Armut - Reichtum - Gesundheit

Brennpunkte des Gesundheitswesens

Dezember 2005

Aus dem komplexen, sehr dynamischen Gesundheitssystem der nach Bevölkerung und Wirtschaft größten Nation in Europa sollen im folgenden fünf „Brennpunkte“ markiert werden: Die Eigentumsveränderungen im Krankenhaus- und Pflegebereich, die Stellung der Krankenkassen, der Gesundheitsschutz in den Betrieben und Einrichtungen, die hausärztliche Betreuung sowie die Rolle der Polikliniken bzw. der Medizinischen Versorgungszentren.[1][1]

1.

Marx und Engels formulierten vor mehr als 150 Jahren als politisches Ziel die „Expropriation der Expropriateure“ und begründeten in ihren sozialökonomischen Studien folgerichtig die Eigentumsfrage als einen „Schlüssel“ zum Verständnis gesellschaftlicher Prozesse. Die Beantwortung der Frage, wem die verschiedenen Elemente des Gesundheitswesens in Deutschland gehören, ist nur überblicksartig und aktuell nicht treffsicher möglich, da die Analysen dürftig und vage sind[2][2] und zur Zeit ein umfassender Eigentümerwechsel stattfindet. Fünf Eigentumssektoren sind zu beachten:

- der private Sektor

- der der Allgemeinheit gehörende staatliche Sektor,

- der genossenschaftliche Sektor,

- der Sektor der Gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Renten- Versicherungen sowie

- der Sektor der konfessionellen und freigemeinnützigen Träger.

Seit jeher klar sind die bundesdeutschen Besitzverhältnisse der Pharma- und Medizintechnik-Konzerne, ebenso des Großhandels, der Privaten Krankenversicherungen, der Berufsgenossenschaften/Unfallkassen mit ihren Kliniken und Reha-Einrichtungen, der Apotheken, der Dentallabore, der Physiotherapie-Praxen, vieler Sozial- und ambulanter Krankenpflege-Stationen und der Praxen von niedergelassenen Ärzten, Zahnärzten und Psychologen. Sie sind reiner Privatbesitz, Einzelner oder von Gruppen.

Genossenschaftliches Eigentum spielt im gegenwärtigen deutschen Gesundheitswesen keine Rolle. Die gesetzlichen Kranken- und Pflege-Versicherungen einschließlich ihrer Reha-Einrichtungen und des MDK nehmen ebenso wie die gesetzlichen Rentenkassen mit ihren Reha- Kliniken sowohl ökonomisch als auch juristisch einen Sonderstatus ein, einerseits sind sie Finanz-Institute, anderseits nicht profitorientiert, allerhöchstens kapitalaufstockend nach innen. Einen ähnlichen Zwitterstatus wie die Gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen haben die Kliniken, Pflege- und Rehabilitations-Einrichtungen sowie Notfalldienste der konfessionellen Träger (insbesondere Caritas, Diakonie, Jüdische Gemeinde, Freikirchen) und der Verbände und Vereinigungen (Deutsches Rotes Kreuz, Johanniter, Malteser, Arbeiter-Samariter, Volkssolidarität u.a.); sie arbeiten einnahmen- und ausgabenneutral. Gegenwärtig gibt es noch einen großen Anteil staatlichen Eigentums im stationären Bereich und bei den Senioren- und Pflegeheimen.

Auf den drei staatlichen Ebenen ergibt sich folgendes Bild: Bundeseigentum sind die medizinischen Einrichtungen der Bundeswehr, der Bundespolizei und im Zoll sowie wenige Institute (z.B. Robert Koch-Institut). Länder-Eigentum sind die Universitätsklinika, einige Landeskliniken für Psychiatrie und Neurologie sowie medizinische Einrichtungen der Polizei und der Justiz.

