Literatur (in) der Krise

Die Tragödie des Leistungsträgers

Enno Stahls literarische Kritik des Neoliberalismus im Kontext des neuen sozialen Realismus

von Ingar Solty
März 2015

1. Enno Stahl und die Literatur der Arbeitswelt

Mit Winkler, Werber hat der 1962 in Duisburg-Rheinhausen geborene, in Moers aufgewachsene und heute in Neuss lebende Enno Stahl 2012 einen Roman vorgelegt, der den Anspruch erhebt, ein „Psychogramm der Krise“ zu entwickeln. Stahl gehört zu den selten gewordenen Schriftstellern, die sich selbst als kritische Intellektuelle begreifen und mit ihren literarischen Texten nicht subjektiven Empfindungen Ausdruck verleihen, sondern Stellung gegen ihre Zeit beziehen. Als promovierter Literaturwissenschaftler und Literaturhistoriker ist Stahl dabei jemand, der sein eigenes Werk historisieren und theoretisieren kann.

Aus seinen politisch-ästhetischen Zielen macht Stahl keinen Hehl. Bei seinem ersten großen Roman Diese Seelen von 2008 war seine Intention, „Geschichten aus dem Neoliberalismus“ zu erzählen. Stahls Literatur will mehr sein als bloß Seismograph einer nichtreflektierten Umwelt, sondern bildet sich einen Begriff von der gegenwärtigen Kapitalismusphase, um davon ausgehend mit den Mitteln der Ästhetik gegen diese anzuschreiben und ihre Pathologien aufzuzeigen. Anstatt als unbewußtes neoliberales Subjekt zu schreiben, erhebt Stahl den Anspruch, dies bewußt über neoliberale Subjekte zu tun. Im Ergebnis liefert er keine narzißtische Nabelschau, keinen selbstmitleidigen Weltschmerzkitsch in der Ersten Person Singular, keine poppige Ideologisierung flexibilisierter Lebensweisen mit abgeleitetem, distinguiertem und ironischem Konsumverhalten, keine Flucht in fantastische Welten, keinen sadistischen Horrorquatsch.[1] Während im Gros der Literatur im Neoliberalismus die Welt der flexibilisierten und prekären Arbeit als so natürlich angesehen wird, daß diese darin keinen Platz mehr findet und in ihr Menschen handeln, als müßten sie sich nicht reproduzieren, wählt Enno Stahl ganz bewußt den sozialen Realismus als Genre und stellt sich in die Tradition der Literatur der Arbeitswelt.[2] Seine Schilderungen der Arbeitsabläufe erinnern an Schriftsteller aus der Gruppe 61 und dem Werkkreis Literatur der Arbeitsweltwie Max von der Grün und Erika Runge und müssen auch den Vergleich mit Erasmus Schöfers Darstellung der Glashütte Süßmuth im nordhessischen Immenhausen im zweiten Band der Sisyfos-Tetralogie nicht scheuen.

Stahl (2009: 60) beschreibt seine Motivation so: „Es geht darum, wenigstens einen kleinen Ausschnitt der ausgeweiteten Varietät dessen zu zeigen, wie sich Erwerbsarbeit heute darstellt. Das Nebeneinander von steinzeitlich anmutender Beamtenrealität und Prekariat, die harte neue Medienwelt, die absonderlichen Blüten, die der florierende Bereich der Jobs und Nebenjobs so mit sich bringt.“ Mit Winkler, Werber nähert sich Stahl nun der Krise an, exemplarisch entwickelt am titelgebenden Protagonisten. Sein teilweise im (nieder-)rheinischen Lokalkolorit verfasster Roman erinnert dabei in der präzisen Beschreibung des Habitus der einzelnen Klassen und Milieus an die Romane von Franz Josef Degenhardt. Stahl wendet sich explizit gegen „die Popliteratur der 1990er Jahre“ und ihren „affirmativen Charakter“. „Jede personale Erzählperspektive“ sei „Ausdruck von Klassenidentitäten“ und die „bezeichnenderweise überwiegend [als] Ich-Erzählungen“ verfassten Werke der damaligen Zeit seien „schlicht Ergebnis einer Oberschichtperspektive“ (Stahl 2009: 61). Literatur sei erst dann kritisch, wenn „sie ihre eigenen Voraussetzungen kennt und überprüft, den sozialen Standpunkt des eigenen Sprechens mit einbezieht, wenn sie die unmittelbare Realität mit all ihren sozialen und politischen Aporien in den Blick nimmt, mit den Mitteln der Literatur Missstände namhaft macht“. Damit sieht sich Stahl in einer Tradition mit Grimmelshausen, Laurence Sterne, Heine, Stendhal, Flaubert, Zola, Tschechow und Joyce (Stahl 2011).

Mit neueren Literaturproduktionen wie Tony Kushners jüngstem Stück The Intelligent Homosexual’s Guide to Capitalism and Socialism oder Volker Brauns 2008 erschienener Erzählung Machwerk teilt Stahls Roman die Auseinandersetzung über die Arbeit als Segen und Fluch: Für die, die sie noch haben, und die, die sie als Aussortierte schon nicht mehr haben. Braun, Kushner und Stahl reflektieren die Bedeutung der Arbeit als gattungsgeschichtliche Aneignung von Welt und in ihrer kapitalistischen Formbestimmung und Bedeutung für den Selbstwert der Menschen im Kontext der zunehmenden Überflüssigmachung mehr und mehr Lohnabhängiger. Doch während Braun sich dieser Frage im Stile einer modernen Don-Quichoterie nähert und Kushner im konkreten Kontext der Kämpfe der US-Arbeiterbewegung um nichtentfremdete (Frei-)Zeit, steht bei Stahl die Arbeit in ihrer „postfordistischen“ Transformation im Mittelpunkt.

Stahls Erzählperspektive ist sowohl in Diese Seelen als auch in Winkler, Werber der unzuverlässige Erzähler: Faulknerisch-multiperspektivisch in jenem, als innerer Monolog in diesem. Damit hält Stahl dem neoliberalen Individualismus den Spiegel vor, der das eigene Ich zum Zentrum der Welt erklärt und seine Umwelt zu Statisten im Epos der narzißtischen Langeweile. Denn er stößt den Leser auf die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung, was als Aufforderung zur Perspektivenverschränkung zu verstehen ist. Die Selbstherrlichkeit des Ichs soll erschüttert, seine vermeintliche Authentizität und Originalität dekonstruiert und mit seiner limitierten Klassenperspektive konfrontiert werden.

