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Zur Rolle alternativer Wirtschaftspolitik in der Geschichte Lateinamerikas

Anfang und Ende der Globalisierungsperiode, die Marx und Engels einst beschrieben

Dezember 2004

„Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat... den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. ... Die uralten nationalen Industrien ... werden verdrängt durch neue Industrien..., die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten, und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden“(Marx/Engels 1995: 5)

Wohl niemand unter den Zeitgenossen hat die Globalisierungswelle, die im 19. Jahrhundert um den Erdball ging, nachdrücklicher, um nicht zu sagen begeisterter beschrieben als Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“. Kein Wunder also, wenn markante Stellen aus dem „Bourgeois und Proletarier“ benannten ersten Teil des Manifestes in Aufsätzen und Büchern über die Globalisierung in der Gegenwart immer wieder zitiert werden.[1][1]

Im folgenden soll es darum gehen, jene Globalisierungsperiode, die Marx und Engels einst so eindringlich beschrieben, als Ausgangspunkt zu nehmen, um zu einigen in der gegenwärtigen Globalisierungsdiskussion umstrittenen Fragen mit Hilfe des historischen Vergleichs Stellung zu nehmen. Der Raum Lateinamerika wurde gewählt, weil die Staaten des Subkontinents – zumindest alle größeren – bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts unabhängig geworden waren. Das Verhältnis von führenden kapitalistischen Ländern und „entlegensten Zonen“ entsprach damit schon damals dem heute üblichen – dem der (formalen) politischen Gleichberechtigung zwischen den wirtschaftlich verbundenen Staaten.

Da vom Begriff Globalisierung, der seit den 1990er Jahren eine erstaunliche Karriere erlebte, nicht nur in der Politik, sondern auch in den Sozialwissenschaften sehr unterschiedliche Vorstellungen existieren, ist es zunächst notwendig, sich mit der diesem Beitrag zugrunde liegende Vorstellung von Globalisierung zu befassen.

1. Globalisierung – ein durch die Politik beeinflussbarer
Prozess?

Die Behandlung der wirtschaftlichen Beziehungen der größeren Staaten Lateinamerikas, die im 20. Jahrhundert weitgehend mit den Schwellenländern des Subkontinents identisch sind[2][2], verfolgt nicht die Absicht, die Diskussion darum, ob Globalisierung nicht nur ein akuter Prozess ist, sondern eine Geschichte hat, zu beleben. Vielmehr soll die Historisierung der (ökonomischen) Globalisierung genutzt werden, um als ein Modell zur Beantwortung einer anderen bis heute weit mehr umstrittenen Frage zu dienen: ob die Globalisierung ein von ökonomisch-technischen Sachzwängen diktierter Prozess ist, zu dem es keine gesellschaftspolitische Alternative gibt, oder ob sie durch Politik (im weitesten Sinne) beeinflussbar, d.h. korrigierbar ist.

Zieht man die diesbezüglichen Ausführungen von Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ zu Rate, dann ist man geneigt, die Zwangsläufigkeit des Globalisierungsprozesses zu bejahen. Marx und Engels verkünden: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren ... ohne die fortwährende Umwälzung der Produktion. Das gelte so zumindest seit dem Erreichen des Stadiums der „großen Industrie“: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnterem Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen“(Marx/Engels 1995: 4-5). Keine Verschnaufpause, kein Zögern wird der Bourgeoisie zugebilligt. Und die anders organisierten Gesellschaften, die die Bourgeoisie auf ihrer weltweiten Jagd nach Absatzmärkten vorfindet? „Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zu Grunde gehen wollen“ (Marx/Engels 1995: 6). Reiner ökonomischer Sachzwang oder politische Gestaltbarkeit der Globalisierungs­prozesse: darauf gibt es heute unterschiedliche Antworten. Für den, der neoliberal argumentiert, ob Sozialdemokrat oder Konservativer, gibt es zur Globalisierung – zur kapitalistischen als zur Zeit einzig real existierenden – keine Alternative. Deren ökonomischen Bewegungen und die daraus resultierenden – für die Mehrheit negativen – sozialen Konsequenzen müssten daher unbesehen in Kauf genommen werden. Die Mehrzahl der Linken verneint die Alternativlosigkeit vor allem unerwünschter sozialer Folgen der Globalisierung. Diese seien aber mit dem Kapitalismus untrennbar verbunden (Fuchs/Hofkirchner 2001: 25). Deshalb sei „die Aufhebung des antagonistischen Charakters der Globalisierung und der Übergang zu einer Gesellschaftsformation, die auf Kooperation, Solidarität und Inklusion an Stelle von Konkurrenz, Ausbeutung und Exklusion in allen Lebensbereichen basiert ... eine unerlässliche Bedingungen“ für eine „mehrheitsfreundliche“ Alternative zur kapitalistischen Globalisierung (Fuchs/Hofkirchner 2002: 99-100).

Wie aber der Übergang von für die Mehrheit (von Menschen bzw. Staaten) ungünstigen zu einer für die Mehrheit günstigen Variante zu bewältigen ist, darüber gehen allerdings die Meinungen unter den Linken auseinander. Auch die Frage, ob sich die Anstrengungen der Globalisierungskritiker nicht „erst einmal“ darauf richten sollten, die negativen sozialen Folgen der kapitalistischen Globalisierung deutlich zu verringern, ist umstritten. Ob „globale Institutionen, in denen sämtliche Länder, Kulturen und Regionen im selben Ausmaß partizipieren können“ (Fuchs/Hofkirchner 2002: 100) einen realisierbaren ersten Schritt in Richtung des gewünschten Ziels bedeuten, bleibt offen. Generell ist mit Strategiediskussionen allein dem gewünschten Ergebnis sicher nicht näher zu kommen (Mosebach 2001: 78). Hier soll mehr pragmatisch der Frage nachgegangen werden, ob Länder, deren Bevölkerung ganz überwiegend zu den Globalisierungsverlierern gehören, nicht die Möglichkeit haben, aus dem fortlaufenden Globalisierungsprozess „auszusteigen“. Der m. W. kaum diskutierte, weil mit dem Urteil „Unmöglich zu realisieren!“ belegten Variante der Abwendung unerwünschter Folgen der Globalisierung für ein Land bzw. die Mehrheit seiner Bevölkerung wird im Folgenden am Beispiel Lateinamerikas nachgegangen.

Dabei ist zunächst nachzuweisen, dass die Globalisierung im 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika wirklich „griff“, d.h. der Subkontinent tatsächlich Bestandteil der „transnationalen Reorganisation der Produktion“ war, bevor auf die Frage eingegangen werden kann, welche Rolle der Politik bei der Durchsetzung bzw. beim Rückzug aus der Globalisierung zukam.

2. Lateinamerikas Weltmarktintegration im 19. Jahrhundert

Die spanischen Besitzungen in Lateinamerika waren ebenso wie das portugiesische Brasilien durch ein spätfeudales Kolonialsystem charakterisiert. Die Aneignung des materiellen Reichtums Lateinamerikas durch die Eroberer diente weniger kapitalistischer Akkumulation als feudaler Schatzbildung. (Kossok 2000: 337-338). Der Handel der Kolonien mit dem Mutterland war auf die Handelsstädte Cadiz und Sevilla bzw. Lissabon beschränkt und im Umfang stark limitiert. Warenaustausch mit anderen europäischen Staaten wurde bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht erlaubt (Kossok 2000: 33, 38-39; Lockhardt/Schwartz 1983: 360-370). Im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts sahen sich die Kolonialmächte im Zuge von Reformen in ihren Heimatländern veranlasst, das strenge Handelsverbotsreglement zwischen Lateinamerika und Spanien bzw. Portugal ganz aufzuheben und in bezug auf die Handelsnationen im übrigen Europa zu einer dezidierten Schutzzollpolitik überzugehen, indem man spanische Güter in Lateinamerika gegenüber ausländischen Waren mit einem Zollabschlag von 50 bis 75 Prozent begünstigte. Nicht unberührt von diesen wirtschaftlichen Liberalisierungsschritten blieb die Kolonialmanufaktur, d.h. die gewerbliche, nicht nur hausgewerbliche Produktion, die überwiegend Textilien, aber auch Metallwaren u.a. Konsumgüter für den regionalen Bedarf herstellte. Die Standorte dieser Manufakturen befanden sich im Innern der jeweiligen Vizekönigreiche, dort wo eine größere Konzentration von Menschen in dem generell dünn besiedelten Kontinent vorhanden war, oftmals in den Verwaltungszentren z.B. auf dem mexikanischen Hochland in Mexiko-Stadt (Vizekönigreich Neu-Spanien) bzw. im küstenfernen Andenvorland in Tucuman (Vizekönigreich La Plata) (Kossok 2000: 35,37, 65; Lockhart/Schwartz/Stuart 2000: 383-388).