Die Landesregierung Hessens begann 2004 mit der Privatisierung von Universitätsklinika. Marburg und Gießen waren die ersten dieser folgenschweren Infragestellungen der Unabhängigkeit in der akademischen Forschung und Lehre. Großstädte und Landkreise sind noch Eigentümer oder Mehrheitseigener der kommunalen Krankenhäuser und von Pflegeheimen. Hier findet zur Zeit ein radikaler Eigentumswechsel statt. Zur Zeit gibt es 2.200 Kliniken mit 1,1 Millionen Beschäftigten und 512.000 Betten, der „Umsatz“ beträgt 64 Milliarden Euro. Die Kommunen renovieren und rekonstruieren mit Steuergeldern diese Einrichtungen auf den neuesten Stand und „verscherbeln“ sie meistens unter Preis an die bereits vorhandenen medizinischen Konzerne (SRH-AG, Sana-, Humaine-, Asklepios-, Helios-, Rhön- Kliniken AG als Marktführer, Mediclin AG u.a.). Ihnen gehören bereits jetzt Krankenhäuser und Reha-Einrichtungen in einer beträchtlichen Größenordnung von z.B. bundesweit ca. 10 Prozent, in Brandenburg ca. 70 Prozent, in Sachsen 22,1 Prozent, in Bayern 7 Prozent, in Baden-Württemberg 4,5 Prozent aller Betten:

- Rhön Kliniken AG (z.Z. Marktführer mit Hauptaktionär Hypovereinsbank): 34 Klinika in 8 Bundesländern, u.a. Klinikum Frankfurt/O. und Krankenhaus Eisenhüttenstadt[3][3], 2 Prozent aller Betten.

- Helios Kliniken GmbH: 25 Klinika, darunter Erfurt, Wuppertal, Berlin-Buch, Schwerin, 19.000 Mitarbeiter, 9.600 Betten, 330.000 Patienten, 1,1 Mrd. Euro „Umsatz“.

- Mediclin AG: 30 Klinika in 11 Bundesländern.

- Sana Klinika GmbH (Gesellschafter: Deutsche Kranken Versicherung, Allianz, Signal, Continental, Barmenia und weitere 25 private Krankenversicherungen): 35 Kliniken, u.a. Herz-Zentrum Cottbus, Krankenhäuser Königs Wusterhausen und Lübben, 4.400 Betten, 6.400 Mitarbeiter, 166.000 Patienten, 478 Mio. Euro „Umsatz“.

- Asklepios GmbH: 90 Krankenhäuser, darunter alle ehemals städtischen Krankenhäuser Hamburgs[4][4], 33.000 Mitarbeiter, 1,6 Mrd. Euro „Umsatz“.

- SRH AG (Stiftung Rehabilitation Heidelberg, Hauptaktionär ist die Evangelische Kirche): Übernahm das Sanitas-Unternehmen und die Klinika in Gera und Suhl.

Immer mehr Banken reagieren auf die Privatisierung des deutschen Klinik- Marktes. Viele Übernahmen werden von Spezialabteilungen der Geldinstitute begleitet. Die Frankfurter DZ Bank, die Kölner Privatbank Salomon Oppenheim oder die Kieler HSH Nordbank und die Düsseldorfer West LB sind dafür Beispiele. Die Experten beschäftigen sich ausschließlich mit Übernahmen, Börsengängen und Kapitalerhöhungen im Gesundheitswesen, sie konzentrieren sich auf die „Begleitung“ von Kommunen, die eine Klinik veräußern wollen. Sie „helfen“ bei der Wertanalyse, bei der Suche nach potenziellen Käufern, bei der Klärung rechtlicher Fragen und sitzen mit am Verhandlungstisch, wenn über den Preis gesprochen wird. In den Marxistischen Blättern wurde im Juli 2004[5][5] das Milliardengeschäft mit den Pflegebedürftigen deutlich gemacht. Heute gibt es immer weniger Alten- und Pflegeheime in kommunaler Trägerschaft, und der Anteil der freigemeinnützigen Träger schwindet, da sie ebenfalls nicht über das erforderliche Eigenkapital verfügen.