Seine Erzählung stellt Stahl in die Tradition der Initiationsgeschichten. Winkler begibt sich auf eine Reise, einen Betriebsausflug mit den Kollegen, und kehrt als veränderter Mensch zurück. Allerdings ist sein Roman weder klassische Initiationsgeschichte noch Bildungsroman, sondern das exakte Gegenteil: Ein De(kon)struktionsroman. Am Ende von Winklers Reise steht nicht die Ich-Findung, sondern der Ich-Verlust. Dem entspricht der mäandernde Erzählstil, der sich erst im letzten Romansechstel überschlägt und in einem tragischen Finale und mit dem (wahrscheinlichen) Tode der Hauptfigur endet. Stahls Tragödie entbehrt jedoch jedweder kathartischen Wirkung; Winklers Tod ruft zwar Furcht, aber kaum Mitleid hervor, denn er ist im Grunde ein schlechter Mensch, der zwar auch Opfer der kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen ist, diese aber – und darum geht es Stahl – selbst als Akteur reproduziert.

2. Vom Rheinischen zum reinen Kapitalismus und zurück

Die Handlung von Winkler, Werber ist rasch rekapituliert. Jo Winkler ist Texter in der Werbeagentur „Gold Reklamen“, ein typischer qualifizierter Lohnabhängiger in der Kreativbranche. Die Agentur wurde kurz nach der „Wende“ vom biederen DDR-Flüchtling Werner Johst gegründet; Winkler ist Festangestellter und Werners Stellvertreter. Werner plant nach langen Jahren wieder einmal einen Betriebsausflug. Der sieht eine Dampferfahrt den Rhein stromaufwärts und mehrere Übernachtungen mit Freizeitaktivitäten vor.

Die Reisehalteorte sind nicht zufällig. Die Rheinfahrt ist zugleich eine in die Vergangenheit der Bundesrepublik – genauer gesagt, in den Fordismus, dem der größte deutsche Strom seinen Namen verliehen hat: Rheinischer Kapitalismus. Die Stationen Dampferfahrt, Kegeln, Casino atmen den Staub und die spießige Gemütlichkeit längst vergessener fordistischer Zeiten, die heute nur noch außerhalb der großen Ballungsräume eingefangen werden können. Winkler zieht es aber exemplarisch für die neoliberale Subjektivität nicht mehr hierhin zurück. In Bonn angekommen denkt er: „Hauptstadt der alten Republik. Wehmut? Ach, was. --´´´-- Man soll sich nie nach Vergangenem sehnen, eh alles geschönt. Und langweilig: alte Tante Wohlfahrtsstaat.“ (63) Dabei ist Winkler auch Realist: „Und was ist das? Bundeswirtschaftsministerium, stimmt. Da haben sie in den Fünfzigern die soziale Marktwirtschaft ausgekungelt. Ausgekungelt, aber nie umgesetzt (…). [D]iese Theorie, staatliche Interventionen und Korrekturen, um die Marktwirtschaft sozial abzufedern, schönes Gedankengebäude, gelebter Katholizismus, in der Praxis ein gespielter Witz, konnte gar nicht klappen, Wirtschaft und Moral, das passt nun mal nicht zusammen (…). Und heute? Ein Haifischbecken, Vernichtungswettbewerb, für Sozialkacke ist kein Platz, am Ende werden zwei, drei Trusts die Welt beherrschen, die bieten Seife, Cornflakes, Bier, Benzin und Heroin an (…) Andererseits -- ´´ -- ist gut das alles: Der freie Welthandel ist der größte Friedensstifter aller Zeiten. Nicht aus Menschlichkeit, sondern aus Eigennutz. Kriege bringen nichts. --´´-- Da sie der Profitmaximierung eher schaden als nützen, existieren sie nicht mehr, so einfach ist das. Okay, kleine, begrenzte Konflikte, irgendwohin muss man schließlich die Waffen verdealen.“ (63f) Immerhin: Winkler erinnert sich noch an den Fordismus, kann Rheinischen Kapitalismus und Neoliberalismus vergleichen. Um die junge Generation Praktikum/Prekariat/Krise „sammelt und stapelt sich“ wie von selbst nur „reine Gegenwart“: Winkler zeigt Werner das „Bundeswirtschaftsministerium, Wiege des rheinischen Kapitalismus.“ Darauf die 20jährige unbezahlte Praktikantin Vanessa: „Was is’n rheinischer Kapitalismus…?“ (64)

Dem Rhein als Verkörperung der Dynamik des Kapitalismus, der Lust und dem Leiden an der permanenten Veränderung steht die verwurzelte deutsche Geschichte in Form symbolträchtiger und in Stein gemeißelter Denkmäler gegenüber. Wie Dinosaurierskelette ragen sie in die Gegenwart hinein und Winkler überlegt, ob sie nicht Fassaden sein könnten: Der Drachenfels, Ehrenbreitstein, Deutsches Eck, Marksburg, Loreley. Mit diesen Denkmälern und den sie bevölkernden Rentner-Touristen zieht der Mief der 50er Jahre in die Geschichte ein, den Stahl kongenial zu Degenhardts frühen Liedern wie Deutscher Sonntag einzufangen vermag. Zur Festung Ehrenbreitstein heißt es: „Ziemliche Betonkacke, starr, düster und kompakt. Genau das Gegenteil, Widerspiel zum eiligen Wasser, auf dem so lustig blitzt und blinkt die Morgensonne“ (73).

Begangen wird die Fahrt auf der MS Adenauer, ein Dampfer, der „allerdings keine Ehre für ihn (ist), total runtergekommen, verrostet, Algendreck, abblätternde Farbe.“ Winkler bringt seine Verachtung für die fordistische Kultur zum Ausdruck, indem er denkt: „Nun ist Adenauer auch schon ziemlich archaisch. Von daher betrachtet… Wieder dieses Gedränge, Mann, du Arschgesicht, ich kann dir gleich mal den Ellenbogen mitgeben, diese Rentner, das gibt es nicht, renitent. Auch alles Faschisten, die hätten gut mitsingen können bei den Skins vorhin.“ (145) Mit vorliberalen oder antiliberalen Kollektiven, das unterstreicht das Zitat, hat es Winkler nicht. Verpflichtung für jemand anderen als bloß für sich selbst ist ihm ebenso fremd wie Kollektivsentimentalität.