In den spanischen Kolonien begannen die Unabhängigkeitsbestrebungen, als die iberische Halbinsel von französischen Truppen besetzt wurde. Sie endeten nach oftmals heftigen und mit wechselndem Erfolg für die aufständischen Kreolen bzw. die spanischen Kolonialtruppen geführten Kämpfen 1826 mit der Befreiung aller Festlandsgebiete von der spanischen Herrschaft. Brasiliens Weg in die Unabhängigkeit von Portugal, die das Land 1822 erreichte, verlief dagegen auf evolutionärem Wege (Kossok 2000: 80-91; Lockhart/Schwartz/Stuart 1983: 415-19). Großbritannien war in der Regel die erste europäische Macht, die die neuen Staaten anerkannte. Es bot den größeren unter ihnen schon vor der Beendigung der Auseinandersetzungen mit der Kolonialmacht Handelsverträge an, deren Zweck die Öffnung der lateinamerikanischen Märkte für britische Waren war. Charakteristisch dafür waren die 1810 und 1812 mit Brasilien abgeschlossenen Verträge, die – bei genereller Senkung der Zölle auf 24 % des Warenwertes – für englische Waren nur noch einen Satz von 15 % vorsahen. Der lag damit noch niedriger als der dem (ehemaligen) Mutterland Portugal gewährte Satz (16 %). Die in der ersten Junta Argentiniens den Ton angebenden Kaufleute und Estancieros (Viehzüchter), die „neue Aristokratie“(Kossok 2000:69-70), brauchten keine zwei Wochen, um das Verlangen der Briten, die protektionistischen Beschränkungen für den Handel mit dem Ausland zu lockern, nachzukommen. 1813 wurde der vollständige Übergang zum Freihandel vollzogen (Galeano 2003: 272).

Der Verzicht auf Schutzzölle hatte zur Folge, dass alsbald britische Textilwaren und andere Gebrauchsgüter aus England und Schottland die lateinamerikanischen Märkte überschwemmten und die Ansätze einer sich aus der Kolonialmanufaktur entwickelten einheimischen Industrieproduktion, die zunächst von der zeitweisen Unterbrechung der Seewege zwischen Europa und Lateinamerika während der Revolutions- und napoleonischen Kriege in Europa profitiert hatte, verkümmern ließen (Galeano 2003: 280).

Im Falle Argentiniens vollzog sich dieser Prozess so: Handelsagenten aus Manchester, Glasgow und Liverpool bereisten Tucuman und andere Gewerbezentren im Vor-Andengebiet, kopierten die Modelle der Ponchos und anderer gewerblicher Landeserzeugnisse und begannen das Land am Rio de la Plata mit Exemplaren aus Großbritannien zu beliefern. Die Manufakturen am Fuße der Anden waren bald ruiniert, denn ein argentinischer Poncho kostete sieben Peso, der aus Yorkshire, industriell und in großer Zahl hergestellt, dagegen nur drei (Kossok 2000 375; Galeano 2003: 276).

Ein englischer Konsul in Buenos Aires beschrieb 1837 einen Gaucho aus der Pampa so: „Man betrachte alle seine Kleidungsstücke, man prüfe alles, was ihn umgibt, und mit Ausnahme dessen, was aus Leder ist, wird man kaum etwas finden, was nicht englisch wäre. Wenn seine Frau einen Rock trägt, so bestehen zehn Möglichkeiten gegen eine, dass er in Manchester hergestellt ist. Der Kessel oder der Kochtopf, in dem er seine Mahlzeit zubereitet, das irdene Geschirr, in dem er sie verzehrt, sein Messer, seine Sporen, der Zaum, der Poncho, in den er sich hüllt, alles sind aus England gebrachte Artikel.“ (zitiert in: Galeano 2003: 276-277) Argentinien setzte gegen die englischen Importe jene Waren, die zu produzieren das industrialisierte und verstädterte England aufgegeben hatte: Häute, Felle, Talg, Knochen und Pökelfleisch (Pohl 1989: 197).

Argentinien war kein Ausnahmefall. „In allen Landgütern Brasiliens“, berichtete ungefähr zur gleichen Zeit der US-Botschafter aus Rio de Janeiro, „kleiden sich die Besitzer und ihre Sklaven mit Erzeugnissen der freien Arbeit, von denen neun Zehntel englischer Herkunft sind.“ (zitiert in: Galeano 2003: 277) Brasilien lieferte nach England Edelhölzer und Zuckerrohr, Mexiko Silber, Peru Salpeter. In Chile hatten sich die dort ansässigen britischen Handelshäuser des Kupfermarkts bemächtigt und lenkten die Preise entsprechend dem Profitinteresse der Gießereien von Swansea, Liverpool und Cardiff (Galeano 2003: 278).

Die mit den britischen Händlern zusammenarbeitenden Exportkaufleute und die zumindest einen Teil des Jahres in den Küstenstädten verbringenden Großgrundbesitzer orientierten sich in ihren Bedürfnissen an Luxusgütern aus Europa. Der Freihandel gab ihnen die Möglichkeit, „englische Seide und Messer, feine Tücher aus Loivers, Spitzen aus Flandern, Schweizer Säbel, holländischen Wacholderbranntwein, westfälischen Schinken und Zigarren aus Hamburg“ zu kaufen (Galeano 2003: 276).

Nicht nur wegen der ungünstigen terms of trade zwischen den exportierten landwirtschaftlichen und mineralischen Rohstoffen und den importierten Gebrauchs- und Luxusgütern, sondern auch weil die die Mehrzahl der ehemaligen spanischen Kolonien erschütternden Bürgerkriege beträchtliche Finanzmittel verschlangen, begannen sich die lateinamerikanischen Staaten gegenüber Großbritannien bald zu verschulden. Argentinien nahm allein zwischen 1822 und 1826 bei britischen Banken zehn Anleihen auf. Brasilien begann 1825 von England zu borgen (Galeano 2003: 302). Zinsen und Tilgungsraten belasteten einerseits die lateinamerikanischen Staaten schwer, die Kapitalrückflüsse vermehrten auf der anderen Seite Großbritanniens Nationaleinkommen.[3][3] Versuche lateinamerikanischer Länder, sich der drückenden Schuldenlast wenigstens zeitweise zu entziehen, wurden nicht nur mit ökonomischen, sondern notfalls auch mit militärischen Mitteln vereitelt. Der mexikanische Präsident Benito Juarez hatte die Schuldentilgung Mexikos an ausländische Gläubiger nur auf zwei Jahre ausgesetzt. Darauf antwortete der Hauptgläubiger Frankreich unter Napoleon III. mit der Entsendung eines Interventionskorps (Kleinschmidt 1998: 272).

Bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde erkennbar, dass die iberoamerikanischen Staaten aus ihrer Unabhängigkeit keinen bleibenden wirtschaftlichen Vorteil hatten ziehen können. Der Freihandel hatte daran wesentlichen Anteil. Die Gewinner der Einbeziehung Lateinamerikas in die Weltwirtschaft saßen – geographisch gesehen – in Europa, vor allem in England. Sozial waren in Lateinamerika die durch Produktion von landwirtschaftlichen Rohstoffen (Estancieros, Hacienderos) bzw. mit der Vermittlung der Güter an die englischen Handelshäuser befasste städtische Kaufmannsschicht die Gewinner, während die mittelständischen Produzenten gewerblicher Güter zu den eindeutigen Verlierern der Globalisierung gehörten.

