Editorial

März 2014

Musik ist im Alltagsleben allgegenwärtig. Sie ist ein Prozess mit vielen beteiligten Akteuren – von den ästhetisch-künstlerisch und technisch Produzierenden über die Rezipienten und Hörenden bis zu den ökonomischen Verwertern. Und so, wie die Voraussetzungen und Bedingungen von Musikmachen stets gesellschaftlich-kulturell geprägt sind, so auch das Musikverstehen. In die Deutung des Sinns von Musik gehen Bedürfnisse, Interessen, soziale Gebrauchszusammenhänge ein, aber auch wirtschaftliche Organisationsformen, technologische und mediale Voraussetzungen. All dies lässt auch die ästhetische Gestalt bestimmter Musikformen nicht unberührt. Der Frage, wie und worin sich dieser gesellschaftliche Charakter von Musik zeigt und wie er gefasst werden kann, sind die Beiträge des Schwerpunkts „Musik und Gesellschaft“ im vorliegenden Heft gewidmet. Dem soll im Folgenden mit Blick auf ganz unterschiedliche Bereiche der Musik nachgegangen werden.

Einführend gibt Richard Sorg nach einem kurzen historischen Rückblick und einer Betrachtung von Theodor W. Adornos musiksoziologischen Überlegungen eine knappe Skizze der Musikphilosophie von Hegel, der Musik als „kadenzierte Interjektion“, als künstlerische Formung natürlicher menschlicher Laute, verstand und das Gesellschaftliche von Musik bereits in ihrem Ausdrucks- und Mitteilungsbedürfnis enthalten sah. Er stellt daran anschließend das musikwissenschaftlichte Konzept von Hanns-Werner Heister vor, der anknüpfend an Hegel und an die materialistische Theorietradition Musik als In- und Miteinander von ‚Natur’ und ‚Kunst’ begreift, als eine besondere Sprache zur Aneignung der Wirklichkeit, widergespiegelt im ästhetischen Material „als ihr Abbild und zugleich ihr Gegenbild“.

Diesem Einstieg folgen eine Reihe Beiträge, die die Frage nach dem Gesellschaftlichen in der Musik mit Blick auf die Musikgeschichte untersuchen. Friedrich Tomberg geht mit Blick auf Händel und seine Zeit von der Diskrepanz zwischen bedrückenden gesellschaftlichen Verhältnissen und der Heiterkeit und Schönheit der Musik aus, die oft als ‚Affirmation’ (Adorno) kritisiert wurde. Er verweist darauf, dass Kunstwerke oft beides zugleich zu sein vermögen: „Instrumente ideologischer Beeinflussung wie auch implizit das Spürbarmachen eines ganz anderen, dem Entgegenstehenden“. Auf die Gegenwart gewendet plädiert Tomberg dafür, sich nicht eurozentrisch auf die kulturelle Malaise Europas zu fixieren, sondern den Horizont auszuweiten in Richtung auf eine erst noch werdende neue Weltkultur. Vor dem Hintergrund, dass Richard Wagners Musikdrama „Der Ring des Nibelungen“ immer wieder als eine Kritik an Kapitalismus und Geldherrschaft gedeutet wurde, fragt Kai Köhler nach der Art dieses zwiespältigen Antikapitalismus. Seine These: Anders als in der Zeit seiner Teilnahme an der Märzrevolution sei für den Wagner des „Ring“ Politik überhaupt das Übel, so dass die Tetralogie das „Paradox eines revolutionären Konformismus“ darstelle, was der Rezeption durch das deutsche Publikum entgegen kam. Frank Schneider beschreibt frühe Versuche von Komponisten neuer Musik, mit der Gründung von Berufsverbänden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts angesichts der auf Klassik und Romantik fixierten Kanonisierung des Konzert- und Opern-Repertoires Möglichkeiten für eine angemessene öffentliche Präsenz ihrer neuen Musik zu schaffen, der er eine nach wie vor fragile Existenz „zwischen Pop-Delirium und Klassik-Rausch“ bescheinigt. Gerd Rienäcker erörtert am Beispiel des Brecht/Eisler’schen Lehrstücks „Die Maßnahme“ und dessen umstrittener Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte die Schwierigkeiten und Widersprüchlichkeiten von Verhaltensweisen und Entscheidungen insbesondere in politischen Ausnahmesituationen. Er verdeutlicht die eigenständige Rolle der Musik in diesem Stück in ihrer teilweise kontrapunktischen Funktion zum Text. „Das politische Lied ist mausetot!“, jedenfalls das ‚linke’, so der Ausgangsbefund von Kai Degenhardt. Er gibt einen Überblick über ein halbes Jahrtausend einer wechselhaften Geschichte des politischen Liedes in Deutschland vor der Folie der jeweiligen politisch-sozialen Kämpfe und zeigt, wie ein solches Vorhaben schon bei der Frage der Quellen und der Überlieferung auf das Grundproblem stößt, dass die Sieger der Geschichte „dem Volk ihre Musik aufgedrückt und die der Verlierer ausgerottet“ haben.

