Klassenanalyse und Intelligenz heute

Widersprüchliches im Lehrberuf: Prekarisierung und Professionalisierung

von Karl-Heinz Heinemann
Dezember 2013

Lehrerinnen und Lehrer haben mit den Bundeswehrsoldaten etwas gemeinsam: Sie leiden unter grässlichen Minderwertigkeitskomplexen, die Soldaten, weil ihre Kriegsleistungen in der Bevölkerung nicht wertgeschätzt würden, was aber gar nicht stimmt, wie Thomas de Maizière kürzlich in der FAS feststellte. Den Lehrern geht es genauso. In der Öffentlichkeit ist ihr Beruf angesehen, er rangiert in der Wertschätzung natürlich vor Journalisten, inzwischen aber auch vor Hochschullehrern, doch über die Hälfte der von Allensbach im Auftrag der vodafoneStiftung befragten Lehrkräfte litt unter dem vermeintlich schlechten Image ihres Berufs in der Öffentlichkeit.[1]

Das sind die vom damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder gegeißelten faulen Säcke. Adorno hat sie vor 50 Jahren, am 20. Mai 1963, eleganter als „archaisch zurück geblieben hinter der Zivilisation“ geschildert, als ein Beruf, der geprägt sei durch „Keifen, Querulieren, Schelten und dergleichen“[2], und durch Reaktionsweisen nahe an der physischen Gewalt. Das Tabu über dem Lehrberuf, so hieß Adornos Essay, scheint gebrochen: Das Verbot, das über diesem Beruf hing, den so mancher nur notgedrungen ergriff, weil er (damals noch seltener sie) mit dem geisteswissenschaftlichen Studium sonst nichts anfangen konnte. Man schämte sich, Lehrer zu sein. Adorno zitiert aus Heiratsannoncen, in denen die Inserenten betonen, dass sie, obwohl Lehrer von Beruf, keine Lehrertypen seien. Damals galt der Universitätsprofessor noch sehr viel mehr als ein Lehrer. Adorno stellt fest, dass es eine Diskrepanz gebe zwischen dem Anspruch des Geistes auf Status und Herrschaft, für den der Lehrer einstehe, und der demgegenüber bescheidenen materiellen Position. Und suspekt sei das Pädagogische an der Lehrerfunktion: Die Sache, die er betreibt, wird pädagogisiert, die Kinder schon dürften sich dadurch unbewusst betrogen fühlen, denn das sei irgendwie unehrlich. Die Lehrertätigkeit gehöre, begründet er die Abneigung noch quasi politökonomisch, zur Zirkulationssphäre und sei schon deshalb suspekt. Ihm dagegen, Adorno, sei das als akademischem Lehrer fremd, er vertrete seine Sache ohne Berechnung auf Einflussnahme halt authentisch.

Soweit Adorno damals. Manches hat sich verändert, aber einiges seiner Kritik wird heute noch gern in der Linken aufgegriffen. Heute muss sich niemand mehr allein deshalb abgewertet fühlen, weil er in der Zirkulationssphäre arbeitet, im Gegenteil, die im Gehalt sich ausdrückende Wertschätzung übertrifft ja die der produktiv Arbeitenden bei weitem.

Was hat sich verändert?

Erstens: Das Image des Lehrers, der Lehrerin

Gegenwärtig macht der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie mit seiner Studie „Lernen sichtbar machen“[3] Furore. Ihm gelang es, mit einer methodisch ziemlich aberwitzigen Meta-Meta-Studie zum Bildungsforscher-Star zu werden. Seine zentrale Botschaft ist trivial, wird aber gern gehört: Vergesst die Forderung nach kleineren Klassen, die bringt für den Lernfortschritt der Kinder nichts: Es kommt auf den Lehrer an.