Zu den Verlierern gehörten auch ganze Regionen, deren relativer Wohlstand darauf beruht hatte, dass sie an den ursprünglich von der spanischen Kolonialmacht vorgeschriebenen inneramerikanischen Handelswegen gelegen waren bzw. zu den ersten bescheidenen Manufakturzentren gehörten. Gewinner der so rasch in Argentinien um sich greifenden Globalisierung waren die Küstenregionen bzw. Hafenstädte. Im Falle Argentiniens waren das die Stadt Buenos Aires, die die argentinischen Exportprodukte lieferte bzw. für den Versand auf englischen Schiffen vorbereitete, und die Viehzüchter der küstennahen Pampa-Region, die bald zur wichtigsten, reichsten und bevölkertsten der Republik wurde. Zu Verlierern wurden die Städte und Provinzen im küstenfernen Andenvorland, deren Produktionen der englischen Konkurrenz nicht standhalten konnten. Der wirtschaftliche und der Bevölkerungsschwerpunkt Argentiniens verlagerten sich von Ost nach West. Das administrative Zentrum des Landes wanderte mit der wirtschaftlichen Standortverlagerung. Buenos Aires wurde 1862 Hauptstadt und war ein Jahr später bereits Großstadt (Czajka 1959: 164-165).

Die Folgen des Freihandels entsprachen weder in Argentinien noch im übrigen Lateinamerika dem, was Marx und Engels im Kommunistischen Manifest beschrieben hatten. Zwar waren auch auf dem Subkontinent „die uralten nationalen Industrien ... vernichtet worden“. Aber sie wurden nicht verdrängt durch „neue Industrien“, wie das Marx und Engels vorausgesehen hatten. „An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit“ war zwar ein „allseitiger Verkehr“, nicht aber eine „allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander“ getreten (Marx/Engels 1995: 5 f.). Vielmehr war in Lateinamerika an die einstige politische Abhängigkeit von Spanien die ökonomischen Abhängigkeit (Dependencia) von Großbritannien getreten.

3. Der Kampf gegen die negativen Folgen der
Weltmarktintegration

Die uns interessierende Frage ist, ob es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Alternative zur von britischen Interessen bestimmten Globalisierung in Lateinamerika gab – ob von Politikern nicht Versuche unternommen wurden, die eigenen nationalen Interessen bzw. die „des Volkes“ gegenüber denen der Metropolen durchzusetzen. Es existierten tatsächlich in einigen Ländern Lateinamerikas Gegenkonzeptionen zu dem in der Literatur als „Export-Import-System“ (Boris 2001: 17) bezeichneten Austausch von Rohstoffen gegen europäische Fertigwaren und es gab auch zeitweise erfolgreiche Versuche, diese Konzeptionen zu verwirklichen.

In Mexiko hatte der ökonomische Liberalismus, der mit der Unabhängigkeit 1822 (Kossok 2000: 91) ins Land kam, die Textil- und Metallwerkstätten von Mexiko, Puebla und Guadalajara bereits arg beschädigt, als Lucas Alaman, ein fähiger konservativer Politiker, zum Schutz der Textilunternehmen die Besteuerung ausländischer Baumwollgewebe durchsetzte. Die Steuern sollten dem Land Einnahmen verschaffen, um in Europa und den USA Maschinen und technische Hilfsmittel zu kaufen. Ziel war es, mit modernen Fertigungsverfahren genügend Textilien zur Versorgung der Bevölkerung in eigener Produktion herzustellen. 1830 wurde zur Verwirklichung dieser Zielstellung durch den Staat eine Bank, die „Banco de Avio“ (Ausrüstungsbank) gegründet. Wasserkraft als Antriebskraft und eine vergleichsweise gut ausgebildete Arbeiterschicht waren vorhanden. Der Staat rief außerdem ausländische Textiltechniker ins Land. Die Rechnung Alamans ging zunächst auf. 1844 erzeugten die Textilfabriken in Puebla 1,4 Millionen Wolldecken und erreichte damit die Grenzen der Aufnahmefähigkeit des mexikanischen Binnenmarktes. Der durch die Armut der Peones in der Landwirtschaft und der Arbeiter in den Silbergruben begrenzte mexikanische Markt, der von englischen und französischen Kaufleuten ausgeübte Druck auf die Regierungen in Mexiko, die Bereitwilligkeit der vom Freihandel bis dahin profitierenden Kaufleute und Großgrundbesitzer im Lande, diesem Druck nachzugeben, brachte Alamans zunächst so erfolgreiches Experiment schließlich zum Scheitern. Noch vor 1850 war der Fortschritt der mexikanischen Textilindustrie zum Stillstand gekommen (Galeano 2003: 281).

Stärker als in Mexiko waren die Kräfte, die gegen die Weltmarktintegration des Landes auftraten, in Argentinien. Das hatte seine wirtschaftlichen Ursachen. Während die Hafenstadt Veracruz nicht in der Lage war, Mexiko-Stadt den Rang abzulaufen, hatten Tucuman und Santiago im Innern Argentiniens gegenüber der Küstenstadt Buenos Aires und den am Parana gelegenen Häfen Rosario und Santa Fe echte Standortkonkurrenz bekommen. Bei den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Unitaristen und Föderalisten, Anhängern des Bundesstaates und des Staatenbundes, die nach der Unabhängigkeit nicht nur in Argentinien, sondern in den meisten lateinamerikanischen Staaten geführt wurden, ging es in Wirklichkeit nicht in erster Linie um konstitutionelle Streitfragen, sondern häufig um die Bemühungen der Binnenprovinzen, das freihändlerische Diktat der Küstenstädte durch eine Schutzzollpolitik zugunsten ihrer gewerblichen Erzeugnisse zu ersetzen (Kossok 2000: 292).

In Argentinien gewannen die protektionistisch eingestellten Provinzler einige Male die Oberhand, so während der Regierungszeit von Juan Manuel de Rosas. Der Präsident, ein typischer südamerikanischer Caudillo (Kossok 2000: 114) erließ 1835 ein Zollgesetz, das die Einfuhr von Eisen- und Blechwaren, Pferdegeschirr, Ponchos, Gürteln u.a. Produkten vollständig verbot und den Import von Schuhen, Kleidungsstücken, Reitgeschirr und alkoholischen Getränken mit hohen Abgaben belegte. Die protektionistischen Maßnahmen bewirkten bis 1852, dem Jahr, in dem Rosas gestürzt wurde, ein Aufblühen des argentinischen Gewerbes sowohl in den westlichen Provinzen als auch in Buenos Aires. Das Ende des protektionistischen Zwischenspiels unter de Rosas hatten bereits einige Jahre zuvor englische und französische Kriegsschiffe eingeleitet, die die von Rosas quer durch den Parana gespannten Sperrketten, die das Innere Argentiniens gegen britische Schmuggler verschlossen hielten, mit Kanonschüssen sprengten und so den Strom gewaltsam für ausländische Schiffe öffneten. Zehn Eingaben der Industriezentern von Yorkshire und Lancashire, die von 1.500 Bankiers, Kaufleuten und Industriellen unterzeichnet worden waren, hatten die britische Regierung bewogen, mit außerökonomischer Gewalt gegen die am Rio de la Plata verfügten Handelsbeschränkungen vorzugehen (Galeano 2003: 286-287). Der militärischen Aggression der Globalisierungsmacht folgte 1845 bis 1849/50 die Blockade der argentinischen Häfen. Die Kaufleute und Estancieros aus Buenos Aires und den andere östlichen Provinzen, die vom Freihandel profitiert hatten, atmeten auf, nachdem den Unitaristen 1852 der Sieg über den Förderalisten de Rosas gelungen war.