Winklers radikaler Individualismus, seine Bindungslosigkeit, seine „Korrosion des Charakters“ (Richard Sennett) spiegelt sich auch in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen wider: Margie heiratete er aus unsentimentalen Gründen, er ist kinderlos und Sex ist für ihn im Grunde eine Entspannungsübung wie das Rauchen. Winkler lebt für die Karriere und zeigt sich agoraphobisch: In Menschenansammlungen gerät er immer wieder in Panik und reagiert aggressiv. Fremdes Leid nimmt er wahr, entwickelt hierzu jedoch eine fatalistisch-indifferente Haltung. Als es auf der MS Adenauer zu einer Havarie kommt, die zum ersten Mal die Gefährlichkeit des Rheins andeutet, und die Sekretärin Mechthild zu Schaden kommt, wehrt Winkler sich gegen das „Gutmenschentum“ seiner ihm in etwa gleichgestellten, festangestellten, fleißigen Mitarbeiterin Aggi. Dabei deckt er die Widersprüchlichkeit gespielter Empathie auf, denn schon nach wenigen Stunden ist von Mechthild nicht mehr die Rede und geht die Reise weiter. Als Werner später sturzbetrunken aus der Kneipe zu schaffen ist, empfindet Winkler Werners Angewiesenheit auf fremde Hilfe als Zumutung und Einschränkung seiner persönlichen Freiheit. Mit fremdem Leid möchte er nicht behelligt werden; jeder ist, wie Werner, der später im Casino viel Geld verspielt, für sich selbst verantwortlich.

Das bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass Winkler in relativistischer Manier an seiner eigenen Urteilskraft und der Unumstößlichkeit seiner Normativität zweifelt. Er ist kein zwischen ehrlicher Toleranz und unkonzentrierter Indifferenz oszillierender Zeitgenosse. Im Gegenteil, Winkler hegt starke Aggressionen gegenüber seinen Mitmenschen und denkt im Grunde abschätzig über alle Leute, die nicht den gleichen Lebensweg eingeschlagen haben wie er. Seine roh-bürgerlichen Ressentiments richten sich gegen Amerika, Ostdeutsche, Feministinnen, körperlich nicht Leistungsfähige (Dicke, Alte, Hässliche etc.), nichtassimilierte „Ausländer“, Prolls, Spießer, sicherheitsfixierte Beamte, Politiker, kleingeistige Lehrer, wertkonservative Jugendliche, kurzum alle, die er in der Habitushierarchie unter sich stehend wähnt, sowie gegen großspurige Businesstypen, mit denen er nicht zuletzt sexuell konkurriert. Vor allem hegt er Ressentiments gegenüber seinen Kolleginnen und Kollegen, wie Aggi, mit der er konkurriert, sowie gegenüber den in der Unternehmenshierarchie unter ihm stehenden Josh, ein Computernerd mit geringem kulturellen Kapital, Vanessa und dem vermeintlichen Autisten Reinhard, der an Verschwörungstheorien à la „9/11 was an inside job“ glaubt. Seine starke Konkurrenzorientierung lebt Winkler immer dann in Form von Aggressionen aus, wenn er gestreßt ist. Diese richten sich dann wahlweise gegen Fußgasaffen im Straßenverkehr oder Rentneransammlungen. Besonders kirre machen ihn Mütter mit Kinderwagen, denen er in engen Kaufhausgängen oder auf schmalen Bürgersteigen begegnet.

Seine Identität bezieht Winkler aus seiner Arbeit. Das suggeriert schon der Buchtitel, der seine Persönlichkeit auf seine Tätigkeit reduziert. Winkler sieht sich selbst als Leistungsträger. Tatsächlich hat er relativ viel ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital angesammelt; er ist ein mit allen Wassern gewaschenes, funktionsfähiges Subjekt im Neoliberalismus, ein „flexibler Mensch“, dessen Bindungslosigkeit ihn prädestiniert zum Marktsubjekt, wie es die abstrakte neoklassische Wirtschaftstheorie voraussetzt. Winkler kann sich in vielen Kontexten bewegen: Er ist einigermaßen eloquent, hat von allem etwas gehört und abgespeichert, auch wenn es nicht in die Tiefe geht, kann aus dem Stegreif Einfaltspinsel beeindrucken. Seine Konkurrenzorientierung schwappt teilweise jedoch mit negativen Folgen für seine Außenwahrnehmung in sein Alltagsleben über: Überall muß er beweisen, daß er leistungsfähig ist; daß es mit dem Kegeln nicht so recht klappt, wurmt ihn und lässt ihn zu Rationalisierungen neigen.

Da Winkler den „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ internalisiert hat, beschränkt dies jedoch auch seine Persönlichkeitsentfaltung jenseits des Arbeitsplatzes. Er mag zwar einen guten Riecher für Schwanitz- und Cocktailparty-„Allgemeinbildung“ haben; zugleich muß er jenseits der Konzentration auf den Job und der Selbstvermarktung alles andere vernachlässigen: Politik, Kultur, Leidenschaften, Kinder etc. Seine Perspektive ist, um mit Frigga Haug zu sprechen, sozusagen die Eins-ohne-drei-Perspektive. Winkler denkt: „Ohne Arbeit, Mann, da wird man, da werde ich. Einfach rastlos. Das ist nicht zu ändern, ich muss halt immer was tun (…). Workaholic, warum nicht? Was ist schlecht daran? Die perfekte Neurose für die moderne Welt (…).“ (107)

3. Neoliberale Subjektivität der Arbeit

Seine Arbeit verrichtet Winkler mit einigem Standesdünkel. Anderen Sprachkünstlern, die sich nicht kommerziell verdingen und entsprechend prekär und brotlos leben, bringt er tiefe Abneigung entgegen: „[A]ls Werber musst du sprachsensibel sein wie ein Experimental-Lyriker. Genauer gesagt: Unser Job ist erheblich schwieriger. Diese Lyriker, die können hinschmieren, was sie wollen, kräht kein Hahn nach, aber bei uns, da hängt alles davon ab, ein einziges verdammtes Wort kann über Top oder Flop entscheiden, Kundenzufriedenheit, der nächste Etat winkt, gleich doppelter Umfang oder eben Niete.“ (184)