Durch den PISA-Diskurs hat sich der Blick auf die Lehrerschaft verändert: Sie wird ernster genommen, aber die Bildungspolitiker, die Erziehungswissenschaft und die Öffentlichkeit erwarten auch mehr von ihnen. Doch mit dem Imagegewinn haben sie auch Freiheiten verloren. Die Grundschullehrerin, die nach getaner Arbeit dem Gatten noch pünktlich das Mittagessen servieren konnte, wird es nicht mehr geben. Einfach, weil neben und nach dem Unterricht von Lehrern noch sehr viel mehr erwartet wird. Der Gymnasiallehrer, der skrupellos Jahrzehnte lang die Oberstufenschüler mit dem Extrakt seiner Examensarbeit traktieren konnte – in Zeiten von Zentralabitur, von genau spezifizierten Vorgaben ist das vorbei.

Zweitens: Angleichung der Lehrergruppen und Prekarisierung

Für Lehrerinnen gibt es die Diskrepanz zwischen dem Anspruch von Status und Herrschaft des Geistes einerseits und schlechter materieller Stellung andererseits nicht mehr, zumindest nicht mehr in dieser Form.

Zu Adornos Zeiten waren die beiden Pole der Gegenüberstellung ja unterschiedlichen Lehrergruppen zugeordnet: Den Studienräten als Vertretern des Geistes und der vermeintlichen Herrschaft desselben auf der einen Seite, die schlechte materielle Stellung den Volksschullehrern, die damals noch nicht mal eine vollwertige akademische Ausbildung genossen, auf der anderen. Aber da letztere an der Uni nicht präsent waren, tauchen sie auch nicht so recht in Adornos Vorstellung auf. Die Volksschullehrer waren die Gewinner des Bildungsaufbruchs, der durch den Bildungsgesamtplan, die Gutachten des Deutschen Bildungsrats und die ersten Gesamtschulgründungen gekennzeichnet ist. Die Volksschule wurde zur Hauptschule, in ihr sollte nicht mehr volkstümliche, sondern wissenschaftsorientierte Bildung vermittelt werden. Die Lehrerausbildung, die zunächst von den Lehrerbildungsanstalten an die pädagogischen Hochschulen gewandert ist, wurde in den meisten Bundesländern in die Universitäten integriert. Was blieb war die Gehaltsdiskrepanz zwischen niederem und höherem Lehramt. Sie wurde damit begründet, dass die Ausbildung unterschiedlich lang sei. Das Argument fällt jetzt auch weg, wenn die Ausbildung im Bachelor- und Master-System neu geordnet und damit auch gleich lang wird. Gewerkschaftspolitisch steht die Angleichung aller Lehrereinstiegsgehälter auf der Tagesordnung.

Folgerichtig wäre es auch, Lehrämter nicht mehr nach Schulformen zu unterscheiden, sondern bestenfalls nach Schulstufen, also den zu unterrichtenden Altersgruppen. Ansätze dazu gab es etwa in NRW und Hessen, den Stufenlehrer, sie sind aber wieder in der Versenkung verschwunden. Hier bestünde also berufspolitischer Handlungsbedarf.

Gehaltsunterschiede gibt es heute nicht nur zwischen den Lehrämtern, sondern vor allem zwischen verbeamteten und angestellten Lehrerinnen und Lehrern. Letztere werden von Land zu Land unterschiedlich in den Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes eingruppiert. Sie bekommen ohnehin ein oft bis zu tausend Euro niedrigeres Nettogehalt als die verbeamteten Lehrer. In der letzten Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst hat die GEW versucht, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Letztlich ist sie damit wieder gescheitert – die in den Verhandlungen führende Gewerkschaft verdi hat offenbar kein großes Interesse daran, etwas für die Kollegen von der GEW zu tun. Es bleibt festzuhalten: Auch Grund- und Hauptschullehrer sind nicht mehr arm. Sie empfinden sich als materiell gesichert, wenn sie BeamtInnen sind.

Übers.: Haupt- und nebenberufliche Lehrer/-innen an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen 1990-2012 (in Tsd.)