An diese musikhistorischen Beiträge schließen sich gegenwartsbezogene Analysen des Musikprozesses an. Der Musikprozess als ganzer kann nur in der Verknüpfung von ästhetischen, technologischen und ökonomischen Dimensionen sowie von lokalen und globalen Gesichtspunkten angemessen begriffen werden. Das ist die Quintessenz der materialistischen Musikanalyse des Buches über Popmusik im Medienzeitalter von Susanne Binas-Preisendörfer, die Richard Sorg vorstellt. Wolfgang Martin Stroh erörtert Teilaspekte der Musik, indem er einige marxistische Theoreme wie „das Basis-Überbau-Modell und die Widerspiegelungstheorie“, das Modell „Musik als Ware“ mit den Begriffen „Fetischcharakter“ und „Aura“ sowie die „Tätigkeitstheorie“ als „Modell der aktiven Aneignung von Wirklichkeit der Kritischen Psychologie“ daraufhin untersucht, was sie jeweils für die Analyse und Erklärung zu leisten vermögen. Für ihn erweist sich insbesondere die Tätigkeitstheorie als fruchtbar, vor allem, wenn man den Focus nicht nur auf die Kunstmusik einenge und auch Fragen etwa der Musikpädagogik und Musiktherapie einbeziehe. Vor dem Hintergrund der Bourdieu’schen Analysen zum Musikgeschmack der höheren Klassen als Distinktionsmerkmal diskutiert Alan Ruben van Keeken die Hypothese, dass bei Vertretern der neuen Mittelschichten tradierte bürgerliche Hochkulturmuster sich auflösen würden und eine Öffnung zu früher verachteten Musikformen über die alten Grenzen von E- und U-Musik festzustellen sei. Aus Sicht ihrer Tätigkeit als Hochschullehrerin, die vor allem mit der Ausbildung von MusiklehrerInnen und MusikvermittlerInnen befaßt ist, unterzieht Susanne Binas-Preisendörfer die aktuellen Forderungen nach kultureller Bildung einer kritischen Prüfung. Angesichts dessen, dass heute Medien und Peers das tradierte Verständnis von Bildungsprozessen in Frage stellen würden, plädiert sie für Praktiken einer ‚Selbst-Bildung’ insbesondere bei Jugendlichen im Feld der Popularmusik und konkretisiert das am Beispiel von HipHop.

Die Redaktion dankt Richard Sorg (Hamburg) als Gastredakteur dieses Heftes sehr herzlich für die Betreuung des Schwerpunktes und Hanns-Werner Heister für fachlichen Rat und Anregungen bei der Autorengewinnung.

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Vor den Europa-Wahlen: Die anstehenden Europawahlen nimmt Klaus Dräger zum Anlass, die divergierenden Positionen der im Europaparlament vertretenen linken Parteien zu rekapitulieren. Er verweist auf Differenzen zwischen „Souveränisten“ und „Euro-Föderalisten“ sowie den Konsens in der Ablehnung von Austeritätspolitik und neoliberalem Lissabon-Vertrag. Gerd Wiegel zeigt, dass im Zentrum der rechten EU-Gegnerschaft keine Kritik der antiegalitären Politik der EU steht, sondern dass – bei allen Unterschieden zwischen den verschiednen Parteien der Rechten – ihre Gemeinsamkeit im „Abwehrnationalismus“ besteht, der die soziale Frage ethnisiert. Der durchaus bestehende Einfluss der Rechten im Milieu von Lohn- und Sozialabhängigen stellt die Linksparteien vor besondere Herausforderungen.

Große-Koalition: Die Große Koalition, so Jörg Goldberg, André Leisewitz und Jürgen Reusch in ihrer Einschätzung des Wahlausgangs, zielt auf eine weitere Stärkung des „Standorts Deutschland“ bei breitem Konsens der „Sozialpartner“; seitens der Gewerkschaften wird Kooperationsbereitschaft signalisiert. Der in der Wahl geschwächten Linken stehen ernste Richtungsauseinandersetzungen bevor.

Marx-Engels-Forschung: In der Fortsetzung seines Beitrags zum Kommunismusbegriff aus Z 96 diskutiert Werner Goldschmidt die geschichtstheoretischen Implikationen des Marxschen Schlüsselbegriffs der freien Assoziation freier Individuen vor dem Hintergrund der Geschichte des „Real-Sozialismus“ und des zeitgenössischen „High-Tech-Kapitalismus“.

Weitere Beiträge: Regine Meyer untersucht den neoliberalen Umbau der chilenischen Gesellschaft seit dem Putsch von 1973. Mit Blick auf ganz Lateinamerika konstatiert sie bedeutende soziale Fortschritte in den letzten 15 Jahren. Jörg Wollenberg rekonstruiert die Rosa-Luxemburg-Rezeption durch die Gruppe „Neuer Weg“ im Exil und erläutert wie es 1939 zur Exilausgabe von Luxemburgs Schrift „Die russische Revolution“ in Paris kam. Der Autor analysiert hiermit Diskussionen innerhalb der so genannten „Zwischengruppen“ in den Zeiten der Volksfrontpolitik.

Die Berichte und Buchbesprechungen betreffen u.a. Tagungen und Veröffentlichungen zu Rosa Luxemburg und zur aktuellen Marxismus-Diskussion.

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Redaktionsinternes: Hinweisen möchten wir noch einmal besonders auf die erweiterten Such und Recherchemöglichkeiten auf der Z-Homepage, die unter http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/ zu erreichen ist. Die Jahrgänge 2003 bis 2009 sind dort inzwischen komplett zum Lesen und Herunterladen verfügbar. Weitere Jahrgänge werden nach und nach folgen. Neben der Stichwortsuche kann nach Autorinnen und Autoren sowie nach Schwerpunktthemen gesucht werden. Unter der Rubrik „Hefte/Gesamtverzeichnis“ ist eine pdf-Datei mit den kompletten Inhaltsverzeichnissen der Hefte 1-80 verfügbar.

Der Schwerpunkt des Juni-Heftes 2014 (Z 98) ist dem Thema „Internationale Handelspolitik/TTIP“ gewidmet.