Alternativen der Opposition/ Organisationsfragen der Linken

Im Rausch der Exportüberschüsse – die deutsche Glaubenslehre gefährdet Europa

März 2006

Der Staatspräsident Frankreichs, Jacques Chirac, hat in seiner Neujahrsansprache eine Erhöhung der Mehrwertssteuer abgelehnt und eine Wertschöpfungskomponente zur Finanzierung der Sozialabgaben vorgeschlagen. Er hat damit die deutsche Sozialdemokratie links überholt und die richtigen Worte zum konjunkturpolitischen Anschlag der großen Koalition gefunden.

Scheinbar traut er der Lohnpolitik nicht mehr zu, die Kopplung der Sozialabgaben an die steigende Wirtschaftskraft zu bewältigen. Wichtiger aber ist, er ist Präsident der anderen großen rheinischen Volkswirtschaft in Europa, welche vor ähnlichen Problemen steht wie Deutschland. Das rheinische Modell kann ohne eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik nicht überleben. Der Präsident Frankreichs hat durch den Rückgriff auf die Wertschöpfungskomponente dieses Problem nicht gelöst, aber er hat es zumindest erkannt.

Der Mythos zu hoher Lohnnebenkosten und die Kapitaldeckung der Sozialversicherung waren der Ausgangspunkt der beabsichtigten Transformation Deutschlands in eine angelsächsische Finanzmarktökonomie ohne jegliche keynesianische Impulse.

Der wichtigste Beitrag der Linken im Deutschen Bundestag besteht in einer Renaissance der (europäischen) Aufklärung. Der wahlpolitische Auftrieb der Linken hängt eng mit einer richtigen Intuition zusammen: Die Menschen sind nicht länger bereit, ihre soziale Enteignung hinzunehmen, wenn die versprochene wirtschaftliche Dynamik ausbleibt.

Eine Partei muss im Unterschied zu sozialen Bewegungen im parlamentarischen System wirken, sonst ist sie als Partei überflüssig. Eine Festlegung auf die Oppositionsrolle kann die angestrebten Ziele genauso wenig verwirklichen wie dies, etwa in Berlin, der Beteiligung an der Landesregierung angelastet wird. Hierfür gilt es den Unmut der Arbeitnehmer/innen jedoch viel stärker medial zu nutzen, wie es die neoliberalen Eliten mit den Arbeitgebern regelmäßig praktizieren. Sonst bleibt Regierungshandeln machtlos. Soziale Bewegungen und die Linksfraktion müssen sich als Zwillinge begreifen, ersetzen können sie sich nicht. Eine andere Politik ist daher nur mit der Unterstützung eines bedeutenden Teils der Bevölkerung möglich. Wir erhoffen uns Anregungen von den sozialen Bewegungen, wie wir eine sinnvolle Kooperation, etwa durch Kampagnen, intensivieren können.

Seit drei Jahrzehnten versuchen die dominanten Volkswirtschaften mit wechselnden regionalen Schwerpunkten die Krise ihre Industrie durch Lohndumping zu kurieren. Fallen die Löhne hinter die Entwicklung der Produktivität zurück, mangelt es für die zusätzlich produzierten Güter und Dienstleistungen an kaufkräftiger Nachfrage. Dies erschwert den Strukturwandel in hochwertige Dienstleistungen. Die einzige Exit-Option ist dann der Gewinn von Marktanteilen im Export. Wächst die Arbeitsproduktivität schneller als das Inlandsprodukt bzw. die Einkommen der Volkswirtschaft, entsteht Arbeitslosigkeit.

Die verheerende Lohnentwicklung wurde durch eine restriktive Geldpolitik, eine prozyklische Finanzpolitik sowie die Deregulierung der Arbeitsmärkte verstärkt. Deutschland ist gegenwärtig die einzige große Volkswirtschaft, die alle drei Wege in die Stagnation vereint.