Von vornherein hatten sich die Präsidenten des ebenfalls aus dem Vizekönigreich La Plata hervorgegangenen unabhängigen Paraguay der „britischen“ Globalisierung verschlossen. Unter dem diktatorischen Führer des Landes, J. G. Rodriguez (1814-1840), der sich aus Begeisterung für die französische Revolution „Francia“ nannte, gab es – ungeachtet der Zugänglichkeit der Hauptstadt des Landes, Asuncion, für Seeschiffe – keine Verträge mit den Briten und keinen Außenhandel, dafür aber im Innern soziale Reformen, die die Großgrundbesitzerkaste, die vom Freihandel hätte profitieren können, entmachtete und teilweise enteignete (Kossok 2000: 84). Unter Francias Nachfolgern C. A. Lopez und F. S. Lopez (1844 bis 1870) wurde Paraguay zwar für den Außenhandel geöffnet, die ersten Eisenbahnen gebaut und ausländische Techniker ins Land gerufen. Jedoch blieb die Produktion von Baumaterial, Gewerbe, Leinen, Ponchos, Papier und Tinte, Töpferwaren und Schließpulver, seit 1850 auch von Waffen, Waren‚ die in einer „beträchtlichen Anzahl von Fabriken“ vor allem in der Hauptstadt erzeugt wurden, durch Zölle geschützt. Eine eigene Handelsflotte wurde aufgebaut, deren Schiffe teilweise auf Werften in Asuncion auf Kiel gelegt worden waren. „Die Handelsbilanz warf einen großen Überschuss ab. Paraguay hatte eine feste und stabile Währung und war vermögend genug, um ... Investitionen vornehmen zu können, ohne das Auslandskapital heranzuziehen.“ (Galeano 2003: 294)

Unter den beiden Präsidenten Lopez war das unter Francia noch ganz auf Autarkie ausgerichtete Paraguay zu einem dem Außenhandel offenen Gegenmodell der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit und der sozialen Ausgeglichenheit zum Export-Import-System geworden. Ehe das paraguayische Beispiel jedoch Schule machen konnte, was vor allem die britischen Händler zu fürchten hatten, wurde es eliminiert – nicht durch eine Mischung von äußerem Druck und den Problemen eines beschränkten inneren Marktes wie im Falle von Alamans Mexikos, nicht durch militärische Demonstrationen und jahrelange Blockaden wie im Falle von de Rosas Argentinien, sondern durch nackte militärische Gewalt. Anders als im Opiumkrieg zweieinhalb Jahrzehnte zuvor, der auch ein „Marktöffnungskrieg“ war (Foreman-Peck: 30), brauchten die Briten in diesem Falle nicht unmittelbar militärisch aktiv zu werden, sondern konnten sich mit der Finanzierung des kriegerischen Unternehmens begnügen. Den Krieg gegen Paraguay fochten das inzwischen zum Freihandel bekehrte Argentinien sowie Brasilien und Uruguay für die vollständige Marktöffnung des letzten noch widerspenstigen Landes auf dem Kontinent aus. Der „Tripleallianz“ gelang es in einem blutigen, länger als fünf Jahre anhaltenden Krieg, Paraguay zu besiegen. Es hatte sich zu öffnen und seine Landesprodukte (Rinder, Matetee und Quebrachoholz) dem britischen Zugriff zuzuführen. Paraguay begann nach dem Zusammenbruch der nationalen Industrien seinen Bedarf an Baumwollwaren, Eisen- und Stahlwaren sowie Genussmitteln aus Großbritannien zu importieren (Kossok 2000: 292; Galeano 2003: 296-298; Hübners 1932: 551).

4. Von der Blütezeit des Export-Import-Modells zum
Rückzug aus der Weltmarktintegration

Ab 1870 war Lateinamerika durchgehend und bedingungslos in den Weltmarkt integriert. In den folgenden Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg erreichte die Globalisierungsperiode, die Marx und Engels im Kommunistischen Manifest beschrieben hatten, gemessen am Umfang des Austauschs über den Außenhandel und dem internationalen Kapitalverkehr, auch auf dem Subkontinent ihre Blütezeit. Gemessen am Verhältnis Bruttoinlandsprodukt und Warenausfuhr lag die Außenhandelsverflechtung Lateinamerikas in dieser Zeit sogar deutlich über dem Weltdurchschnitt. Im Jahre 1913 hatte Großbritannien in Lateinamerika auch mehr investiert als jeweils in ganz Afrika, in Asien oder auf dem europäischen Festland. Allerdings traten seit etwa 1900 als ökonomische Hauptmacht auf dem Subkontinent an Englands Stelle immer mehr die USA. An der Spitze des Kapitalstroms aus Europa und den USA in die „Dritte Welt“ stand 1913 Argentinien. Brasilien und Mexiko hielten nach Indien Platz drei und vier (Maddison 2001: 99, 127). Dank des Export-Import-Systems konnten die mit ihm eng verflochtene lateinamerikanische „Hafenbourgeoisie“ und die vom Export ihrer Landwirtschaftsprodukte profitierenden Großgrundbesitzer gut leben. Sie stellten auch die Regierungen unterschiedlicher Coleur. Aber auch für andere soziale Gruppen und für das Land insgesamt fiel etwas vom wirtschaftlichen Segen ab. In den Hafenstädten entstanden Getreidemühlen, Konservenindustrie, Gerbereien u.a. Fabriken, die Vorprodukte für den Export lieferten. Auch die notwendige Pflege der Bahnen und Hafenanlagen schuf gewerbliche Arbeitsplätze. Mittelständische Unternehmen wuchsen empor (Sartorius 1924: 92). Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts konnte sich das wirtschaftlich stärkste lateinamerikanische Land, Argentinien, dank seines Exportüberschusses von der jahrzehntelang drückenden Schuldenlast gegenüber dem Ausland befreien (Galeano 2003: 304).

Das Land hatte nach 1870 wie kaum ein anderes Land Lateinamerikas vom mit der Vertiefung der Globalisierung einhergehenden technischen Fortschritt profitieren können. Schon vor 1870 machte die Dampfschifffahrt den Export von Pökelfleisch und Lebendvieh profitabel. 1878 landete das erste Kühlschiff aus Großbritannien im Hafen von Buenos Aires (Czajka 1959: 164). Seitdem schuf die Kühltechnik für das Land am Rio de La Plata durch Verbesserung der Qualität des exportierten Fleisches neue Absatzmöglichkeiten in Europa.[4][4] Nach 1900 setzte sich Argentinien als Gefrierfleischexporteur vor Australien an die erste Stelle in der Welt (Pohl 1989: 107). „Alles in allem“, urteilt der Marburger Soziologieprofessor Dieter Boris (2001: 23), „ lässt sich die These vertreten, dass positive und sekundäre Auswirkungen in bezug auf die Bildung eines nationalen Binnenmarktes in einigen Ländern, in denen das Export-Import-System herrschte, durchaus vorhanden waren“.

Die – wenn auch sozial einseitig ausgerichteten – Erfolge, die die lateinamerikanischen Staaten mittels des Export-Import-Systems erreichten, hatten in diesen Ländern nicht nur zu einer größeren politischen Stabilität geführt, auch ideologisch herrschte die Freihandelslehre unangefochten. „Gerade der große Erfolg dieses Wirtschaftsmodells“, schreibt Boris (2001: 24), „führte dazu, dass der ideologische Wirkungsgrad dieser Orientierung alle Gesellschaftsschichten ähnlich stark durchdrang. Das heißt, dass nicht nur die unmittelbar am meisten von diesem Wirtschaftsboom profitierenden Segmente der Exportoligarchie und ihre einheimischen und ausländischen Verbündenten das Export-Import-System priesen und vehement verteidigten, sondern das auch die gewachsenen Mittelschichten und sogar die urbanen Arbeiter im wesentlichen ideologisch Gefangene dieses Systems blieben.“

Eine Agitation gegen die für Lateinamerika bzw. die werktätigen Schichten ungünstigen Seiten der Globalisierung konnte keinen Erfolg haben, solange das Export-Import-System so offensichtlich funktionierte wie in den viereinhalb Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Aber auch als das System in den 20er Jahren seine Glanzzeit bereits überschritten hatte und z.B. Argentinien sich erneut verschulden musste (James 2003: 106), war ein alternatives Wirtschaftssystem für die meisten Argentinier noch nicht vorstellbar. Das sollte sich jedoch Anfang der 30er Jahre unerwartet rasch ändern. Die Ursachen dafür, dass die in fast allen Bevölkerungsschichten verankerte Freihandelsideologie ins Wanken geriet, waren dort zu finden, wo bisher die sichere Basis der Verbreitung der Ideologie lag: in der Funktionsweise des Export-Import-Systems. Tatsächlich stieß dieses Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre an die Grenzen seiner Funktionstüchtigkeit und erwies sich darüber hinaus zunehmend als unfähig, die lateinamerikanischen Staaten vor den verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise zu bewahren.