Im Gegensatz zum Kreativarbeiter Adie Klarpol in Richard Powers Plowing the Dark oder Walter Berglund in Jonathan Franzens Freedom macht sich Winkler keine Illusionen, daß seine Tätigkeit etwas mit l’art pour l’art zu tun haben und es ein richtiges Leben im falschen geben könnte. Ihm geht es nicht darum, gesellschaftlich Sinnvolles zu schaffen, sondern überhaupt irgendetwas zu produzieren. Über die instrumentell-profitorientierte Bedeutung seiner Sprachkunst ist er sich im Gegensatz zu Klarpol nur allzu sehr bewußt. Zu seiner Arbeit nimmt Winkler deshalb gelegentlich eine zynische Haltung ein und manchmal schwillt ihm der Kamm, wenn ihn das Profitprinzip in seiner Kreativität einschränkt. In letzter Instanz bekommt er jedoch stets die affirmative Kurve. Winkler denkt: „Die möchte ich mal mit dem Marketingleiter eines deutschen Mittelstandsunternehmens verhandeln sehen. Frau Segebrecht. Die Deutschen sind nun mal nicht witzig, kein Humor, beziehungsweise ein ziemlich beschissener, Tatort-Gags, Der Schuh des, WiXXers, worüber der Deutsche lacht, also.“ Anstatt zu rebellieren, verteidigt Winkler aber schon im nächsten Gedanken seine Arbeit gegen die künstlerisch und intellektuell freiere: „Müssen wir uns nach richten, wir sind keine freien Künstler, die jeden Scheiß zu Geld machen können, wenn sie nur ordentlich einen reingeheimnissen, ähem, ich wollte damit auf den mythischen Urgrund der kryptogermanischen Seele und so Zeug… Idioten.“ (271) Dabei entwickelt Winkler gelegentlich Züge jener Wissensarbeiter, die über den manipulativen Charakter ihrer Arbeit Bescheid wissen und sich insgeheim über ihre Manipulationsfähigkeit freuen: „[D]ie Welt der Produkte – sie hilft. Für alles eine Lösung, selbst für Dinge, die nie ein Problem waren, harhar.“ (84)

4. Neoliberale Subjektivität der Politik

Winklers Zynismus erstreckt sich auch auf die Politik. Er steht den Verhältnissen affirmativ gegenüber, in ihm, der einst Mitglied im KBW und später bei den Grünen war, steckt nichts mehr vom alten Typus des konservativen Kulturkämpfers. Winkler ist nicht Antikommunist, er ist schlicht Nicht-Kommunist, ein Kind des „postideologischen“ Zeitalters. Das System ist korrupt und funktioniert für immer weniger Menschen, aber es lässt sich nun einmal nicht ändern. Winkler, der, wie alle Männer jenseits des fordistischen männlichen Brotverdienermodells kochen können muss, denkt, während er das Essen für Margie vorbereitet: „Inlandsnachrichten. Soll ich noch irgendwas in den Salat tun? Tomaten, haben wir [die] denn noch? Oder irgendwelche blöden Kerne, wo sind die? Gesetzesänderung, Reform, Gelaber, heißer Brei, die Interessenvertreter äußern ihre Interessen, die Politiker skizzieren das Mögliche. Und beide zusammen würgen jeden neuen Ansatz ab, muss ich mir das antun? Fassaden. Wer da welche Kulisse wohin schiebt, tut gar nichts zur Sache. Alle am Gängelband der großen Bosse (…). Siemens oder so hat ein Finanzvolumen wie Nordrhein-Westfalen. Da willst du gegen anstinken? Na, dann mal happy Begräbnis. In den Siebzigern, da gab es noch Träume. Etwa diese Illusion, das es was nützt. Demos, Sitzblockaden, Hausbesetzungen, dieses ganze Zeug, tja, lang ist’s her, tut mir leid, Herr Richter, ich gestehe, ich saß einst vor einer Kaserne. Seien Sie gnädig, ich weiß, ich habe mich äußerster Sinnlosigkeit schuldig gemacht.“ (35)

Winkler arrangiert sich mit den Verhältnissen, weil er noch zu den Top-Dogs gehört. Dabei kennzeichnet seine Weltsicht eine fatalistische Gleichgültigkeit: Über seinen privilegierten Status als Festangestellter ist sich Winkler durchaus im Klaren. Als Vanessa ihn fragt, wie er „eigentlich in die Werbebranche geraten“ sei, antwortet er: „Einfach irgendwie reingerutscht, Vanessa. Damals war das … anders. Da gab es noch Zufälle. Wir haben in den frühen Achtzigern einfach angefangen zu arbeiten. Und dann war es auf einmal Werbung.“ Und er denkt weiter: „Keine befriedigende Antwort, sie will wissen: Wie kriege ich einen Job, morgen, heute, am besten sofort. Aber das läuft nicht mehr, ich weiß selber nicht, wieso das damals so leicht war. Jetzt ist es doch sehr anders, wenigstens existiert diese Automatik nicht mehr, klar halten alle ständig die Augen auf nach hungrigem Nachwuchs, aber man hat so viele zur Auswahl, bei der Konkurrenz müssen sie sich mit Gewalt aufdrängen, zeigen, dass sie wirklich wollen. Von selbst in die Pötte kommen, einfach mal was auszuprobieren, trial and error.“ (244)

Alle Alternativen von damals – Gewerkschaften, KBW, Grüne etc. – erscheinen ihm als Aktionen hilfloser Idealisten und Spinner. Die Krise entgeht ihm nicht; sie verunsichert auch ihn, führt zu Aggressionen, aber anstatt zu rebellieren, spornt sie ihn nur zu höheren Leistungen an.

Als Winkler im Fernsehen wieder mal etwas über die wachsende soziale Ungleichheit hört („Ein neuer Armutsbericht der Bundesregierung hat ergeben, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinander klafft.“), denkt er: „Das ist ja mal eine Überraschung. Also wirklich, das ist, wenn man ein klein wenig mit offenen Augen, aber die Politiker, die, mit offenen Augen durch die Stadt? Auf Schritt und Tritt Leute in Jogginghosen, besifft und beschmiert … Heere, wachsende Heere von Ausgemusterten, voll am Arsch mit der abgesenkten Stütze oder den miesen Jobs, die kaum drüber liegen, keine Chance nirgendwo. Seit Mitte der Neunziger ist das angeschwollen, kontinuierlich, konnte man bei zugucken … Wer sollte daran etwas ändern, Politiker, Gewerkschaftler, Verwaltungsfunktionäre, wer beißt die Hand, die ihn füttert? Kirchen, Betschwestern und Sozialtussis mit ihrem frommen Augenaufschlag: Raubtierkapitalismus – böse! … Vergiss es, vergiss es einfach, kannst nur dafür sorgen, auf der richtigen Seite zu stehen. Der Seite derer, die was haben, sonst aua-aua.“ (267f)