Der Finanzpolitik kommt bei der Überwindung dieser Entwicklung eine herausragende Rolle zu. Ein Blick nach Großbritannien oder in die USA genügt. Diese Länder haben trotz deregulierter Arbeitsmärkte und schwacher Gewerkschaften eine bessere Lohnentwicklung. Dies lässt sich nur auf die expansive Rolle der Finanzpolitik zurückführen. Die angelsächsische Variante vereint eine geringe Besteuerung von Kapital mit einer expansiven Geld- und Finanzpolitik. Dies erfordert eine Verschuldung von privaten Haushalten. Die skandinavischen Staaten hingegen lösen dieses Problem über eine höhere Steuerquote.

Nach der Volcker-Rezession in den USA Anfang der 1980er Jahre und den Erfahrungen der japanischen Deflation der 1990er Jahre operiert nun Deutschland am schlagenden Herzen seiner Volkswirtschaft: Die Lohnstückkosten, die die Lohnhöhe in Beziehung zur Produktivität setzen, sind im Verhältnis zu den anderen Volkswirtschaften rapide gesunken.

Den Gewerkschaften wird es bei hoher und anhaltender Arbeitslosigkeit unmöglich, angemessene Lohnsteigerungen durchzusetzen. Die Wachstumsdynamik lässt sich in dieser Situation nicht ohne eine antizyklische Finanzpolitik anregen. Dies umso mehr, als die europäische Geldpolitik – nach dem Vorbild der deutschen Bundesbank – die Investitionen bzw. den Konsum nicht unterstützt. Die spanische Volkswirtschaft etwa besorgt dem heimischen Kreditwesen durch eine stärkere lohnpolitische Inflationierung niedrigere Realzinsen. Sie ist ein Wachstumsstar in Europa.

Die politischen Eliten des Landes, etwa der Bundeswirtschaftsminister, fangen an, die Lebenslüge zu hoher deutscher Löhne rechtzeitig zur Fußballweltmeisterschaft nach Jahren der Exportweltmeisterschaft öffentlich zu hinterfragen. Die lohnpolitische Deflationstendenz der deutschen Volkswirtschaft, die auch im Falle einer leichten Belebung der Konjunktur durch den weltwirtschaftlichen Auftrieb in 2006 fortbestehen wird, bleibt freilich unangetastet.

Mit der Vermeidung zusätzlicher Sparrunden im laufenden Haushaltsjahr und einem anschließenden Abwürgen der Konjunktur durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer bzw. der Einhaltung der Maastrichtkriterien zur Begrenzung der kurzfristigen Kreditaufnahme entsteht kein expansiver Impuls. Ein zentrales Projekt der Linksfraktion muss daher die wachstumspolitische Neuinterpretation des Stabilitätspaktes (SWP) sein. Wieso nicht einmal über eine angemessene Steuerquote als Kriterium diskutieren? Keynesianischer Fiskalpolitik wurde oft vorgeworfen, dass der Wille gefehlt habe, im Aufschwung einen Puffer zu bilden. Mit einer Mindestbesteuerung von Unternehmen ließe sich Steuerdumping und nachhaltige Haushaltspolitik verbinden. Die Finanzpolitik neoliberaler Provenance ist extrem unsolide, da sie vorgibt, mit Steuersenkungen die Nachfrage zu beleben. Dies scheitert nicht nur an der Umverteilung zu Gunsten von Kapital-, Gewinn- und Spitzeneinkommen, sondern erzeugt bestenfalls ein konjunkturelles Strohfeuer mit langfristigen Einnahmeausfällen. Daher ist auch die Stoßrichtung der geplanten Reform der Unternehmensbesteuerung abzulehnen. Die deutsche Steuerquote (exklusive Abgaben) ist eine der niedrigsten in der Europäischen Union und wird nur durch kleine Volkswirtschaften wie Griechenland oder die Slowakei unterboten.