5. Der Rückzug der lateinamerikanischen Schwellenländer aus der Weltmarktintegration

In den Jahren 1929 und 1930 ereigneten sich für Lateinamerika zwei wirtschaftliche Schocks, die miteinander zusammen hingen: Erstens gingen die Exportpreise für Getreide und einige Metalle, aber auch für Viehzuchtprodukte und Plantagenerzeugnisse zurück. Der Preis für brasilianischen Kaffee fiel 1929 innerhalb eines halben Jahres fast um die Hälfte. Zweitens war der Zufluss frischen Kapitals aus Europa und den USA stark rückläufig. Im Ergebnis sank der Wert des argentinischen Gesamtexports von 1929 bis Ende 1932 um 32 Prozent. Im gleichen Zeitraum fielen in Chile, das stark vom Kupfer abhängig war, die Exporterlöse sogar um 64 % (James 2003: 106-107). Die wirtschaftlichen Folgen im Inland waren weitreichend. Betrafen die Verluste der Auslandsmärkte zunächst (bei Metallen und Plantagenprodukten) nur bestimmte Regionen des Landes, so machten sich die entgangenen Einnahmen doch rasch landesweit bemerkbar, da auch die Importe, die viel weniger als zuvor aus Exporteinnahmen finanziert werden konnten, stark zurückgingen. Ein Ausgleich durch Kreditaufnahme war nicht mehr möglich, da die Banken der Metropolen kaum noch Portfolioinvestitionen in Übersee tätigten. Das gleiche galt für ausländische Direktinvestitionen, die bis dahin nicht wenig zum Ausbau der Infrastruktur und der „Hafenindustrien“ in Lateinamerika beigetragen hatten. Ein Ausgleich des Finanzmangels der Wirtschaft über den Staatshaushalt war nicht mehr möglich, da die Staatseinnahmen aus Exportabgaben und der Unternehmensbesteuerung parallel zur Kreditverknappung zurückgingen – in Brasilien zwischen 1929 und 1931 und 20 %, in Chile im gleichen Zeitraum sogar um 36 % (James 2003: 107). Auf der anderen Seite mussten die von den lateinamerikanischen Staaten vor der Krise im Ausland aufgenommen Anleihen weiterhin verzinst und auch getilgt werden. Im Ergebnis stieg die Schuldendienstquote (der Schuldendienst in Prozent der Exporterlöse) stark an: in Argentinien zwischen 1927 und 1931 auf das Dreifache, in Bolivien auf das Vierfache. Mit dem Fortschreiten der Krise erklärten sich fast alle lateinamerikanischen Staaten für zahlungsunfähig (James 2003: 107, 191).

Die Krise machte jedem aufmerksamen Beobachter in Lateinamerika deutlich, dass nicht einzelne Seiten, sondern das Export-Import-System als Ganzes nicht mehr funktionierte. Oppositionelle stellten bald die Art der Weltmarktanbindung über den Freihandel prinzipiell in Frage. Zu einem Zeitpunkt, da erste Vorstellungen über eine mögliche Abkoppelung der lateinamerikanischen Staaten von der durch die Metropolen dominierten Globalisierung entwickelt wurden (aber erst relativ spät, in der zweiten Hälfte der 40er Jahre in der von Raul Prebisch entwickelten Dependencia-Theorie in feste Formen gegossen werden konnten; Avaria 1989: 434-437) sahen sich die Regierenden gezwungen zu handeln. Das geschah auch mit Blick auf die soziale Situation. Denn Massenentlassungen waren die Folge der Schrumpfung der Wirtschaft, und die Unzufriedenheit unter den städtischen Unterschichten und deren Bereitschaft, sich „extremen“ linken Bewegungen anzuschließen[5][5], wuchs.

Die Regierungen sahen sich gezwungen, wirtschaftlich die Notbremse zu ziehen. Schon im Dezember 1929 ging Argentinien vom Goldstandard ab, so dass das binnenwirtschaftliche Preisgefüge vom Weltmarktniveau abgekoppelt werden konnte, worauf sich die Exportsituation zeitweilig bis Mitte 1931 noch einmal verbesserte. Doch schon im Oktober 1931 erfolgte angesichts der sich weiter verschärfenden Krise Argentiniens nächster Schritt des Ausstiegs aus dem Weltmarkt: Das Land gab das Freihandelsprinzip auf und führte die Devisenzwangsbewirtschaftung ein (James 2003: 218). Auch die brasilianische Regierung entschied sich für ein breites Spektrum von Antikrisenmaßnahmen, die auf eine Verringerung der Weltmarktabhängigkeit des Landes hinausliefen. Rothermund führt im Einzelnen die „Erklärung der Zahlungsunfähigkeit gegenüber den ausländischen Schuldnern, krasse Abwertung (der nationalen Währung), Devisenbewirtschaftung, expansive Geldpolitik, Förderung der einheimischen Industrie, Stützung und Diversifizierung der Hauptprodukte“ (Rothermund 1993: 5) auf.

Konsumgüter, die bis dahin als Austausch für Rohstoffe importiert worden waren, sollten nun in Brasilien, Mexiko, Argentinien und anderen größeren lateinamerikanischen Staaten selbst hergestellt werden. Der Staat half so gut er konnte bei der Importsubstitution mit Kreditgarantien und Steuernachlässen, vor allem aber schützte er die „neuen Industrien“ durch Schutzzölle, Einfuhrquoten und mittels Devisenkontrollen. Tatsächlich zeigte die Importsubstitution bald sichtbare Resultate. Hatte Argentinien 1929 noch 40,5 % seines Bedarfs an Industriegütern importiert, so war dieser Anteil 1935 auf 25,3 % gesunken. Insbesondere profitierte die Textilindustrie. Die Anzahl der Baumwollspindeln in Argentinien verfünffachte sich zwischen 1930 und 1936 (James 2003: 223). Industrielle Kerne einer Konsumgüterindustrie, die meist im Ersten Weltkrieg, als die Lieferungen aus Europa nach Lateinamerika zeitweise ausgefallen waren, entstanden, erwiesen sich jetzt als rasch erweiterungsfähig, zumal durch den aufkommenden Faschismus aus Italien, Spanien und Deutschland Flüchtlinge nach Lateinamerika kamen, die über eine entsprechende Qualifikation verfügten oder auch ausreichend Kapital für die Gründung mittelständischer Unternehmen mitbrachten.

De facto aber befand sich die De-Globalisierung auf dem Vormarsch. Doch noch waren die lateinamerikanischen Regierungen, meist Interessenvertreter oder Angehörige der „Import-Export-Oligarchie“, welcher der herrschenden politischen Parteien sie auch angehörten, bestrebt, am Freihandel und Wirtschaftsliberalismus als alternativlosem Wirtschaftsprinzip festzuhalten und ihre Abschirmschritte gegen die Unbilden des Weltmarktes als vorübergehende Notmaßnahme zu klassifizieren. Sowie die Weltwirtschaftskrise an Wucht verloren hatte, wurde z. B. seitens Argentiniens 1935 versucht, mit Hilfe einer Reihe bilateraler Abkommen die „traditionell herzlichen britisch-argentinischen Beziehungen“ wieder herzustellen. Doch setzte sich die Herausdrängung argentinischer Exportgüter aus dem englischen Markt auch in der zweiten Hälfte der 30er Jahre fort.[6][6]

Zu einer Verstetigung der De-Globalisierungs-Tendenzen konnte es jedoch erst kommen, als die politische Herrschaft der Exportoligarchie zu einem Ende kam. Dieser Schritt wurde in der zweiten Hälfte der 30er bzw. ersten Hälfte der 40er Jahre in den wichtigsten lateinamerikanischen Staaten durch die Errichtung populistischer Regime vollzogen. Dazu rechnen die Historiker vor allem die autokratischen Regime des Getulio Vargas (1930 bis 1945 und 1950 bis 1954) in Brasilien, des Lazaro Cardenas (1934-1940) in Mexiko und des Juan Peron (1945 bis 1954) in Argentinien. Ob Militärs oder Zivilisten – die autokratischen Regime kamen durch ein politisches Bündnis aus denjenigen Gruppen der Mittelschichten, die von der Importsubstitutionspolitik profitierten, und den meist vom Lande zugewanderten und dort bisher gesellschaftlich an den Rand gedrängten städtischen Unterschichten, denen die Industrialisierungspolitik Lohn und Brot und gesellschaftliche Anerkennung als wichtiger Bestandteil der Nation verschaffte, an die Macht. Die populären Führer organisierten die städtische Arbeiterschaft in straff geführten Gewerkschaften, die die Massen für die Aufrechterhaltung der populistischen Regime mobilisierten.