Von derzeit 14 Mio. deutschen Rentnern erhalten zwei Mio. (Pflegestufe I ca. 50 Prozent, Pflegestufe II ca. 35 Prozent, Pflegestufe III ca. 15 Prozent) Leistungen aus der Pflegeversicherung (davon ca. 50 Prozent Geldleistungen, ca. 50 Prozent Sachleistungen). Pflege ist ein lukrativer Markt mit zweistelligen Wachstumsraten pro Jahr. 34 Mrd. Euro werden z.Z. in Deutschland für Pflege ausgegeben. Die Konzerne bringen sich immer deutlicher in Stellung. Die größten dieser Art sind die Marseille-Kliniken AG, Curanum, Pro-Seniore (mit 17.000 Betten z.Z. Marktführer), Kursana der Dussmann- Gruppe und Maternus mit Jahresumsätzen von 100 bis 700 Mio. Euro pro Jahr.

Da der US-Pflegemarkt schon gesättigt ist und Großbanken sowie Fondsfirmen Träger der ganz großen Pflege-Konzerne Sunrise, Beverly, Health South sind, ist mit einer baldigen globalen Expansion auch nach Deutschland zu rechnen. So lange derartige kapitalistische Eigentumsverhältnisse die Basis des deutschen Gesundheitswesens bilden, so lange wird auch ein marktwirtschaftliches, nach Ware-Geld-Beziehungen funktionierendes, Mehrwert erbringendes Gesundheitswesen existieren und umgekehrt. Eine vergleichbare Eigentums-Analyse wissenschaftlicher, kultureller, pädagogischer und sportlicher Einrichtungen würde ebenfalls ein ähnliches Bild der zunehmenden Privatisierung offen legen. Die Selbst-Enteignung des Staates, d.h. die massive Umwandlung des allgemeinen Eigentums in privates Eigentum gefährdet die Demokratie und entzieht dem Gemeinwesen die ökonomische Basis.

Der Aktualität der Eigentumsfrage im Gesundheitswesen entsprach erstmalig und einstimmig der 108. Deutsche Ärztetag in diesem Jahr in Berlin-Neukölln mit seinem „Votum gegen die Privatisierung von Universitätskliniken und Kliniken“[6][6]. Darin wird festgestellt, dass „die profitorientierte private Trägerschaft zu Nötigungen an Ärzte und Pflegende, wichtige medizinische Leistungen vorzuenthalten oder abzubrechen und damit zu höherer Sterblichkeit führt“. Die Globalität der Fragestellung wird auch durch das Referendum in Ungarn über die Aufhebung des Privatisierungsgesetzes zum Gesundheitswesen im Dezember 2004 belegt. Als fruchtbringend erweist sich bei der Analyse und Bewertung der „globalisierten“, „neoliberalen“ Welt von heute auch wieder die Lektüre Lenins[7][7] mit seinem grundsätzlich kritischen Blick gegenüber Monopolen.

2.

Die Krankenversicherungen bilden gegenwärtig ein parasitäres System, es gibt m.E. zu viele Kassen: Zur Zeit existieren etwa 400 gesetzliche und private Krankenkassen. Was das mit Wettbewerb zu tun haben soll, versteht nicht einmal mehr der damalige Gesundheitsminister Seehofer, obwohl er selbst hohen Anteil an dieser Misere hat. Gegenwärtig gibt es bundesweit genauso viel Kassen-Mitarbeiter wie Ärzte; z.B. gibt es im Land Brandenburg 3.200 Haus- und Fachärzte, aber allein die AOK hat 2.400 Mitarbeiter. Es sei daran erinnert, dass die meisten Krankenkassen – da sie nicht gesetzeskonform Insolvenz anmeldeten oder Beiträge erhöhten, sondern bei den Privatbanken enorme Kredite aufnahmen – z.Z. wegen deren Abzahlung mit Zins und Zinseszins trotz erhöhter Einnahmen seit Januar 2004 nicht die Beiträge senken. Die Einnahmesituation der Krankenkassen ist durch Defizite verschiedener Art und falsche Verteilung zunehmend prekär. Im Vergleich zur gegenwärtigen Situation herrschten in der DDR nahezu paradiesische Verhältnisse: Es gab zwei (!) Sozialversicherungen, die der Arbeiter und Angestellten (beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund) und die für die Gewerbetreibenden, Handwerker, Freiberufler, Bauern u.a. Selbstständigen (in der Staatlichen Versicherung). Diese Versicherungen waren sowohl für die Krankenversicherung als auch zugleich für die Rentenversicherung und Unfallversicherung (sowie in den Anfangsjahren auch für die Arbeitslosenversicherung) zuständig. Die Pflichtbeiträge waren über Jahrzehnte stabil. Die größere der beiden Versicherungen, die „SV der Arbeiter und Angestellten“, hatte weniger als 1.700 (!) Mitarbeiter auf dem Territorium der damaligen DDR und Ost-Berlins und war – wie bereits erwähnt – auch für die Renten und Unfälle zuständig.

