat eine verdächtige Neigung, selber zur Ideologie zu werden ... Zwangshaft reicht der Gedanke an Geld ... bis in die zartesten erotischen ... Beziehungen hinein. Mit der Logik der Konsequenz und dem Pathos der Wahrheit könnte daher die Kulturkritik fordern, dass die Verhältnisse durchaus auf ihren materiellen Ursprung reduziert, rücksichtslos und unverhüllt nach der Interessenlage zwischen den Beteiligten gestaltet werden müssten ...“ (Adorno 1997, Bd. 4, S. 48). Es ist, als hätte Adorno hier die Bohlensche „Kulturkritik“ vorausgeahnt!

Anti-Intellektualismus

Ein eindeutiges Feindbild hat Bohlen auch noch zu bieten: Intellektuelle, insbesondere weibliche Intellektuelle. Die Sängerin Marianne Rosenberg beispielsweise stellt er sich vor als „kleines, zartes, zerbrechliches, devotes Frauchen...“ (Bohlen 2003, S. 80) und wird enttäuscht: „Von zart und klein und schmusig nicht die Spur. Sie war voll extrem und kommunistisch und biesterig drauf.“ (ebd.). Der WDR will einfach nicht seine „Tatort“-Titelmelodie haben, denn: „Bei ihnen musste alles intellektuell und vergeistigt sein. Erst wenn‘s keine Kohle und keine Quote brachte, war’s richtig gut.“ (ebd., S. 112) Eher nach seinem Geschmack ist Naddel: „Sie hatte so eine beschwingte Oberflächlichkeit, die das Hirn entspannte. Sie stand für das Leichtsein des Denkens.“ (ebd., S.139) . Mit Sabrina Setlur hingegen klappt es nicht, denn Bohlen hatte in seinem Leben „schon genug Stress mit komplizierten Damen.“ (ebd., S. 169) Schließlich macht er aus seinem Intellektuellenhass auch noch eine Lebensmaxime: „Sprich nicht zu viel von deinen Sehnsüchten. Das sind die Träumer und Spinner in unserer Gesellschaft, die dich pausenlos zudröhnen, was sie alles erreichen wollen, und wenn du sie fragst, was sie dafür tun, kriegen sie das große Stottern. Worte bringen nichts, nur Taten entscheiden.“ (ebd., S. 302) . Hinzu kommt seine betont unkultivierte Ausdrucksweise.

Auch mit dieser Denkfeindlichkeit ist er mit dem neoliberalen Zeitgeist absolut kompatibel: Wo alle Lebensbereiche ökonomischen „Sachzwängen“ unterworfen werden sollen, ist eben kein Platz für gründliches Abwägen verschiedener Möglichkeiten und eine ausführliche Diskussion, da muss es schnell gehen, da wird gehetzt gegen die „Bedenkenträger“, die alles „zerreden“ wollen. Warum ist diese Haltung für breite Massen attraktiv? Es könnte sein, dass unbewusst der Herrschaftscharakter von Bildung und Kultiviertheit unter klassengesellschaftlichen Bedingungen gespürt wird. Laut Pierre Bourdieu spielen ja Bildung, Kunstgeschmack, gute Manieren etc., all das, was er als „kulturelles Kapital“ bezeichnet, eine wesentliche Rolle bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Herrschaft wird dadurch legitimiert, dass die einen (die Herrschenden, die die Macht haben, kulturelle Standards zu definieren) eben einen „guten“ Geschmack haben und die anderen nicht; daher eventuell der Groll breiter Massen gegen Intellektuelle und der Anklang, den Bohlen mit seiner demonstrativen Unkultiviertheit findet. „Der Arbeiter zieht die Unbildung der Scheinbildung, die er gefühlsmäßig als solche durchschaut, konsequent vor.“ (Kofler 1967, S. 237) – unter „Scheinbildung“ versteht Kofler hier das Anhäufen von totem Wissen, das nicht der kritischen Durchdringung der herrschenden Verhältnisse dient, sondern lediglich der Erhöhung des Prestiges – Bourdieu würde hier wohl von Distinktionspraktiken sprechen.

Dennoch Anknüpfungspunkte für die Linke?

Kommen wir nun zu unserer Ausgangsfrage zurück: Lässt sich – bezogen auf das Beispiel Dieter Bohlen – am Ansatz Gramscis festhalten, dass in der populären Literatur Anknüpfungspunkte für progressive Politik zu finden seien, oder ist eher die pessimistische Bewertung der „Kulturindustrie“ durch die Kritische Theorie plausibel? Sicherlich kann man sich als gesellschaftskritischer Mensch über den Erfolg von Bohlens Buch nicht gerade freuen; dennoch lässt sich zumindest ein wichtiger Ansatzpunkt für linke Politik finden: das Versprechen individueller Selbstbestimmung.