Und über Vanessa, die unbezahlte Praktikantin denkt er: „Bei uns wird sie nicht unterkommen und das müsste sie wissen, wenn sie realistisch wäre, deutlich genug klargemacht haben wir ihr das: Unbezahltes Praktikum, mehr ist nicht drin und wird auch nicht draus werden. Und sie hat genickt, jajaja, okay, ist in Ordnung, Hauptsache, ich kann in dieser Trendagentur arbeiten, was ich da alles lernen werde, diese praktischen Erfahrungen, die sind Gold wert, was ja passt, weil Gold Reklamen. Das sagen sie alle und denken natürlich, vielleicht klappt es dennoch, wenn ich mich nur anstrenge, Glück habe, irgendein Mitarbeiter sich ein Bein bricht, Schwangerschaftsvertretung, Hirnschlag und so weiter, Dinge, die niemals eintreten, nicht bei uns, sondern höchstens in der Stadtverwaltung.“ (19f.)

Winklers postkonservativ-neoliberale Subjektivität spiegelt sich auch in seiner losen Sexualmoral und in seinen politischen Ansichten. Das zeigt sich in seiner Einstellung zur ehelichen Treue: Ob Margie ihn betrügt, ist ihm gleichgültig, solange er sich das Recht herausnehmen kann, sie im Gegenzug zu betrügen. Er ist kein altkonservativer Etatist; er weiß seine Freiheit gegenüber dem Staat zu schätzen, sieht die Widersprüche im System, akzeptiert sie aber und arrangiert sich mit ihm, weil er sich keine Alternativen (mehr) vorstellen kann. Winkler ist typisches Subjekt im Spätneoliberalismus: Er ist kein Überzeugungstäter, sondern Zyniker und Opportunist, er haßt linke Systemgegner nicht, wie es Renegaten tun, er belächelt sie, hält sie für Romantiker. Er ist nicht konservativ-altbacken, sondern stets im Trend, wenn er z.B. die Beastie Boys zitiert. Kurzum, er ist das Produkt desillusionierter und „ideologieloser“ Zeiten, wobei er nicht erkennt, daß die Ideologie der Ideologielosigkeit eines der stärksten Kennzeichen neoliberaler Subjektivität ist.

Die Unfähigkeit, Alternativen zu sehen, bringt aber mit sich, daß Winkler stets, wenn er mit den Widersprüchen des Neoliberalismus konfrontiert ist, dazu tendiert, neoliberale Deutungsmuster zu übernehmen. Zum Sich-Arrangieren mit den herrschenden Verhältnissen gehört auch, den Individuen die Schuld am eigenen Versagen zuzuschieben. Winkler tendiert schließlich immer wieder zum Sozialdarwinismus, um die Widersprüche auszuhalten. Dabei hilft ihm die Verrohung am unteren Ende der kapitalistischen Gesellschaft, seine privilegierte Stellung nicht in Frage stellen zu müssen. Auf dem Dampfer hört er Prolls sexistische Lieder wie Zehn nackte Friseusen singen. Er denkt: „Wie sind die nur so geworden, wessen Schuld ist das? --´´-- Irgendwer muss, wie waren denn die Arbeiter früher, die Arbeiter, als sie eine Klasse waren, in der Weimarer Republik, selbst in den fünfziger, sechziger Jahren, SPD wählen und solidarisch sein, solidarisch verraten werden natürlich, ruhige, besonnene Leute, auch viel gebildeter, die Schule heute, das kannst du alles, ruhig und besonnen waren die, wenn du diese alten Dokus siehst und Arbeiter befragt werden, die sind ganz anders, in meiner Kindheit, na ja, erinnern kann ich mich nicht, aber anders schon, da war alles anders - `` -- `-- Wer hat dieser seelischen Verwahrlosung das Recht gegeben, sich so breit zu machen, die Medien sind dafür verantwortlich. Wir? Das sagen dann alle, aber wenn so was aus dir wird, das bist du selber.“ (148) Dieselbe Apologetik wendet Winkler auch an, um seine privilegierte Position im Vergleich zur prekären sozialen Lage in seinem Umfeld zu verarbeiten.

5. Winkler brennt aus

Die Krise hinterlässt aber auch bei Winkler Spuren. Er ist 49 Jahre alt und der Bernd-Stromberg-Satz „Wer nicht mit der Zeit geht, muss mit der Zeit gehen“ hängt in seiner Kreativbranche wie ein Damoklesschwert über dem Arbeitsplatz. Winkler ist nervös und raucht zuviel, sorgt sich um Lungenkrebs und ist auf ein Atemwegsspray angewiesen. Sein Selbstbild als Leistungsträger gerät ins Wanken, weil seine Kondition den Bach runtergeht – eine Tatsache, die ihm Aggi gehässig widerspiegelt, die sich, wie es sich im Neoliberalismus gehört, im Fitnessstudio fit hält. Immer öfter neigt Winkler zu Panikattacken, die er nur mit Tabletten bekämpfen kann. Außerdem neigt er zu Zwangshandlungen, wie das Abspülen seiner Handgelenke unter kaltem Wasser. Die Panikattacken lähmen aber wiederum seine Kreativität. Daß ihm partout kein flotter Werbeslogan für ein Biomilchprodukt einfallen will, verursacht ihm massiven Stress und verfolgt ihn bis auf den Betriebsausflug.