Jahr

1990/91

1995/96

2000/01

2005/06

2010/11

2011/12

Zahl

624,9

828,6

851,4

856,7

881,9

878,1

Quelle: Destatis 2013 (Stat. Bundesamt)

Doch obwohl ständig über einen neuen Lehrermangel geklagt wird, breiten sich erstaunlicherweise prekäre Arbeitsverhältnisse auch unter Lehrkräften aus. Im Bereich der Erwachsenenbildung sind sie ohnehin vorherrschend. Rund 200.000 Lehrerinnen und Lehrer werden nur als Angestellte bezahlt. Sie sind oftmals tariflich schlechter eingruppiert als ihre beamteten KollegInnen, und sie müssen ihre Sozialversicherungsbeiträge bezahlen. Das kann monatliche Gehaltsdifferenzen von 1.000 Euro ausmachen. Beamte sind übrigens auch für die öffentlichen Arbeitgeber billiger – allerdings nur kurzfristig. Für sie müssen keine Arbeitgeberbeiträge an Kranken- und Rentenkassen abgeführt werden. Dass sie später mit den Pensionslasten umso stärker in den öffentlichen Kassen zu Buche schlagen, interessiert erst einmal nicht.

Rund 30.000 Lehrerinnen und Lehrer haben nur befristete Arbeitsverträge. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat die genaue Zahl noch nicht ermitteln können. Unter anderem deshalb, weil geschätzte Zehntausend mit Verträgen arbeiten, die jeweils zum Schuljahresende auslaufen. Während der Ferien melden sie sich arbeitslos, um zum Schuljahresbeginn wieder eingestellt zu werden. Während auf der einen Seite, von den Ausbildungsbedingungen und von der Entwicklung der Schulformen sich Lehrämter immer mehr angleichen, wird auf dem Arbeitsmarkt immer stärker differenziert: Berufsschullehrerinnen, Mathe- und Naturwissenschaftslehrerinnen bekommen ganz rasch Beamtenstellen, während manche Deutsch- und Geschichtslehrer sich von einer Befristung zur nächsten hangeln müssen. Da tun sich im Lehrerzimmer Gehaltsdifferenzen auf, wie sie auch in anderen Betrieben zwischen Stammbelegschaft und Zeitarbeitskräften üblich sind. Hinzu kommt, dass dank der Föderalismusreform II die Länder ihre Lehrkräfte unterschiedlich bezahlen können. Das führt nicht nur dazu, dass etwa gesuchte Naturwissenschaftler oder Berufsschullehrer Gehaltszulagen bekommen, sondern dass Länder wie Bayern mit besseren Konditionen Lehrkräfte aus Mecklenburg-Vorpommern abwerben können.

Berlin ist das einzige Bundesland, das bisher daran festhält, Lehrkräfte nur noch als Angestellte einzustellen. Diese angestellten Lehrerinnen und Lehrer sind 2013 mehrfach in Streik getreten – sie kämpfen für gleiche Arbeitsbedingungen, gemessen an den verbeamteten Kollegen. Es ist kein Zufall, dass bisher nur in Berlin gestreikt wurde: Dort sind vor allem jüngere Lehrer als Angestellte schlechter gestellt. In anderen Bundesländern sind vor allem ältere Kollegen im Angestelltenstatus: DDR-Lehrer, denen der Beamtenstatus verwehrt wurde und diejenigen, die bei ihrer Einstellung zu alt für eine Verbeamtung waren.

Drittens: Sicherheitsbedürfnisse und ungenützte Spielräume

In der GEW scheint der Beamtenstatus für Lehrkräfte heute völlig unumstritten zu sein. Gerade der mache den Beruf ja materiell attraktiv, argumentieren GEW-Funktionäre. Die Gewerkschaft setzt sich freilich für das volle Streikrecht für Beamte ein und hat damit auch vor dem Verwaltungsgericht in Düsseldorf 2011 Erfolg gehabt. Zu Zeiten des Berufsverbots wurde über das besondere Treueverhältnis der Beamten zum Staat räsoniert. Das Dienst- und Treueverhältnis des Beamten überformt den Status des abhängig Beschäftigten. Das wird selbst von bürgerlichen Arbeitsrechtlern kritisiert, hat doch der Lehrer heute keine hoheitlichen Aufgaben, vergleichbar mit denen eines Polizisten, Richters oder Vollzugsbeamten. Es gibt gute Gründe auch dafür, nicht am Beamtenstatus zu rütteln. Bei den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen muss man befürchten, dass jede Veränderung des Status quo eine Verschlechterung bedeutet. Und die materielle Situation der angestellten Lehrerinnen und Lehrer wirkt eher abschreckend.