3.

Der Gesundheitsschutz in den Betrieben hat im hochentwickelten Industriestaat Deutschland eine lange Tradition. Besonders ausgeprägte Entwicklungen erfolgten in der Zeit der Weimarer Republik durch den Einfluss der SPD und KPD sowie der starken Gewerkschaften. In der Zeit der sowjetischen Militärregierung gab es in der SBZ eine nachhaltige Unterstützung dieses Leistungsbereiches, die sich mit der Gründung der DDR fortsetzte. Von Anfang an sahen die vereinigte Arbeiterpartei SED, der „Arbeiter-und Bauern-Staat“ und die Gewerkschaften des FDGB ihre besondere Verantwortung in der Förderung des Betriebsgesundheitswesens und des Arbeits- und Gesundheitsschutzes insgesamt. 1986 stellte der Präsident der Internationalen Vereinigung für Arbeitssoziologie, der US-Amerikaner Elling, eine umfangreiche Analyse vor, die zu folgendem Fazit kam: „In der Sphäre der Verbindung von Arbeits- und Gesundheitsschutz und der primären Gesundheitsfürsorge steht – wenn auch noch viele Probleme vorhanden sind – die DDR an vorderster Stelle unter den untersuchten Ländern (Bundesrepublik Deutschland, DDR, Finnland, Großbritannien, Schweden, USA).“[8][8]

Mit dem Anschluss der Deutschen Demokratischen Republik an die Bundesrepublik Deutschland 1990 trat ein jäher Abbruch der über 20 Jahre anhaltenden progressiven Entwicklung des Gesundheitsschutzes in den Betrieben ein. Die Entindustrialisierung in den Neuen Bundesländern (NBL) und in der Bundeshauptstadt erreichte eine in der Geschichte bisher einmalige Dimension. Die Arbeiterklasse als soziale und politische Kategorie spielt nur noch eine marginale Rolle im rudimentären Produktions- und Reproduktionsprozess dieser Region im Herzen Europas. Dementsprechend fehlen die materiellen und personellen Voraussetzungen für einen Gesundheitsschutz in den Betrieben. Die noch vorhandenen betriebsärztlichen „Reste“ (z.B. im Land Brandenburg nur noch 282 vorwiegend nebenberufliche Betriebsärzte, deren Zahl bis 2008 auf 140 zurückgehen wird) beschäftigen sich vor allem mit den öffentlichen Verwaltungen, Krankenhäusern, Kureinrichtungen und Handelsketten als größten regionalen „Arbeitgebern“ sowie Handwerksbetrieben u.a. Kleinstfirmen und suchen nach ihrer Sinn- und Zweckbestimmung. Es trat auf diesem Gebiet des gesellschaftlichen Lebens in den NBL ein Rückfall in frühkapitalistische Zeiten oder auf das Niveau von Entwicklungsländern ein. In den Alten Bundesländern (ABL) wurde bis vor ca. fünf Jahren ein gutes Niveau, insbesondere des technischen und sozialen Arbeitsschutzes gehalten, obwohl es nicht gelungen war, ein eigenes Arbeitsgesetzbuch mit einem Kapitel Arbeits- und Gesundheitsschutz (wie in der DDR) zu verabschieden; dafür gibt es fünf Sozialgesetzbücher.