Wir haben oben festgestellt, dass Bohlen neben materiellem Wohlstand auch ein Leben verspricht, in dem man sich nichts mehr vorschreiben lassen muss. Wir haben ebenfalls festgestellt, dass auch die neoliberale Umstrukturierung der Betriebe mit einer gewissen Erweiterung der Selbstbestimmung der Arbeiter über den Arbeitsprozess verbunden ist sowie – im Konzept des „Arbeitskraftunternehmers“ – mit einer ideologischen Aufwertung der Individualität der Beschäftigten. Wir sagten außerdem, dass diese neue Freiheit unter kapitalistischen Bedingungen schnell an die Grenze der Marktgegebenheiten stößt. Es wäre für eine linke Politik unter heutigen Bedingungen also recht naheliegend, an diesem Widerspruch anzusetzen, ihn aufzuzeigen und das Freiheitsversprechen gegen den Kapitalismus zu wenden. Dies setzt jedoch eine teilweise Änderung linker Positionen und eine gründliche Auseinandersetzung mit der sozialistischen Vergangenheit voraus.

Mit dieser Vergangenheit und dem von ihr vermittelten Bild hat es wahrscheinlich zu tun, dass viele Menschen heute mit „Sozialismus“ keine Gesellschaft assoziieren, die die Selbstbestimmung über das eigene Leben erweitert und eine Vielzahl von Lebensentwürfen erlaubt. Der untergegangene Realsozialismus war vielmehr eine Gesellschaft der Ausgrenzung von abweichendem Verhalten. Die Wurzeln dafür reichen bis in die Anfänge des Realsozialismus zurück.[2] Marginalisiert blieben in der marxistischen Diskussion hingegen Positionen wie die von Karl Korsch: „Und schon vom ersten Tage an wird diese echte proletarische Diktatur sich von allen unechten Nachahmungen dadurch unterscheiden, dass sie nicht nur ‚für alle‘, sondern auch für ‚jeden einzelnen‘ Arbeiter die Voraussetzungen für eine solche geistige Freiheit schafft, wie sie für die physisch und geistig unterdrückten Lohnsklaven in der bürgerlichen Klassengesellschaft ... in Wirklichkeit niemals und nirgends vorhanden gewesen ist.“ (Korsch 1966, S. 72).[3]

Die Autobiographie Dieter Bohlens ist Ausdruck eines spezifischen Widerspruchs im neoliberalen Kapitalismus, der darin besteht, dass er ein Freiheitsversprechen enthält und zugleich dadurch konterkariert, dass er es einer kapitalistischen Verwertungslogik unterwirft. Ein reformuliertes linkes Politikkonzept darf einerseits nicht in solche Kollektivismen zurückfallen, die mit dazu beigetragen haben, den Sozialismus des 20. Jahrhunderts zu diskreditieren. Sie wird sich andererseits absetzen vom neoliberalen Mythos der „Eigenverantwortung“, vom Mythos, „dass es jeder schaffen kann, der will“. Eine linke Literaturkritik in der Tradition Antonio Gramscis müsste folglich den Anspruch auf Selbstbestimmung und das Recht auf Differenz und Abweichung in Erzeugnissen der Kulturindustrie – wie Dieter Bohlen es in seinem Buch aufgreift, pervertiert und dadurch unwirksam macht – aufnehmen und gegen die ideologische Strategie der Einpassung in einen Konformismus des Marktes wenden. Dass der Neoliberalismus auf inszenierte Individualität angewiesen ist, ist zugleich seine ideologische Schwäche, die die linke Kritik nutzen kann und soll.

Literatur

Abendroth, Wolfgang: Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung. Frankfurt 1965, S. 126-156.

Adorno, Theodor W.: Kind mit dem Bade. In: Ders., Gesammelte Schriften Band 4, Frankfurt/M.: 1997, S. 48-49.

Adorno, Theodor W.: Resümee über Kulturindustrie. In: Ders., Gesammelte Schriften Band 10.1, S. 337-346.

Adorno, Theodor W.: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? In: Ders., Gesammelte Schriften Band 10.2, S. 555-573.

Bohlen, Dieter (mit Katja Kessler): Nichts als die Wahrheit, München 2003.

Bröckling, Ulrich: Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selfmanagement. In: Ders./Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas(Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Selbstökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/M. 2000, S. 131-167.

Bucharin, N.: Ökonomik der Transformationsperiode. Mit Randbemerkungen von Lenin. Berlin 1990.

Ertl, Eric: Alle Macht den Räten? Frankfurt/M. 1968, S. 33-57.

Glissmann, Wilfried/Peters, Klaus: Mehr Druck durch mehr Freiheit. Die neue Autonomie in der Arbeit und ihre paradoxen Folgen. Hamburg 2001.