Der Aufbau nationaler Konsumgüterindustrien, die sich Cardenas, Vargas und Peron auf ihre Fahnen geschrieben hatten, machte ökonomisch nur Sinn, wenn sich im Gefolge der Industrialisierungspolitik die Kaufkraft der städtischen Massen erhöhte. Die Reallohnsteigerungen gingen mit sozialpolitischen Maßnahmen wie der Einführung eines bezahlten Urlaubs, des arbeitsfreien Sonntags, von Kranken- und Rentenversicherung, kostenloser Krankenbehandlung, neuen Schulen, Arbeitsgerichten usw. Hand in Hand. Cardenas „institutionalisierte Revolution“, der „Justicialismo“ in Argentinien und Vargas „Estando Novo“ in Brasilien lieferten die ideologische Verbrämung der neuen Verhältnisse. Peronismus und Getulismo usw. schufen der Abkehr von der Weltmarktintegration eine Massenbasis und stabilisierten mit der neuen politischen Führung auch die neue Wirtschaftspolitik gegen Versuche der Exportoligarchie und der mit ihnen eng verbundenen Großgrundbesitzer (deren wirtschaftliche Macht nur in Mexiko durch eine Bodenreform beschränkt worden war), nach Ende der Weltwirtschaftskrise wieder zur Tagesordnung, d.h. wirtschaftspolitisch zum Export-Import-System zurückzukehren (Kossok 2000: 118-119). So putschten z. B. gegen Peron und seine Politik der traditionellen Oligarchie nahestehende Offiziersgruppen zweimal, im Oktober 1945 und im Sommer 1951. Beim ersten Putsch organisierte die Nachrichtensprecherin Eva Duarte, die spätere Evita, den Marsch der Descamisados (Hemdlosen) gegen die Putschisten. Der Weg zur Präsidentschaft durch Wahlen im Februar 1946, die Peron 54 % aller Stimmen brachten, war damit frei. Der zweite Putsch scheiterte an der loyalen Haltung der mächtigen Gewerkschaften, in denen sich das peronistische Prinzip der „Massenmobilisierung durch Massenkontrolle“ (Boris 2001: 43) am anschaulichsten verwirklicht hatte. Peron wurde nach dem zweiten Putsch mit 64 % aller Stimmen wiedergewählt.[7][7]

Die Sozialpolitik der populistischen Regime konnte nur solange erfolgreich sein und Massenzustimmung sichern, wie über einen längeren Zeitraum ein beträchtliches ökonomisches Wachstum realisiert werden konnte. Dies gelang ungeachtet des teilweisen Rückzugs vom Weltmarkt bzw. gerade deshalb tatsächlich. Die De-Globalisierung manifestierte sich in Lateinamerika einerseits in einem sinkenden Anteil des Warenexports am Bruttosozialprodukt. Gegenüber dem Jahre 1913, einem der Glanzjahre des Funktionierens des Export-Import-Systems, sank dieser Anteil bis 1950 um mehr als ein Drittel (von 9 auf 6 %) und lag 1973 etwa bei der Hälfte des Niveaus von 1913 (bei 4,7 %). Ungeachtet dessen wuchs auf Grund des überdurchschnittlich raschen wirtschaftlichen Wachstums im gleichen Zeitraum der Anteil Lateinamerikas am Weltbruttosozialprodukt auf fast das Doppelte, von 4,5 % auf 8,7 % je Jahr. Denjenigen Staaten Lateinamerikas, die sich der Importsubstitutionspolitik verschrieben, brachte der Rückzug aus der Globalisierung ein passables bis bemerkenswertes wirtschaftliches Wachstum. Staaten, die aufgrund ihrer schieren Kleinheit oder wegen ihres wenig aufnahmefähigen Binnenmarktes – vor allem handelt es sich um die mittelamerikanischen und karibischen Länder – auf die Importsubstitutionspolitik verzichten mussten, erzielten zwischen 1950 und 1973 ein deutlich – um ein Fünftel – niedriges Wachstum als die acht lateinamerikanischen Schwellenländer (von denen Brasilien wiederum die günstigsten Ergebnisse erzielte). Nicht umsonst sprach man unter Vargas vom „brasilianischen Wirtschaftswunder“. Gegenüber der Zeit, in der das Export-Import-System in Lateinamerika am besten funktionierte (1870 bis 1913) erhöhte sich das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum dieser Schwellenländer in den Jahren 1950 bis 1973 um das anderthalbfache (5,5 % gegenüber 3,4 %). Noch deutlicher ist der Unterschied zur der der Importsubstitutionszeit folgenden, erneut durch (neo)liberale Weltmarktintegration geprägten Phase des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts (1973-1998). Das Wachstum sank von durchschnittlich jährlich 5,5 % auf 3,1 %) (Maddison 2001: 125 ff., 197).

Die erste, erfolgreiche Phase der Importsubstitutionspolitik, d.h. der Politik der Abkoppelung vom Weltmarkt, währte von Anfang der 1930er bis Mitte der 1950er Jahre. Eine zweite weniger erfolgreiche schloss sich daran an. Boris sieht ihr Ende Anfang bzw. Mitte der 80er Jahre (Boris 2001: 47-57), andere Autoren bereits in der ersten Hälfte der 70er Jahre (Foreman-Peck: 307-322). Das heißt, die Schwellenländer Lateinamerikas betrieben im 20. Jahrhundert mehr als vierzig oder mehr als fünfzig Jahre lang eine vorrangig auf die Bedürfnisse des eigenen Landes ausgerichtete Wirtschaftspolitik, was im 19. Jahrhundert nur einem einzigen südamerikanischen Staat, Paraguay, gelungen war.

Eine selbstbestimmte Haltung zur Weltmarktintegration hat sich in Lateinamerika im 20. Jahrhundert nicht nur im Einzelfall also als realisierbar erwiesen. Es bleibt noch die Frage zu beantworten, warum in den 1930er Jahren gelang, was im 19. Jahrhundert, wie geschildert, im Falle Argentiniens, Mexikos und Paraguays letztlich scheiterte.

6. Die Gründe für den gelungenen Rückzug vom Weltmarkt

Ausschließen kann man zunächst die Vorstellung, dass es das gemeinsame Vorgehen der lateinamerikanischen Schwellenländer war, dem über einen so langen Zeitraum eine selbstbestimmte Außenwirtschaftspolitik zu verdanken war, während im 19. Jahrhundert die Protektionisten in Mexiko, Argentinien bzw. Paraguay auf sich selbst gestellt blieben. Der Versuch, in Lateinamerika selbst Wirtschaftsblöcke – beginnend mit Freihandelszonen – zu schaffen, wurde erst 1950 mit der ALALC gemacht. Diese regionale Handelsorganisation blieb aber ohne wirtschaftliche Bedeutung, ebenso wie der 1969 gegründete Andenpakt oder die 1980 geschaffene ALADI.[8][8]

Was die Versuche Mexikos und Argentiniens, der durch die Metropolen gesteuerten Globalisierung Grenzen zu setzen, im 19. Jahrhundert von der des 20. Jahrhunderts unterscheidet, war zweifellos die in den 1930er und 1940er Jahren geschwächte Rolle der Exportoligarchie und des Großgrundbesitzes, die im 19. Jahrhundert stets die politische Herrschaft der Protektionisten bedroht hatten. Ausschlaggebend für das Gelingen des Ausstiegs aus der Weltmarktintegration waren jedoch die populistischen Regime nicht. Denn die „soziale Diktatur“ Francias und der Lopez in Paraguay besaß eine Massenbasis, die mit der von Cardenas, Vargas und Peron durchaus vergleichbar war. Das Ende des paraguayischen Experiments 1870 lenkt unsere Aufmerksamkeit in eine Richtung, in der am ehesten eine Antwort auf die gestellte Frage erwarten werden kann: auf die äußeren Rahmenbedingungen für den Rückzug der lateinamerikanischen Schwellenländer vom Weltmarkt aus. Die sahen in den 1930er Jahren anders als in den 1840er bis 1870er Jahren.