Die seit einem Jahrzehnt zunehmende nationale wie globale Wirtschaftskrise verändert auch die Krankheitsstruktur der Hauptproduktivkraft Mensch, den Krankenstand und die Arbeitsunfallhäufigkeit. Gleichzeitig wurden die Möglichkeiten einer qualifizierten medizinischen und sozialen Betreuung reduziert. Außerdem wollen immer weniger junge Ärzte Arbeitsmediziner werden; neben Hausärzten fehlen gerade sie.

Die Entwicklung in der Europäischen Union folgte leider ebenfalls diesem allgemein negativen Trend. Sowohl de jure als auch de facto erfolgte ein Abbau des erreichten Standards zum Arbeits- und Gesundheitsschutz der alten Bundesrepublik. Seitdem 2002 auf Bundesebene das Wirtschafts- und das Arbeitsministerium zusammengefasst wurden, sind die staatlichen Gewerbe- (Aufsichts-) ämter noch zahmer und schwächer geworden.

4.

Das Hausarzt-System gehörte zu den „Markenzeichen“ des DDR-Gesundheitswesens. Die Hausärzte waren Fachärzte für Allgemeinmedizin oder Innere Medizin und waren als Niedergelassene oder vor allem als angestellte Ärzte in staatlichen Einzelpraxen, in Stadt- und Landambulatorien (Praxisgemeinschaften) oder Polikliniken an Krankenhäusern bzw. in städtischen oder betrieblichen Ballungsgebieten tätig. Seit 1961 gab es die dreijährige Facharzt-Spezialisierung Praktischer Arzt und seit 1965 die fünfjährige Spezialisierung zum Facharzt für Allgemeinmedizin. Durch Orientierung der Medizin-Absolventen und Zurverfügungstellung von ausreichenden Spezialisierungs-Verträgen Allgemeinmedizin (alle Ärzte konnten und sollten eine fünfjährige Facharzt- Spezialisierung erhalten) waren 1988 fast die Hälfte aller Ärzte Hausärzte, ein nahezu idealer Zustand, der vergleichsweise nur in skandinavischen Ländern erreicht wurde.

Hervorzuheben ist, dass als alte deutsche Tradition die freie Arztwahl garantiert war, dies im Unterschied zu Primärarzt-Modellen anderer Länder. Der geschäftsführende Arzt der Ärztekammer Hamburg, Klaus-H. Damm, formulierte: „In der alten Bundesrepublik hat es nie eine ausreichende Weiterbildungskapazität für Allgemeinmediziner gegeben. In Ostdeutschland war das früher ein blühendes System mit ausgezeichneter Weiterbildung – man kann es so sagen: Wir haben es versäumt, hier von der DDR zu lernen!“[9][9]

Bedingt durch den akut zunehmenden Hausarztmangel und durch Druck seitens der EU seit 1995, endlich in Deutschland auch für alle praktisch tätigen Ärzte eine Facharztweiterbildung umzusetzen, entschloss sich der Deutsche Ärztetag in Rostock erst im Jahr 2002, dem historischen Beispiel zu folgen und eine fünfjährige Hausarzt-Spezialisierung einzuführen.