Um seinen Leistungsabfall zu kaschieren, beutet er die Ideen seiner Untergebenen aus: Vanessa, der engagierten jungen Leistungsträgerin, stiehlt er den Slogan: „Bio-Milch – meine Stärke.“ Immer wieder erinnert er sich an eine depressive Phase („Burnout“ bei Leistungsträgern) aus der Vergangenheit. Er denkt: „Werner ist schon okay, natürlich ist er sauer darüber, dass die Milchgeschichte noch nicht im Sack ist. Aber der kennt das. In unserem Job kann man nichts erzwingen (…). Hatte ich auch schon. Totale Sackgasse. Damals, Winter achtundneunzig. Werde ich nie vergessen, dagegen ist die Milch jetzt ein Witz. Verbraucherverein, Horror, wirklich am Ende, Krise, Krankheit, Verzweiflung, Burn-out. Schon fast alles hingeschmissen, reif für die Insel, Kreta, aussteigen, wovon will ich leben? Tomaten züchten, Super-Plan, Werner merkt das schneller als man selbst. Er nur: Winkler, du fährst ans Meer, keine Widerrede! Paar Tage Nordsee möbeln dich auf. Das war’s. Das war’s wirklich.“ (86f)

Je stärker Winkler unter Druck gerät, umso mehr sehnt er sich nach Geborgenheit: „Mit Margie fühle ich mich einfach sicher, eigentlich sollte sie immer dabei sein, als meine medizinische Begleiterin.“ (106) Zugleich ist auch sein Verhältnis zu Margie gestört, die sich immer öfter beschwert, dass er sich nicht bei ihr meldet. Sex wird zu einer Kompensationshaltung; seiner Leistungsfähigkeit versichert er sich, indem er Vanessa auf dem Betriebsausflug sexuell ausnutzt. Wenn ein 49jähriger eine 20jährige ins Bett bekommt, unterstreicht das seine Jugend, oder? Ihren spöttischen Kommentar über den misslungen Geschlechtsakt steckt er irritiert weg. Gelegentlich kommen Winkler wegen dem ganzen Streß neue Aussteigerfantasien. Er sehnt sich nach Sicherheit, tagträumt, dass er eine Weinguterbin abschleppt und aus dem flexiblen Kreativbusiness aussteigt. Ängste betäubt er immer wieder mit Alkohol.

Währenddessen mehren sich die Anzeichen, dass man vor ihm Geheimnisse hat. Von Aggi erfährt er über Fusionsgespräche mit einer anderen Agentur. Winkler wird fuchsteufelswild: „Werner hat sie nicht mehr alle, als sein Stellvertreter muss ich davon wissen, wie steh ich denn jetzt da?“ (124) Winklers Prinzip ist das FDP-Prinzip: „Leistung muss sich (wieder) lohnen.“ Die Tatsache, dass er rund um die Uhr schuftet, soll genügen, dass es der Firma gutgeht und sein Arbeitsplatz sicher ist. Als Aggi Engpässe andeutet, fährt Winkler aus der Haut: „Was soll das heißen? Gibt es Probleme mit der Firma? Wir ackern und ackern in einem fort, mehr geht gar nicht!“ Aggi erwidert: „Die Marktsituation, die Krise … die haben alle kein Geld mehr in der Tasche.“

Immer stärker verdichten sich die Anzeichen einer Katastrophe, die Winkler jedoch fehlinterpretiert. Aggi telefoniert ständig, Werner führt während des Betriebsausfluges in Bad Neuenahr Geschäftsgespräche, selbst Josh, der „Computerfuzzy“, und Reinhard machen kryptische Bemerkungen, als wüßten sie etwas, was Winkler nicht weiß. Während des Kegelabends prügeln sich Reinhard und Josh und der dazwischengehende Werner bekommt von Reinhard ein blaues Auge verpaßt. Am letzten Abend, der nicht zufällig im Casino stattfindet, sondern auch an den „The-Winner-Takes-All“-Finanzmarktkapitalismus erinnern soll, verspielt Werner eine fünfstellige Summe und eröffnet Winkler schließlich die bittere Wahrheit: Die Firma ist pleite. Aggi, die ihn bei der Geldabzweigung erwischt und erpreßt hat, hat sich zu einer anderen Firma abgeseilt und den Computerexperten Josh mitgenommen, den Winkler für eine Flasche hielt, weil er keinen Stil hat. Werner kontrastiert Winklers Selbstwahrnehmung als Leistungsträger mit der Wirklichkeit: „Winkler, du bist mein Problem.“ (292)

6. Winklers Sicherungen brennen durch oder: Der (Rhein-) Fall des Werbers

Zunächst sehnt sich Winkler nach Geborgenheit bei einer Frau und begibt sich auf die Suche nach Vanessa. In einer Neuenahrer Diskothek findet er sie in den Armen eines jungen Kerls. Winkler macht einen solch gebrochenen Eindruck, dass er mehrfach als „alter Mann“ angepöbelt wird. Er macht sich Gedanken darüber, ob er über Nacht ergraut sein könnte. Er ist plötzlich aussortiert, gehört zum alten Eisen. Flexibilität erscheint ihm jetzt als Fluch, er sehnt sich nach fordistischer Sicherheit und bedauert, daß er nicht verbeamteter Lehrer geworden ist.

In einem abgeranzt-spießigen Tanzcafé lässt sich Winkler, der in seiner sexuellen Partnerwahl nicht gerade wählerisch ist, mit einer wenige Jahre älteren Frau ein, Hermine. Deren Name ist kein Zufall. Stahl stellt hier direkte Bezüge zum Hesse-Roman Steppenwolf her. Auf dem Weg in die „Hölle“ erscheint Hermine ihm zunächst als letzter Rettungsanker. Sie tanzen, wie Harry Haller mit der gleichnamigen Frau in der Hesse-Erzählung, Paartanz. Die Begegnung mit Hermine symbolisiert aber auch, daß Winkler mit seinem Leben abschließt. Heißt es im Steppenwolf: Aus Hermines Augen „blickte meine arme kleine Seele mich an“, sieht auch Winkler in Hermine, einer gescheiterten und geschiedenen Mittfünfzigerin, sich selbst gespiegelt. Als weibliches alter Ego ruft sie Erinnerungen an früher wach: „ …- Kenne ich sie nicht seit Jahren, Hermine, rette mich, bring mich nach Haus (…). Blues, wir tanzen Blues, Engtanz, meine Kindheit, meine Jugend, die ersten Berührungspunkte mit dem weiblichen Geschlecht, 10CC, Santana, Blues, wir tanzen Blues, auf der Rückreise einer Klassenfahrt zum Drachenfels, ich habe meine Jeansjacke oben vergessen, auf der Rückreise im Partywaggon der Deutschen Bahn, zum ersten Mal tanzen, zum ersten Mal Mädchen, so fühlen die sich an, anders, und sie duften. Auch Hermine duftet, ihre angegrauten Locken, weich, und ihr Mund? Ist es auch. Hermine, du bist ein junges Reh. Das sehe ich mit meinen geschlossenen Augen, I’m not in love, langsames Wiegen, eine stille Dünung, Alge, Plankton, getrieben, ohnmächtig im Walten der Gezeiten.“ (302f) Doch als Winkler die erschlafften Brüste Hermines fasst, lässt sich die Illusion nicht länger aufrecht halten: Gestern noch die knackige 20jährige Vanessa, heute die erschlaffte Mittfünfzigerin Hermine; das ist zuviel. Als Hermine ihn oral zu befriedigen beginnt, reißt er sich angewidert los und flüchtet, angetrieben durch eine Stimme im Kopf, die seinen langsamen Weg in den Wahnsinn andeutet.