Gramsci, Antonio: Gefängnishefte in 10 Bänden, herausgegeben von Wolfgang Fritz Haug u.a., Berlin 1991ff.

Kofler, Leo: Der asketische Eros. Wien 1967.

Korsch, Karl: Marxismus und Philosophie. Frankfurt/M. 1966.

Kühnl, Reinhard: Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten. Fünfte Auflage, Köln: 1980.

Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Berlin und Neuwied 1968.

Marx, Karl: Zur Judenfrage. In: Ders., Studienausgabe Band 1. Frankfurt/M. 1996, S. 34-62.

Meyer, Gert: Stalinismus. Politische Entscheidungen in der Sowjetunion Ende der zwanziger Jahre. In: Schlimmer als die Nazis? Das „Schwarzbuch des Kommunismus“, die neue Totalitarismusdebatte und der Geschichtsrevisionismus. Köln 1999.

[1] Hier gibt es eine deutliche Nähe etwa zur Position von Leo Kofler: „Es ist noch immer ein weitverbreiteter Irrtum, dass volkstümliche Literatur flach und kindlich ... sein müsse.“ (Kofler 1967, S. 297). Dies ist im breiteren Kontext einer Auseinandersetzung der 30er Jahre um die Frage zu sehen, wie man sich vom reaktionären Begriff von Volkstümlichkeit abgrenzen könne, den der Faschismus vertrat und der darauf abzielte, die bestehende geistige Unmündigkeit breiter Massen zu erhalten und zu verfestigen: „Jede Propaganda hat volkstümlich zu sein ... Damit wird ihre rein geistige Höhe um so tiefer zu stellen sein, je größer die zu erfassende Menge der Menschen sein soll...“ (Adolf Hitler, Mein Kampf; zitiert nach: Kühnl 1980, S. 111).

[2] Schon früh gab es bei führenden Bolschewiki erziehungsdiktatorische Positionen, die darauf abzielten, alle Menschen nach einem vorgefertigten Idealbild zu modeln. So schrieb etwa Bucharin 1920: „Von einem breiteren Standpunkt aus ... bildet der proletarische Zwang in allen seinen Formen, angefangen mit Erschießungen bis zur Arbeitspflicht, eine ... Methode der Bildung einer neuen, kommunistischen Menschheit aus dem Menschenmaterial der kapitalistischen Epoche.“ (Bucharin 1990, S. 233). Lenin stimmt dieser Stelle in seinen Randbemerkungen ausdrücklich zu. Stalin machte dann Ernst mit derartigen Positionen. Gert Meyer fasst in seiner Stalinismus-Studie zusammen: „Der neue Sozialismus ist eine durchorganisierte, durchkontrollierte und sozial disziplinierte Gesellschaft und wird durch Klassen- und Schichtenblöcke mit festen sozialen Konturen aufgebaut – Arbeiterklasse, Angestellte, Kolchosbauern. Personen, die nicht in diese festen Raster hineinpassen, haben in dem neuen System keinen Platz. (So finden sich unter den Opfern des Stalinismus – etwa bei der ‚Säuberung der Städte‘ 1933 – zahlreiche Vagabunden, Bettler, Menschen ohne Pass, Papiere, Lebensmittelkarten oder festen Wohnsitz, Stadtstreicher, Wanderarbeiter, ‚deklassierte Elemente‘, Zigeuner, Wandermönche).“ (Meyer 1999, S. 66).

[3] Was die Selbstbestimmung der arbeitenden Menschen über den Produktionsprozess angeht, so gingen rätedemokratische Ansätze in Sowjetrussland schnell unter und machten einer Planung durch administrativen Befehl Platz; unter Stalin wurden die letzten Reste gewerkschaftlicher Mitbestimmungsrechte, die der Lenin der NÖP-Phase noch vorgesehen hatte, beseitigt: „Bis zur Entstehung des ersten 5-Jahres-Planes konnte die Belegschaft immer noch massiven Druck auf die Betriebsleitung ausüben, auch das Streikrecht war als letztes Kampfmittel zum Schutz gegen bürokratische Auswüchse gewährleistet und wurde auch häufig angewandt ... Das änderte sich erst 1928/29 ... Von jetzt an war die Hauptaufgabe der Gewerkschaften nicht mehr die Vertretung der Sonderinteressen der Produzenten, sondern die Steigerung von Produktion und Produktivität ... Die Entscheidung über die Arbeitsbedingungen und die Einstellung von Arbeitern fiel völlig an die Unternehmensleitung.“ (Ertl 1968, S. 51) . „Das Arbeitsrecht war in ein System nahezu militärischer Unterordnung umgewandelt worden; es herrschte unnachsichtige Reglementierung. Die Situation der Arbeiter ... unterschied sich nur graduell von der in den Zwangsarbeitslagern.“ (Abendroth 1965, S. 128).