Der Ärztemangel ist bundesweit durch steigende Zahlen von Studienabbrechern, durch zunehmende Abwanderung ins Ausland und durch Aufnahme von berufsfremden Tätigkeiten sowie speziell im Osten Deutschlands durch Unterbezahlung bedingt. Nach einer Studie der Bundesärztekammer ist die Mark Brandenburg schon heute das Land mit der geringsten Ärztedichte. Während etwa in der Hansestadt Hamburg 528 Ärzte auf 100.000 Einwohner kommen, sind es im Land Brandenburg gerade mal 285. Der bundesdeutsche Schnitt liegt bei 361 Medizinern. Landesweit sind derzeit 147 Hausarztpraxen nicht besetzt. Außer in der Landeshauptstadt Potsdam und in Cottbus besteht Hausärzte-Mangel. Zusätzlich fehlen landesweit 60 Experten, wie Nerven- und Augenärzte sowie Orthopäden. Insgesamt arbeiten im Land Brandenburg etwa 1.600 Haus- und 1.600 Fachärzte. 27 Prozent von ihnen sind 60 Jahre und älter. In den kommenden vier Jahren wird etwa ein Drittel in Pension gehen. In vielen Teilen des Landes ist es keine Seltenheit, dass bereits heute Patienten 20 Kilometer und mehr bis zum nächsten Arzt fahren müssen, in der Uckermark sind es sogar 60 Kilometer.

Als weitere schwerwiegende Gründe für das Zerreißen des hausärztlichen Versorgungsnetzes sind zu nennen: Jeder Hausarzt hat ständig fünf Limitierungen zu beachten; überschreitet er sie, hat das finanzielle Konsequenzen für ihn:

- Arzneimittel (pro Mitglied der Krankenkasse 36,65 Euro im Vierteljahr);

- Massagen u.a. Physiotherapie (pro Mitglied 4,31 Euro pro Vierteljahr);

- Laboruntersuchungen (pro Mitglied 2,27 Euro pro Vierteljahr);

- Zahl der Patienten pro Quartal (z.Z. 1.200);

- Ärztliche Leistungen am Patienten im Quartal (über sogenannte Punktzahlen, z.Z. werden den Hausärzten nur ca. 80 Prozent vergütet, der Rest ist „über Plan“ und umsonst erbracht).

Für Patienten unbegreifbar, aber leider alltägliche Realität für Ärzte und Krankenschwestern, werden wir aus reinen Abrechnungsgründen (nicht Befund-Dokumentation) mit Bürokratie überschwemmt; ca. 1/3 unserer wöchentlichen Arbeitszeit von 58 Stunden geht dafür verloren. Als Privatperson werde ich per Gesetz auch bei Sterbenden im Notdienst gezwungen, für öffentlich-rechtliche Institutionen (die Krankenkassen) unentgeltlich Geld (10 Euro Gebühr) einzutreiben, ein auch im kapitalistischen Deutschland ein- und erstmaliger Vorgang. Keiner kommt auf die Idee, die LKW-Maut durch Ortspfarrer einnehmen zu lassen. Die Krönung des Ganzen besteht darin, dass man ausgerechnet Ärzte in diesen direkten Kassiererstatus bringt; jede direkte Geldbeziehung zwischen Arzt und Patient ist vertrauens(zer)störend, Ethik und Monetik passen nicht zusammen. Der Präsident der Bundesärztekammer, Dietrich Hoppe, kommentierte diesen Skandal auf dem Außerordentlichen Deutschen Ärztetag: „Die größte Gefahr sehe ich in dem Kulturbruch einer bisher der Humanität verpflichteten Patientenversorgung durch ein immer weiter um sich greifendes Kosten-Nutzen-Denken. Wenn sich dieser Ökonomismus mit Grenznutzenrechnung in der Versorgung kranker Menschen breit macht, dann sind wir auf ethischer Talfahrt.“[10][10]

5.