Sicher, auch als angestellter Lehrer hat man einen sicheren Arbeitsplatz. Wieder mal herrscht Lehrerinnenmangel, und die Länder lassen sich etwas einfallen, um besonders begehrte Pädagoginnen anzuwerben. Aber nichts steht so sehr für Sicherheit und Stabilität wie der Beamtenstatus. Und der zieht nun auch Menschen mit einem hohen Sicherheitsbedürfnis an. Drei Viertel der Lehramtsstudierenden geben an, dass die besondere ökonomische Sicherheit für sie ein Motiv war, Lehrer zu werden. Dafür wird ihnen wenig Mobilität geboten und wenig Mobilität abverlangt. Auch das mag attraktiv sein. Ich kenne sechzigjährige Studienrätinnen, die noch an derselben Schule unterrichten, an der sie das Referendariat gemacht haben. Das Sicherheitsbedürfnis spielt für die Berufswahl von Lehrerinnen eine größere Rolle als die relative Freiheit in der Gestaltung des Arbeitsplatzes. Das haben verschiedene Studien unter Lehramtstudierenden und zur Belastung im Lehrerberuf gezeigt.[4] Sicher, die Zeiten des Lehrers als Halbtagsjobber sind längst vorbei, aber immer noch haben Lehrer eine größere Zeitsouveränität als andere. Und Lehrer sind immer noch weitgehend Einzelkämpfer, jeder kann nach seiner Fasson unterrichten. Eine Freiheit, die einerseits durch immer mehr Vorgaben – Schulentwicklung, Qualitätsanalysen, Schulprogramme etc – eingeschränkt wird, die aber auch ohne diese Einschränkungen von Lehrern oft gar nicht wahrgenommen wird. Der anfangs erwähnte Pädagogen-Harry Potter zum Beispiel, John Hattie, kommt am Ende seiner gigantischen Meta-Meta-Analyse von Untersuchungen, was denn wirkt in der Schule, zu dem Ergebnis: Bei den Lehrern wirkt eigentlich alles, Hauptsache, sie sind davon überzeugt und sind in der Lage, das, was sie für richtig halten, auch stringent durchzusetzen. Doch spricht man mit Lehrern, so klagen sie über Gängeleien und Vorschriften, sie sind ängstlich; das erlebt man als Journalist in kaum einer Berufsgruppe so sehr wie bei den Lehrern: Hat man eine Genehmigung der Bezirksregierung? Was sagt der Schulleiter? Ist das rechtlich gedeckt?

Ich behaupte: Lehrerinnen und Lehrer nützen ihre Freiräume nicht aus. Sie haben ein hohes Sicherheitsbedürfnis und sind manchmal ängstlich. Da findet sich vieles wieder von dem, was Adorno über die Lehrer festgestellt hat.

Viertens: Berufsziele, schulische Praxis, Lehrerausbildung

Den Anspruch an Status und Herrschaft haben Lehrer und hat die akademische Welt verloren. Der Beruf des Lehrers wird nicht mehr als herrschaftliche Funktion begriffen. Lehrer müssen nicht mehr den unbefriedigten Anspruch vor sich her tragen, Agenten des ideologischen Apparats der Herrschenden zu sein, gleichzeitig aber zu den materiell Entrechteten zu gehören.

Die Schülerschaft eines Gymnasiums unterscheidet sich heute radikal von der in den sechziger Jahren, als Adorno seinen Essay schrieb. Gymnasiallehrerinnen und -lehrer – ja, heute gibt es auch an Gymnasien mehr Lehrerinnen als Lehrer, übrigens auch ein Zeichen dafür, dass der Anspruch an Status und Herrschaft im Niedergang ist – sind nicht mehr die Torwächter zur Welt des Geistes, der Wissenschaft und des humanistischen Erbes, oder gar zu den Herrschaftsfunktionen, sondern sie verteilen Lebenschancen für etwa 40 Prozent der Bevölkerung in Gestalt von Zehntelnotenpunkten, die beim Numerus Clausus zu Buche schlagen. Sie können Kindern, etwa aus Zuwandererfamilien, den Weg in eine gesicherte bürgerliche Existenz eröffnen oder verbauen. Und man darf durchaus unterstellen, dass die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer sich so sieht, dass sie Chancen eröffnen wollen und Unterprivilegierte fördern wollen.

