Editorial

März 2007

In seiner Geschichte der Französischen Revolution zitiert Kropotkin im zweiten Band Condorcet mit der Feststellung, die tatsächliche Gleichheit sei „das letzte Ziel der sozialen Kunst“, da „die Ungleichheit der Vermögen, die Ungleichheit des Standes und die Ungleichheit des Unterrichts die Hauptursache aller Übel sind“. Wie provokativ dieser Gedanke nach wie vor ist, ließen die Reaktionen auf das Buchmanuskript von Luciano Canfora „Eine kurze Geschichte der Demokratie“ erkennen, das der Beck-Verlag zu drucken sich weigerte. Es verstößt gegen den Grundkonsens der „euro-atlantischen Demokratien“, wer heute die Geschichte der Demokratie mit den Eigentums- und Klassenverhältnissen in Verbindung bringt und zugleich zeigt, dass die bürgerlich-parlamentarischen Demokratien als Herrschaft von Minderheiten oder Eliten große Teile der Menschen direkt oder indirekt von der realen Ausübung von Macht ausschließen. Um diesen Zusammenhang geht es in demokratietheoretischen und -historischen Beiträgen des vorliegenden Heftes sowie aktuellen Untersuchungen zu Machtkonzentration, sozialer Polarisierung, Elitenherrschaft und Demokratieeinschränkung in der Bundesrepublik und der Europäischen Union.

Luciano Canforas Beitrag zur Demokratietheorie stellt Uwe-Jens Heuer vor. Canfora bricht mit der langdauernden Tradition, die Demokratie mit Mehrheitsherrschaft gleichsetzt und die demokratischen Vorbilder in der Antike sucht (wie noch im Entwurf der gescheiterten EU-Verfassung). Maßstäbe setzen die französische und die russische Revolution mit der Thematisierung der Eigentumsfrage; das Verhältnis zur Sklaverei ist ein Prüfstein. Hier werden unterschiedliche Traditionslinien in Frankreich einerseits, England und den Vereinigten Staaten andererseits begründet. Dies gibt Anlass zur Polemik mit jenen Theoretikern, die in der Tradition des Liberalismus den Zusammenhang von Demokratie und sozialer Frage auflösen – wie etwa Hannah Arendt, Furet/Richet u.a. Als ein zentrales Problem der marxistischen Demokratieauffassung diskutiert Heuer das Marxsche Kommune-Konzept („neue Ordnung ohne Staatsmaschine“) und dessen Aufnahme („April-Thesen“) sowie spätere Modifikation bei Lenin und im Realsozialismus, in dem der Staat zur zentralen Antriebskraft wurde. Heuer nimmt den Lukacschen Vorschlag auf, nicht in der Alternative von „Demokratie und Diktatur“ zu denken, sondern die Suche nach Tendenzen und Triebkräften von Demokratisierung in den Mittelpunkt zu rücken. In einer kurzen historischen Betrachtung über Eliten und Demokratie in der athenischen Gesellschaft kommt Luciano Canfora selbst zu Wort.

In der Bundesrepublik konstatiert Joachim Bischoff vor dem Hintergrund von hoher Arbeitslosigkeit und verfestigter Armut eine zunehmende Entfremdung zwischen demokratischer Willensbildung und ökonomisch-sozialen Verhältnissen, die sich in rückläufigen Mitgliederzahlen der Parteien, geringerer Wahlbeteiligung und Ansehensverlust der Politik, besonders aber in einem Anwachsen eines rechtspopulistischen Potentials ausdrückt. Die Ursachen sind in den Wirkungen der neoliberalen Politik zu suchen. Der Autor warnt die politische Linke vor einer Unterschätzung dieser Tendenz und plädiert für eine Politik, die der Verschiebung der Verteilungsverhältnisse entgegenwirkt.

Wem gehört die EU? – fragt H. J. Krysmanski. Er konstatiert eine wachsende Vermögenskonzentration in den Händen einer reichen Minderheit, die er als ein komplexes Netzwerk teils kooperierender, teils konkurrierender Eliten mit dem Oberbegriff „Geldmachtapparat“ kennzeichnet. Der europäische Integrationsprozess hat zu neuen Dimensionen im Konzentrationsprozess der Industrie- und Bankenkonzerne geführt, der mit einem wachsenden demokratischen Defizit in der EU verbunden ist. So die Analyse von Gretchen Binus. Anknüpfend an Reformkonzepte wie das der Europäischen Memorandums-Gruppe entwickelt sie eine langfristig angelegte Strategie einer Wirtschaftsdemokratie, um weiteren Sozialabbau zu verhindern und Chancen für ein soziales Europa zu eröffnen. Dem steht auch der – bisher gescheiterte, doch unter der deutschen Ratspräsidentschaft wieder angestrebte – europäische Verfassungsprozess entgegen. Gregor Schirmer sieht die Gefahr, dass die wesentlichen Punkte des Verfassungsvertrags nun unter dem Etikett eines aktualisierten EU-Vertrags durchgesetzt werden könnten. Er fordert eine Umarbeitung des Vertrages, die die Wirtschaftsverfassung den Mitgliedstaaten gegenüber offenhält und das Demokratiedefizit in der EU aufhebt.

Um das Verhältnis von Demokratie und Sozialismus in Vergangenheit und Zukunft geht es in Beiträgen von Gottfried Stiehler, Joachim Tesch und Harry Nick. Von besonderem Interesse ist hier die Kritik von Tesch und Nick an Vorstellungen des Übergang von einer monetären in eine rein arbeitszeitbasierte Ökonomie und einen reinen Äquivalenztausch mit Hilfe der modernen Informationstechnologien, wie sie u.a. in Sozialismus-Konzeptionen von Cockshott/Cottrell und Dieterich vertreten werden. Beide Autoren gehen in ihrer Kritik davon aus, dass die Ware-Geld-Beziehung auf lange Sicht nicht ersetzbar sein wird.

Unter „weitere Beiträge“ gibt Margarete Tjaden-Steinhauer eine gesellschaftsgeschichtliche Analyse der Institutionen Ehe und Prostitution. Thomas Wagner berichtet über die Untersuchungen von Georg Knepler – sonst meist nur als Musikwissenschaftler bekannt – über herrschaftslose Gesellschaften. Die Lateinamerika-Studien in Z setzt Matthias Weill mit einer aktuellen Analyse der Wirtschaftspolitik der Regierung Lula fort. Emmerich Nyikos schlägt in einem Essay vor, der Irrationalität des neoliberalen Kapitalismus mit einer organisierten Wiederbelebung des kritischen Denkens zu antworten. Leonie Knebel und Ingar Solty informieren über die Jahreskonferenz der Zeitschrift Historical Materialism. Dem schließen sich Berichte von einigen Tagungen der Linken im letzten Quartal sowie Besprechungen aktueller Neuerscheinungen an.

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Diesem Heft liegt ein Prospekt für die Tagung „Marxismus für das 21. Jahrhundert“ am 20.-22. April 2007 in Berlin bei. Z gehört zu den Mitorganisatoren und veranstaltet dort zusammen mit der Heinz-Jung-Stiftung einen workshop. Wer kann, sollte an der Tagung teilnehmen und sich rasch anmelden.

Vorschau: Z 70 (Juni 2007) wird Fragen von Kultur und Intellektuellen behandeln.