Eng verbunden mit den genannten Tendenzen ist in Deutschland die Diskussion um Polikliniken „hoffähig“ geworden. Die Bundesgesundheitsministerin sprach von einer „Osterrungenschaft“. Es war ein großer Fehler, die kommunalen- (an allen Krankenhäusern und in Ballungszentren) sowie die Betriebs-Polikliniken der DDR zu schließen, denn sie sicherten für die Patienten eine integrierte Versorgung und waren eine Schnittstelle zwischen stationärer und ambulanter Betreuung. Dies geschah sowohl aus ideologischer Verblendung und mangelnder Geschichtskenntnis (die Verantwortlichen in der Alt-Bundesrepublik hielten sie für eine sowjetische Erfindung) als auch aus berechtigter Konkurrenzangst der Niedergelassenen. Die erste Poliklinik war 1809 von Hufeland an der Charité gegründet worden. Später wurden in der Weimarer Republik nach Streiks der niedergelassenen Ärzte von der AOK Polikliniken gebildet. In Berlin lernten russische Ärzte die Poliklinik „Haus der Gesundheit“ am Alexanderplatz kennen und führten sie danach in der UdSSR ein. Auf diesem Umweg kam 1945 ein sehr leistungsfähiges Betreuungssystem deutscher Herkunft nach Deutschland zurück. Nunmehr gab es im Wesentlichen drei Gründe, dass ab Januar 2004 gemäß § 9 des Sozialgesetzbuches V „Gesundheitszentren“, „Medizinische Versorgungszentren“, „Ärztehäuser“ und „Polikliniken“ besonders gefördert werden sollen: Der zunehmende Ärztemangel, die steigenden Kosten und die zunehmende Privatisierung der Krankenhäuser machen diese Institutionen wieder „attraktiv“, für die Patienten sowieso, für die Krankenkassen wegen des rationellen Einsatzes von personellen und materiellen Ressourcen, für die privaten Krankenhaus-konzerne (Sana-, Helios-, Asklepios-, Rhön- Kliniken u.a.) als sinnvolle Komponente zur Kapital-Verwertungs-Optimierung. Besser wäre natürlich, wenn Ärzte als Genossenschafter derartige Polikliniken betreiben. Dafür fehlt jedoch bei ihnen im allgemeinen der strategische Blick und natürlich der Kapital- Grundstock. Deshalb werden recht schnell die o.g. Krankenhaus- Aktiengesellschaften oder gleich die Banken und Versicherungen das „Geschäft“ übernehmen. Wenn also „eine andere Welt möglich ist“, warum nicht auch ein anderes Gesundheitswesen – allerdings auf anderer sozialökonomischer Basis, mit anderen Vorstellungen und Strategien der Akteure und auch mit anderen „Risiken und Nebenwirkungen“.

[1][11] In der DDR habe ich 23 Jahre als Betriebsarzt und Arbeitsmediziner gearbeitet, 1990 und 1991war ich in drei großen Kliniken (Innere Medizin, Chirurgie, Orthopädie Physiotherapie) in Berlin beschäftigt und seitdem als Hausarzt und nebenberuflich als Betriebsarzt tätig. Damit habe ich ein breites Spektrum des Gesundheitswesens in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen praktisch erlebt, analysieren und vergleichen sowie wissenschaftlich verarbeiten können.

[2][12] Die Quellen der Zahlenangaben stammen aus dem offiziellen Deutschen Ärzteblatt, der privatverlegten „Ärzte- Zeitung“ und aus Annoncen.

[3][13] Wegen der Gefahr von Monopolbildung in Ostbrandenburg und Hessen wurde das Bundeskartellamt aktiv.

[4][14] Eine „globalplayende“ Großbank stand bei der Übernahme dahinter, denn Asklepios fehlte bis dato dafür das Eigenkapital.

[5][15] Beyer-Peters, D., Vom Sozialstaat zur Sozialwirtschaft – Privatisierung sozialer Dienstleistungen, in: Marxistische Blätter, 42. Jg., H 4 2000, S. 41.

[6][16] Deutsches Ärzteblatt, Jg. 102, H 20, 20. Mai 2005, S A 1432-1433.

[7][17] Lenin, W., Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Berlin1971.

[8][18] The struggle for worker`s health, A study of six industrialized countries, Firmingdale, New York, 1986.

[9][19] Der Kassenarzt, 38/39, 2002, S. 19.

[10][20] Deutsches Ärzteblatt, Jg. 100, H. 19, S. A 1380.

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