Die Heterogenität der Klientel ist ein zentrales Thema in der Pädagogik und für die Lehrerinnen und Lehrer. Nicht wenige leiden darunter. Bei den in diesem Beruf sicher häufigen Ausgebrannten und Frühpensionierten wird als Belastungsfaktor an erster Stelle der Kampf mit Vorgesetzten, Kollegen und Vorschriften genannt, an zweiter aber die Belastung durch eine immer schwieriger zu beherrschende Schülerschaft.

Es gibt eben konfligierende Motive für die Wahl des Lehrerberufs: Diejenigen, die die ökonomische Sicherheit wollen, sind oft nicht die intellektuell aufgeschlossensten; und diese sind die für die Belastungen in dem Beruf auch besonders anfällig. Auf der anderen Seite stehen aber jene, und das ist die Mehrheit, wie die schon erwähnte Vodafone-Studie zeigt, bei der die inhaltlichen Motive im Vordergrund stehen – das Interesse an der Vermittlungstätigkeit an erster Stelle, gefolgt von der Freude an der Arbeit mit jungen Menschen, und erst dann kommt das fachliche Interesse . Das war früher sicher anders, als der Deutsch-Lehrer eigentlich lieber Lektor bei Suhrkamp geworden wäre und aus nackter Not in die Schule gegangen ist.

Die Lehrerausbildung wird gerade im Sinne eines Professionsstudiums umgestaltet. Die alte Volksschullehrerausbildung war kaum wissenschaftliches Studium, sondern Berufsausbildung. Und die Gymnasiallehrerausbildung hatte wenig Bezug zum Lernen und Lehren. Diese Umgestaltung wird in der Linken oft kritisch gesehen. Viele sehen in der Ausrichtung auf die Profession eine unzulässige und wissenschaftsfeindliche Verkürzung des Anspruchs auf Bildung.

Für Adorno war die Vermittlungstätigkeit des Lehrers minderwertig, mit dem Makel behaftet, man wolle einem Schüler, einer Schülerin etwas hintenrum aufschwatzen oder mit psychischer oder gar physischer Gewalt beibiegen. Die Pädagogik, namentlich die so genannte geisteswissenschaftliche, war eine historische Wissenschaft mit der Aufgabe der Legitimation von Schule und Herrschaft. Ihr praktischer Wert für die Berufstätigkeit in der Schule tendierte gegen null. Bestenfalls ließ sie sich kritisch wenden, denkt man etwa an Heinz Joachim Heydorn und Hans Jochen Gamm. Kritische Erziehungswissenschaft konnte angehenden Lehrerinnen und Lehrern dazu verhelfen, ihr eigenes Handeln und die Institutionen Schule und Erziehung kritisch zu hinterfragen, als Herrschaftsinstrument, zu entlarven. Von dieser kritischen Erziehungswissenschaft, die versucht, einen emanzipatorischen Bildungsbegriff zu bestimmen, ist herzlich wenig geblieben. Einige seiner VertreterInnen sammeln sich nun im Gesprächskreis Bildung bei der Rosa Luxemburg-Stiftung, der gerade im Entstehen ist.

Das Lehrerstudium soll stärker auf die berufliche Praxis bezogen werden, das heißt, es soll Praktikumsphasen enthalten, die Unterrichts- und Schulpraxis reflektieren, den Vermittlungsprozess auch im fachlichen Lernen in den Mittelpunkt stellen. Die Lehrertätigkeit wird anders begriffen: Was das Kerngeschäft, das Unterrichten betrifft, wird ein Perspektivenwechsel vom Lehren zum Lernen propagiert, das heißt, Lehrerinnen sollen lernen, stärker den Lernprozess des Schülers im Blick zu haben. Dieser Perspektivenwechsel wird gern technokratisch verkürzt dargeboten: Als käme es nur noch auf die Methoden an, nicht mehr auf die Inhalte, meist ist dann von Kompetenzorientierung die Rede.