Der Erfolg der Clinton-Administration, die mit einer enorm hohen struktureller Verschuldung in den Zyklus startete und schließlich Überschüsse erwirtschaftete, zeigt, dass die Verringerung der Schuldenlast über den Zyklus hinweg funktioniert, während die vermeintliche Sparwut und starre Ausrichtung an Haushaltsjahren nicht die selbst erklärten Ziele erreicht. Eine vernünftige Fiskalpolitik ist mit der einheitlichen Währung erleichtert worden, da Wechselkurseffekte für den größtenteils intraeuropäischen Handel ausbleiben. Der Rezessionsfaktor im SWP ist jedenfalls nicht hinreichend, da immer erst verspätet auf eine konjunkturelle Krise reagiert werden kann. Eine kontrollierte Aufwertung des Euro wäre im Übrigen weltwirtschaftlich erforderlich, um die Risiken eines unkontrollierten Dollarcrashs einzuhegen. Lafontaine hat diese wichtige Voraussetzung für eine Korrektur der deutschen und europäischen Wirtschaftspolitik 1998 durch die Diskussion von Wechselkurszielzonen aufgegriffen.

Deutschland braucht eine expansive Lohnpolitik. Sonst droht unseren europäischen Partnerländern das Schicksal Ostdeutschlands im Zuge der deutschen Währungsunion: Die Wettbewerbsnachteile unserer Partnerländer können nicht mehr durch Abwertung ausgeglichen werden. Seit 1996 ist der deutsche Zug in puncto Lohnzurückhaltung immer wieder davon geeilt, obwohl sich selbst der „portugiesische Anhalter“ dem von Deutschland vertretenen Inflationsziel genähert hat. Wir zwingen damit unsere importierenden Handelspartner, sich gegenüber Deutschland zu verschulden, ohne durch Exportüberschüsse jemals eigene Mittel erwirtschaften zu können. Es bleibt eine von Deutschland bzw. insbesondere den Lohn- und Gehaltsempfängern finanzierte Transferunion, um die Nachfrage nach unseren Waren aufrechtzuerhalten.

Darüber hinaus ist ein mittelfristiges Zukunftsinvestitionsprogramm erforderlich, um einen sozial-ökologischen und wissensbasierten Strukturwandel einzuleiten. Die Erfahrungen seit Mitte der 1970er Jahre bestätigen die keynesianische Einsicht, dass eine nachlassende binnenwirtschaftliche Investitionsneigung des Unternehmenssektors langfristig durch (dezentrale) öffentliche Investitionen kompensiert werden muss.

Weitere Initiativen unserer Fraktion sind darauf gerichtet, die Versprechen der vergangenen und gegenwärtigen Regierung einzufordern. Wir werden Rot-Grün auch nach dem Ende des gescheiterten Projekts nicht aus der Pflicht nehmen: Die ökonomische Elite Deutschlands bezieht laut einer aktuellen Studie des DIW einen höheren Anteil ihres Einkommens aus Vermögenseinkünften als die Eliten der USA und Frankreichs. Dies hat u.a. mit der im internationalen Vergleich kläglichen Besteuerung von Vermögen (bereits vor Aussetzung der Steuer) in Deutschland zu tun. Nicht anders verhält es sich mit der Erbschaftsteuer, die aus denselben Gründen reformiert werden muss. Die Bundesregierung scheint wieder einer Aussetzung durch das Bundesverfassungsgericht mutwillig Vorschub zu leisten.

Wir werden mit einer Reform des Investmentmodernisierungsgesetzes im Hinblick auf die Aktivitäten von Hedge-Fonds und die Beurteilung von Private Equity Kapital eine fraktionsübergreifende Initiative zum Verbot von Leerverkäufen u.a. Hedging-Aktivitäten starten, da die „schwarzen Löchern unseres Finanzsystems“ (Bafin-Präsident Sanio) und die Transformation in die „Deutschland AG“ ungeahnte Risiken bereithält.

Die Entwicklung dieses Landes, die sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen wurden den Interessen der Exportwirtschaft geopfert. Die deutsche und die französische Linke haben eine besondere Verantwortung, dass Europa umkehrt. Der skandinavische Weg wäre ein Anfang. Wir werden versuchen dieser Verantwortung im Deutschen Bundestag gerecht zu werden.

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Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 15.01.2006