Erstens befand sich das Freihandelsprinzip spätestens seit dem Inkrafttreten des Freihandelsvertrages zwischen England und Frankreich 1860 auf einem weltweiten Siegeszug (Pohl 1989: 51). Die lange Phase fast ununterbrochenen wirtschaftlichen Wachstums zwischen 1857 bis 1873 (in Deutschland als Gründerjahre bezeichnet) wurde ganz allein der Wunderwirkung des ökonomischen Liberalismus zugeschrieben (Osterhammel/Pertersson 2003: 56, Roesler 2001: 32 ff.). Anfang der 30er Jahre befand sich dagegen die Weltwirtschaft und mit ihr das Freihandelsprinzip in ihrer bisher tiefsten Krise (Treue 1967: 17; Kurz 1999: 416). Das Sendungsbewusstsein der Wirtschaftsliberalen, die in den Staaten Europas und Nordamerikas die Wirtschaftspolitik bestimmten, schlug in Unsicherheit um. „Das Schlagwort Autarkie“, hieß es in einer Einschätzung der ordnungspolitischen Situation in Deutschland im Jahre 1932 „hat die größte Karriere gemacht, da es aufs beste sowohl außenpolitischen Massenstimmungen wie auch wirtschaftlichen Interessen entgegenkam.“ (Treue 1967: 387)

Zweitens blieb es nicht bei Diskussionen: Wie mit dem Smoot-Hawley Act in den USA 1930 bauten alle Metropolenländer Zollmauern auf und begannen durch Quoten die eigene Industrie gegen die Konkurrenz aus anderen Ländern zu schützen (Foreman-Peck: 198-199). Damit war es für die wenigen internationalen Wirtschaftsorganisationen, die es bereits gab (darunter die 1920 gegründete Internationale Handelskammer (Rosengarten) und die 1930 geschaffene Bank für Internationalen Zahlungsausgleich), kaum möglich, auf die lateinamerikanischen Länder Druck auszuüben, solange die kapitalistischen Kernländer selbst eine Politik der Abkoppelung vom Weltmarkt betrieben. Allein die Einführung der Quoten im Außenhandel Großbritanniens z.B. hatte den Argentiniern einen Rückgang der Gefrierfleischlieferungen in ihrem Hauptabsatzgebiet um 35 % beschert. Die Einführung der Devisenzwangsbewirtschaftung erfolgte in Argentinien 1932 nach deutschem Vorbild (James 2003: 218, 229).

Drittens war es aber nicht etwa so, dass die Länder der Metropole aus Schamgefühl darüber, dass sie selbst die Abkoppelung vom Weltmarkt betrieben, über die De-Globalisierungsbestrebungen der lateinamerikanischen Schwellenländer hinwegsahen. Vielmehr verringerte sich durch eine Reihe von Umständen die Erpressbarkeit der Schwellenländer so sehr, dass die lateinamerikanischen Staaten dem weiterhin seitens Großbritanniens und der neuen Hegemonialmacht USA ausgeübten Druck lange Zeit erfolgreich widerstehen konnten – wenigstens die größeren unter ihnen. Die Lieferungen von Nahrungsgütern und Rohstoffen an die westlichen Alliierten sowie die Achsenmächte (über das offiziell neutrale Franco-Spanien) brachten den lateinamerikanischen Schwellenländern gewaltige Exportüberschüsse. Diese resultierten nicht nur aus dem Umfang der Exporte, die u.a. dadurch gesichert wurden, dass die meisten lateinamerikanischen Staaten beide kriegsführenden Parteien belieferten und deshalb der Allianz gegen Deutschland – mit Ausnahme Mexikos – erst 1945 beitraten. Auch die Importe verringerten sich und wurden durch Erzeugnisse der „neuen Industrien“ ersetzt, schon deshalb, weil die Exportkraft der kriegführenden Metropolen durch die Einbindung von deren Industrie in die Kriegswirtschaft geschwächt war.

Den meisten Schwellenländern gelang es, sich zu entschulden und von Krediten aus Europa oder den USA unabhängig zu machen.

Die Nachkriegsjahre veränderten die günstige handelspolitische Lage für die lateinamerikanischen Schwellenländer zunächst nicht wesentlich. Westeuropa war noch Jahre nach Kriegsende stärker auf Importe aus Lateinamerika angewiesen, als die Schwellenländer auf Europa. Erst 1959/60 sah sich z.B. Argentinien das erste Mal gezwungen, beim IWF sowie bei europäischen und US-Banken einen 400-Mill. Dollar Kredit aufzunehmen, Brasilien griff ab 1955 wieder auf US-Kredite (im Umfang von 577 Mill. Dollar zwischen 1955 und 1960) zurück. Mexiko nahm 1961 bei der Weltbank eine Anleihe von 226 Mill. Dollar auf (Rado 1962: 86, 31, 830).

Viertens konnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Metropolen kaum daran denken, mit außerökonomischen Methoden die Schwellenländer wieder vollständig in den kapitalistischen Weltmarkt zu integrieren, wovor England im 19. Jahrhundert nicht zurückgeschreckt war. Das war auf das neue politische und bald auch militärische Kräfteverhältnis in der Welt zurückzuführen. Die politische Weltlage war durch die Blockkonfrontation gekennzeichnet (Kleinschmidt 1998: 373-377). Das zunehmende „Gleichgewicht der Kräfte“ auf militärischen Gebiet konnte noch nicht die von den USA gelenkte Intervention in Guatemala (Kossok 2000: 119) wohl aber bereits eine von den USA organisierte Beseitigung eines gegenüber die Wirtschaftsinteressen der Metropolen widersprechende Politik auf Kuba verhindern (Crankschaw 1971: 488-506).

Der Kalte Krieg dürfte auch dazu geführt haben, dass die ökonomisch von den USA (und Großbritannien) als feindlich betrachteten Maßnahmen der lateinamerikanischen Schwellenländer (wie die Verstaatlichung von in ausländischer Hand befindlichen Rohstofflagerstätten z.B. von Erdöl in Brasilien, Argentinien und Mexiko[9][9]) und von Infrastruktur (z.B. Eisenbahnen in Argentinien[10][10]) geduldet wurden, da die populistischen Regime politisch eine Sicherheit gegenüber der gefürchteten „kommunistischen Infiltrierung“ Lateinamerikas darstellten. Der Justicialismo Perons enthielt bei aller antiamerikanischen Ausrichtung Leitsätze, die es den USA angesichts der Blockkonfrontation dem populistischen Regime gegenüber jahrelang angeraten ließen, Nachsicht walten zu lassen, wie etwa die Losungen „gegen Kommunismus und Imperialismus“, „weder Feudalismus noch Kapitalismus“, „weniger Arme und Reiche“ (Kossok 2000: 118).

7. Schlussfolgerungen

Aus dem historischen Vergleich der Chancen für eine Einstiegsverweigerung bzw. eine Ausstiegsbewegung aus der Globalisierung lateinamerikanischer Staaten im 19. und 20. Jahrhundert lassen sich m. E. für die heute diskutierte Umgestaltung der Globalisierung entsprechend den Bedürfnissen der Masse der Bevölkerung in den Metropolen bzw. im Interesse der Mehrzahl der Staaten der Dritten Welt einige beachtenswerte Schlussfolgerungen ziehen.

Ein erster Schluss ist, dass erst eine deutlich spürbare Verschlechterung der sozialen Situation die Masse der Bevölkerung an der Alternativlosigkeit der seit mehreren Jahrzehnten von den Herrschenden betriebenen Wirtschafts- und Sozialpolitik zweifeln lässt, sofern diese davon bis zu einem gewissen Grade materielle Vorteile hatten. Zweitens muss bei der politischen Klasse an die Stelle der Gewissheit, dass ihre Herrschaft durch die liberale Wirtschaftsstruktur gesichert ist, Unsicherheit treten. Erst wenn sie eine Gefahr für ihre politische Herrschaft sieht, wird sie zu pragmatischen Maßnahmen, die de facto gegen den weiteren Vollzug der Globalisierung gerichtet sind, bereit sein. Wenn die Regierungen selbst aus pragmatischen Gründen zur Demontage des ordnungspolitischen Systems schreiten, auf der ihre ideologische Überzeugungskraft (auch gegenüber der Masse der Bevölkerung) beruht, erhöhen sich die Chancen, dass alternative ordnungspolitische Vorstellungen zur Gestaltung der Weltwirtschaft und der des eigenen Landes nicht nur in linken intellektuellen Kreisen sondern in größeren Kreisen der Bevölkerung diskutiert werden.