Da sein subjektives Leistungs- und Gerechtigkeitsempfinden empfindlich gestört ist, weiß Winkler nicht, wohin mit seinen Aggressionen. Den Plan, Werner, dessen Hotelzimmertür offensteht, aus Rachegefühlen zu ermorden, verwirft er in letzter Sekunde. Später ärgert er sich über seine Feigheit. Am nächsten Tag reist er nach Köln zurück, trifft dort Margie, die ihm jedoch auch keine Stütze ist. Winkler rennt vor ihr davon und stürzt sich schließlich in die Fluten des Rheins.

Spätestens jetzt werden auch die Bezüge zu Wolfgang Koeppens Das Treibhaus, deutlich, dessen Protagonist, der am fordistisch-restaurativen Klima der Adenauerrepublik und der Remilitarisierung verzweifelnde SPD-Abgeordnete im Bonner Parlament Felix Keetenheuve, sich auf die gleiche Weise von seinem Leid befreite. Der Rhein, die permanente Bewegung gegen die Erstarrung am Ufer, der dynamische Kapitalismus, das Walten der Gezeiten, das er ohnmächtig erfuhr, wird zu seinem Tod. Während er zuvor gewitzelt hatte, auf der rechten Rheinseite begänne Sibirien (die DDR als selbsternannte Alternative zum westlichen Kapitalismus lehnte er als KBW-Mitglied schon zu seinen linken Zeiten vehement ab), erscheint ihm dieses Sibirien als das rettende Ufer, das zu erreichen ihn die Stimme in seinem Kopf drängt. Stahls Sibirien weckt Assoziationen zur „Antarktis“ in Kushners Jahrhundertdrama Angels in America, wo die lebensfeindliche Kälte ebenfalls als Symbol für den Wunsch des Stillstands, der Flucht aus dem (depressiven) Leben in den Zustand des Anorganischen, als letzter Ausweg und Ende der Schmerzen gilt. Bei Kushner heißt es über die Antarktis, in die sich die depressive Harper flüchtet: „Cold shelter for the shattered. No sorrow here, tears freeze“. Bei Stahl heißt es: „Und nun? Wieder diese Fragen, wo sind die Antworten, habe ich Antworten, muss ich Antworten haben, du musst, muss was? Da rüber, ja, ich muss da rüber, das Wasser, es ist gar nicht kalt, die andere Seite, muss auf die andere Seite, Sibirien, Sibirien, das ist es, Rufe, vereinzelte Rufe, wer ist das, Passanten, Touristen, abschalten, weghören, aus, nur noch Stille, diese wunderbare Stille, ein Singen, fabelhaftes Singen, es umgibt mich ganz, nimmt mich auf, nimmt mich mit, ich treibe, die Morgenluft, das Brausen eines ICEs über mir, Lichtreflexe, ich bin da, bin in meinem Element, Sibirien naht, Sibirien, ich komme.“ (314f)[3] Winklers Leistungsträgerleben endet als Tragödie. Während Robert, der prekäre Doktor der Sozialpsychologie aus Diese Seelen, seine Fallmanagerin im Jobcenter ermorden will (sie überlebt schwer verletzt), schrammt Winkler knapp am Rachemord vorbei und richtet sich aus Ausweglosigkeit selber, womöglich, weil er sich – neoliberalismuskonform – am Ende doch selbst die Schuld am eigenen Versagen gibt.

7. Enno Stahl im Kontext des neuen sozialen Realismus – eine Kritik

In der Kunst im deutschsprachigen Raum hat sich in den 2000er Jahren eine klare Rückbesinnung auf den sozialen Realismus ergeben, zu dem sich auch Stahl bekennt. Diese ist – aus naheliegenden Gründen – besonders im deutschsprachigen Film zu erkennen, wo der mit der „Berliner Schule“ assoziierte Sozialrealismus die romantische Komödie der 90er Jahre abgelöst hat. Der Hintergrund dieser Entwicklung auf der kulturellen Ebene ist die Erfahrung der Gegenwartskunst mit dem sozialdemokratischen Neoliberalismus, mit denen die Kooptation der antifordistischen Bewegungen der 60er Jahre an ihr Ende gekommen ist. Die damit einhergegangene Enttäuschung über die realexistierende Linke im Neoliberalismus (angesichts der Hiobsbotschaften vom Armutsbericht über Afghanistan bis zur Rentenversicherung) schlägt sich – mit Blick auf den wahrgenommenen Mangel an gesellschaftlichen Alternativen – in einer melancholischen Haltung nieder, die historisch betrachtet im Grunde eine Reflektion kleinbürgerlicher Ohnmachtsgefühle und vermeintlich illusorischer Befreiungssehnsüchte gewesen ist. Ganz offen formuliert hat dies die österreichische Musikgruppe Ja, Panik, deren 2012 erschienenes Album den Titel Die Manifestation des Kapitalismus in unseren Leben ist die Traurigkeit trägt. Dabei widerspiegeln alle diese Kulturprodukte selbstverständlich auch die wachsende Angst der unter prekären Bedingungen tätigen Mittelklasse-Künstler vor dem sozialen Abstieg. Während die Anerkennung und literarische Reflektion der sozialen Widersprüche im Neoliberalismus entwickelt ist, tendiert aufgrund der wahrgenommenen Alternativlosigkeit nun ein Großteil der Kunst, insbesondere im Film, zur schlichten Abbildung des sozialen Elends als einer Art voyeuristischen Elendspornographie. In der Gegenwartsliteratur steht vielleicht Clemens Meyer am stärksten für diese Tendenz. Dabei schwankt die Darstellung oft zwischen sich abstrakt und hilflos solidarisierender Empathie und massenfeindlicher Ablehnung des „verfaulenden“ unteren Drittels (man denke z.B. an die Filme des Österreichers Ulrich Seidl). Trotz alledem ist diese Entwicklung als ein Fortschritt zu betrachten.