Und nun komme ich noch mal auf John Hattie zurück: Er propagiert nicht, wie er von konservativer Seite oft gedeutet wird, die Rückkehr zum alten lehrerzentrierten Unterricht, sondern er hat einen Lehrer im Blick, der seinerseits vor allem auf die Schüler guckt – was sie machen, was sie lernen. Der Lehrer, den er propagiert, ist engagiert für seine Sache und vermag deshalb auch Schüler zu überzeugen. Lehrersein geht also nicht in der Anwendung der richtigen, vermeintlich schüleraktivierenden Techniken auf. Ein erfolgreicher Lehrer ist von seinem Gegenstand überzeugt. Er versucht nicht, Schülern hintenrum etwas beizubiegen, wie es Adorno unterstellt, sondern kann den Lernprozess transparent und klar strukturieren.

Lehrerinnen und Lehrer müssen sich mit den Erfolgsbedingungen ihres Handelns beschäftigen, und deshalb ist es notwendig, das Lehrerstudium als Professionsstudium anzulegen. Dazu gehört die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle und mit der gesellschaftlichen Funktion von Schule. Die eigene Rolle wird im Lehrerstudium nur im Mikrobereich reflektiert, also in der unmittelbaren Schüler-Lehrerbeziehung, und auch das ist schon überdurchschnittlich viel. Wichtig wäre es, die Funktion von Schule für die Verteilung von Lebenschancen und vor allem für ihre Legitimation zu thematisieren, und angehende Lehrer zum eigenen Engagement zu ermutigen – damit werden sie gegenüber ihren Schülern überzeugender als mit der richtigen Anordnung von Stuhlkreisen und anderen methodischen Spielereien.

Bei aller Professionalisierung brauchen Lehrerinnen und Lehramtsstudierende die Distanz zu ihrer Arbeit und der Institution, in der sie arbeiten. Es ist ja das Ziel von Bildung, Differenzen wahrzunehmen, sich distanzieren zu können.

In den frühen siebziger Jahren gab es in der marxistischen Studentenbewegung heftige Auseinandersetzungen um den richtigen Weg: Die akademische Intelligenz als soziale Schicht expandierte, sie war längst nicht mehr nur Teil und Agent des Herrschaftsapparats, sondern begriff sich auch selbst zunehmend als zu den Lohnabhängigen zugehörig. Folgerichtig wurde vom MSB Spartakus damals die Politik der „gewerkschaftliche Orientierung“ ausgerufen, sprich: Die Konzentration auf unmittelbar gewerkschaftliche Interessen: Bafög, Wohnraum, Studiengebühren. Die Wissenschaftskritik, eine Erbe der 68er-Studentenbewegung, galt als nicht massentauglicher Sonderweg. Als Abweichung galt auch das, was etwa in Marburg als „Doppelqualifikation“ bezeichnet wurde: Die Fähigkeit, professionelles Wissen und Handeln kritisch zu hinterfragen. Für mich ist es vor allem dieser kritische Anspruch, der damals als intellektuelle Abweichung kritisiert wurde, der sich als nach wie vor gültig erwiesen hat. Der Anspruch, junge Wissenschaftler für den Beruf zu qualifizieren und zugleich dazu, ihre Profession kritisch zu hinterfragen, ist ein nach wie vor gültiger Maßstab, der an die Reform der Lehrerausbildung ebenso anzulegen ist wie an die verunglückte Bologna-Reform.

[1] Lehre(r) in Zeiten der Bildungspanik. Eine Studie zum Prestige des Lehrerberufs und zur Situation an den Schulen in Deutschland. Vodafone Stiftung Deutschland, Düsseldorf, 24. April 2012.

[2] Theodor W. Adorno: Tabus über dem Lehrberuf, in: Th. W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/M 1971, hier zitiert nach: www2.ibw.uni-heidelberg.de/~gerstner/TabusText.pdf

[3] John Hattie: Lernen sichtbar machen, Baltmannsweiler 2013.

[4] So z.B. Udo Rauin: Im Studium wenig engagiert –im Beruf schnell überfordert. Studierverhalten und Karrieren im Lehrerberuf – Kann man Risiken schon im Studium prognostizieren? www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/download/Rauin_Studierverhalten.pdf‎.