Man mag in diesem Zusammenhang einwenden: Zur Zeit gibt es keine Weltwirtschaftskrise. Und doch ist die Situation Anfang des neuen Jahrhunderts mit der Anfang der 30er Jahren des 20. Jahrhundert bis zu einem gewissen Grade vergleichbar. Der Neoliberalismus, der die neue Globalisierungsphase seit den 1970er Jahren ideologisch trägt (Osterhammel/Pertersson 2003: 26 f.) hat in den 90er Jahren (mit Ausnahme der USA) und weltweit mit der New Economy-Krise zur Jahrtausendwende (vgl. Stiglitz 2004) bedeutende Schwächen gezeigt und einen beträchtlichen Teil seiner Überzeugungskraft – als die gegenüber dem 1989/90 gescheiterten planwirtschaftlichen Sozialismus effektivere und letztlich alternativlose Wirtschaftsweise – verloren. Die außerordentlichen sozialen Verwerfungen im Gefolge von Asienkrise und Lateinamerikakrise haben die für die politische und wirtschaftliche Stabilität verantwortlichen Regierungen einiger Staaten (Mahathir in Malaysia, Kirchner in Argentinien) dazu veranlasst, sich den US-amerikanischen „Globalisierungsinstitutionen“ IWF und Weltbank zu widersetzen.[11][11] In der weniger eindeutig von den USA und Westeuropa beherrschten WTO stoßen US-Amerikaner und Europäer zunehmend auf die Verweigerungshaltung der von Brasilien und Indien geführten Schwellenländer (G 20). Die Häufigkeit und die (zumindest bisherige) Straflosigkeit der Verletzung des neoliberalen Credos der Maastrichtkriterien in der Europäischen Union durch Frankreich und die Bundesrepublik zeigt, dass die Unsicherheit in der politischen Klasse hinsichtlich der Möglichkeit, die neoliberale Politik unbeirrt fortzusetzen, zunimmt.

Was die Anwendung außerökonomischer Mittel zur Verhinderung eines Ausstiegs aus der kapitalistischen Globalisierung durch die Metropolen (USA, Europäische Union) betrifft, so haben sich die USA durch die Invasion in Afghanistan und im Irak in den Augen der Weltöffentlichkeit nicht nur weitgehend diskreditiert, sondern es hat sich auch die Besetzung dieser Länder als zu teuer und kostspielig erwiesen, um von den Metropolen in Zukunft als beliebig einsetzbares Mittel betrachtet gehandhabt zu werden.

Das häufig beklagte Fehlen eines ausgearbeiteten alternativen wirtschafts- bzw. ordnungspolitischen Konzepts auf Seiten der heutigen Globalisierungskritiker[12][12] darf – unter Berufung auf den historischen Vergleich – nicht so negativ bewertet werden, wie das zuweilen geschieht. Auch in den 30er Jahren ergab sich in den lateinamerikanischen Staaten die Kehrtwende vom Export-Import-System zur Importsubstitution nicht auf der Grundlage einer ausgearbeiteten Theorie und eines beschlossenen Konzeptes von oppositionellen Parteien oder Bewegungen, sondern in der Regel auf dem Wege von „Trial and error“. Die „vollständige Theorie“ der in Elementen bereits eingeführten und sich in der wirtschaftlichen Praxis bewährenden Politik der Importsubstitution wurde später „nachgereicht“.[13][13]

Doch wird das Ausscheiden einzelner Länder aus der kapitalistischen Weltmarktintegration kaum diskutiert. Anziehender ist gewiss der Gedanken, dass die Weltwirtschaft mit Hilfe internationaler Wirtschaftsorganisationen eine umgewandelte wird (Stiglitz 2002: 246-288).

Fraglich ist in diesem Zusammenhang nicht so sehr, ob „demokratisch gewandelte“ weltwirtschaftliche Institutionen wie IWF, Weltbank oder WTO „menschliche Dimension“ in die Globalisierung einzuführen in der Lage sind. Kaum zu beantworten ist vielmehr die Frage, wie die USA (und die EU bzw. Japan, kurz „die Globalisierungsprofiteure“) dazu gebracht werden sollen, auf ihren egoistischen Einfluss auf diese Organisationen zu verzichten. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich die internationalen Wirtschaftsinstitutionen – wie schon in den 1930er Jahren – wegen der sich verschärfenden Gegensätze zwischen den Wirtschaftsblöcken der Metropolen und der Auseinandersetzungen zwischen Metropolen und Schwellenländern selbst blockieren werden und damit als Instrument einer „menschlichen Globalisierung“ nicht zu gebrauchen sein werden (James 2003: 15, 25).

Schließlich lässt sich nicht voraussehen, wer im Falle der Umgestaltung oder Einschränkung der Weltmarktintegration Gegner oder Befürworter der dazu notwendigen praktischen Maßnahmen sein wird. Die sozialen Bündnisse, die jene populistischen Regime stützten, die ab Mitte der 30er Jahre in den lateinamerikanischen Schwellenländern der Importsubstitionspolitik und damit einer effektiveren und sozial ausgewogeneren wirtschaftlich Entwicklung dauerhaft zum Durchbruch verhalfen, waren Ende der 20er Jahre noch nicht zu erkennen.

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[1][14] Osterhammel/Pertersson (Historiker der Universität Konstanz) z. B. beziehen sich auf das Kommunistische Manifest als „eine der nach wie vor packendsten Schilderungen des globalen Kapitalismus“ (Osterhammel/Pertersson 2003: 109). Der Oxforder Wirtschaftsprofessor Foreman-Peck eröffnete 1995 sein der Geschichte der Weltwirtschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts gewidmetes Buch mit einem passenden Zitat aus dem Manifest von Marx und Engels (Foreman-Peck: 1). Vgl. auch den Abschnitt „Globalisierung bei Marx und Engels“ in: Fuchs/Hofkirchner 2001: S. 24-25.

[2][15] Dazu gerechnet werden von den heute 44 Staaten in der Regel acht, darunter alle großen Flächenstaaten, genannt: Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbinen, Mexico, Peru und Venezuela (Maddison 2001: 197).

[3][16] Im Jahre 1913 entstammte etwa ein Zehntel des britischen Nationaleinkommens von Investitionen, die das Land im Ausland getätigt hatte (Foreman-Peck-Peck: 125).

[4][17] Im Jahre 1883 wurde in Argentinien die erste Gefrieranlage gebaut. (Hanzelka/Zikmund 1956: 58).

[5][18] U.a. wurde in Chile kurzzeitig die „sozialistische Republik“ ausgerufen.

[6][19] Von 1935 bis 1937 sank der argentinische Anteil am britischen Import an gefrorenem und gekühltem Rindfleisch von 62,2 % auf 61,5 % (James 2003: 222).

[7][20] Der gewerkschaftliche Organisationsgrad war sehr hoch. Die Mitgliederzahl stieg zwischen 1946 und1948 von knapp 09,9 auf 1,5 Millionen Mitglieder. 1947/49 zählte man in Argentinien 1.00.000 Industriearbeiter; 200.000. Bauarbeiter und 450.000 Transportarbeiter (Kossok 2000: 118).

[8][21] ALALC: Asociacion Latinoamericana de Libre Comercio; ALADI : Asociacion Latinoamericada de Integracion. (Prada 2001).

[9][22] Die Regierung Cardenas verstaatlichte im März 1938 die amerikanischen, englischen und niederländischen Ölgesellschaften (Kossok: 156).

[10][23] Die von ihm als wichtigste bezeichnete „Entprivatisierungsmaßnahme“ Perons war die Verstaatlichung der zu zwei Dritteln in englischem Besitz befindlichen argentinischen Eisenbahnen im März 1948 (Hanzelka/Zikmund: 59).

[11][24] Vgl. Stiglitz, 2002:146; Ingo Malcher, Vabanque-Spiel des Präsidenten. Schulden streit zwischen Argentinien und IWF geht in neue Runde, in: Süddeutsche Zeitung vom 9. 3.2004.

[12][25] „Bislang ist.... die ATTAC-Bewegung noch nicht sehr weit über die Organisation von Protest und Kritik hinausgelangt“, kritisiert z. B. Kai Mosebach (Mosebach 2001:78).

[13][26] Ähnliches gilt übrigens für das New Deal Franklin D. Roosevelts, das wesentliche wirtschaftspolitische Maßnahmen, die Keynes in seinem 1936 erschienenen Hauptwerk begründete, bereits 1933 in die Wirtschaftspraxis einführte (Faulkner 1957: 673-677).

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