Es ist einer kleinen Minderheit vorbehalten, über diese widersprüchlichen und oft klischeebehafteten Abbildungsversuche der sozialen Wirklichkeit hinauszugehen. Sie versucht sich an einer historisch-dialektischen Herangehensweise an den sozialen Realismus, der die Spezifik neoliberaler Subjektivität in ihrer Abgrenzung und Entwicklung aus der Rebellion gegen die fordistischen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse in den Blick nimmt. Die Kulturproduktionen dieses engen Personenkreises eignen sich damit nicht nur als eigenständiges Medium der Erkenntnis über die neoliberale Gegenwart, sondern weisen teilweise über diese hinaus, weil sie mit der Betonung der Prozesshaftigkeit ökonomischer, politischer und ideologischer Verhältnisse und der veraltenden (Fordismus-)Kultur (Barfuss 2002) die dialektische Historizität der Gegenwart betonen und Fragen über die Gesellschaft der Zukunft stellen. Dieser kleinen Minderheit verdanken wir eine Reihe ganz bemerkenswerter Kunstwerke: Was Lukas Moodysson (Mammut), Tatjana Turanskij (Eine flexible Frau), Franziska Stünkel (Vineta), Ken Loach (It’s a Free World...) und Christian Petzold (Yella) in der Filmkunst und Die Goldenen Zitronen, Die Türen und – mit epischen Liedern wie Möge die Macht! (2008) oder Unwetter in Blau (2012) – Kai Degenhardt für die Musik und das zeitkritische Lied geleistet haben, hat sich in der Literatur etwa in den Werken von Kushner, Braun, Anna Katharina Hahn (2009), Katharina Hacker (2006), Christoph Hein (2011) und eben Stahl niedergeschlagen, der mit Diese Seelen und Winkler, Werber zweifellos Großartiges geleistet hat.

Gleichwohl fällt insbesondere an der deutschsprachigen Kunst der Mangel an Transzendenz auf. Es ließe sich darüber streiten, ob der allegorische Gehalt einiger der genannten Werke eine utopische Qualität besitzt. Es spricht vieles dafür. Die Utopie bliebe jedoch allenfalls abstrakt. Die Darstellung neoliberaler Subjektivität in ihrer Widersprüchlichkeit, in die sich intervenieren ließe und aus der Emanzipationskämpfe entstehen könnten, fehlt im deutschsprachigen Raum bislang, weshalb die meisten der genannten Kunstwerke tragisch enden. Die Darstellung konkreter Befreiungskämpfe (wie z.B. in Loach-Filmen à la Bread and Roses oder Iciar Bollains Und dann der Regen) fehlt in der deutschsprachigen Gegenwartskunst genauso weitestgehend wie der spielerische Umgang mit dem Politisch-Revolutionären, wie er beispielsweise im Film The Trotsky des frankokanadischen Regisseurs Jacob Tierney zu sehen ist. Eine Ausnahme bilden im Grunde allein die Filme des Österreichers Hans Weingartner.

Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine Kunst, die auf den Abbruch fokussiert ist und dabei den Aufbruch aus den Augen verliert, die, um Brecht zu zitieren, Unrecht schonungslos darlegt, aber keine kollektive Empörung beschreibt, keine literarisch-beispielhafte Hilfestellung für verallgemeinerbare Handlungsfähigkeit bietet. Stahls Romane wecken in ihrer Darstellung der Ausweglosigkeit und Ohnmacht der lohnabhängigen Subjekte Erinnerungen an den Naturalismus von Upton Sinclairs The Jungle oder auch das ultrastrukturalistische Native Son des damaligen Kommunisten Richard Wright. Stahl kann sich an Sinclair, Wright oder auch John Steinbecks Grapes of Wrath messen lassen, wenn es darum geht, Klassenperspektiven aufzuzeigen. Anders als bei Steinbeck fehlt in seiner Darstellung aber nicht nur der Klassenkampf, sondern im Grunde jede Art der Bemühung um Selbstbefreiung. Die Akteure reproduzieren, wenn auch widersprüchlich, die sie unterdrückenden Verhältnisse; transformieren tun sie sie nicht, allenfalls ins Barbarische.

Nun ist der Einwand zweifellos berechtigt, daß andere Darstellungsformen angesichts des Mangels an starken gesellschaftlichen Klassenkämpfen gegenwärtig schwer zu realisieren sind. Zu leicht kann der Wunsch nach bewußtem Widerstand gegen Unterdrückung und der Verwirklichung antikapitalistischer Utopien peinlich wirken, wie z.B. in Weingartners gutgemeintem Film Free Rainer. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass in Diese Seelen Befreiung nur als gescheiterter Mordversuch des arbeitslosen Promovierten an seiner Fallmanagerin im Jobcenter zu denken ist. In Winkler, Werber geht Stahl sogar noch weiter: Frei ist Winkler erst als toter Mann. Und auch links und rechts von ihm führt Unterdrückung nur zur Anpassung, wie zum Beispiel bei Vanessa, die mit Winkler schläft, weil sie sich von ihm eine Übernahme und Festanstellung erhofft. Selbst die humanistisch daherkommende Aggi entpuppt sich als „Kameradenschwein“, indem sie das sinkende Schiff ohne Rücksicht auf Verluste verlässt.

Damit stellt sich die Frage nach Stahls Antikapitalismus. Dieser ist radikal und erinnert gerade deshalb an (oft von Lukács herkommende) Kapitalismusanalysen (Frankfurter Schule, Neue Kapital-Lektüre, Wertkritik, Gegenstandpunkt), die das System als mehr oder weniger in sich geschlossenes denken, das im Grunde nur von außen aufzubrechen wäre, und den sogenannten Arbeiterbewegungsmarxismus angesichts der Schwäche der Arbeiterbewegung heute, der (Ökologie-)Krise des Produktivismus und der Überschusslohnarbeit ablehnen. Wie sich Stahl Befreiung konkret vorstellt, die er – und das zeichnet ihn aus – noch will, behält er für sich. Zwar beharrt er darauf, daß seine „Protagonisten (…) – trotz allen gesellschaftlichen Vertretungsanspruchs – immer noch Individuen“ seien. Und dennoch konzipiert er sie als „Marionetten, gespielt von den sozialen und ökonomischen Verhältnissen.“ Der „so genannte freie Wille“ werde „in der derzeitigen Wirtschaftsform (…) auf ein Minimum reduziert.“ Zwar beschreibt Stahl in Diese Seelen mit Marija „[n]icht-instrumentelles Handeln“. Dieses bestrafe sich jedoch „selbst mit Ausschluss. Es bescheidet sich mit partieller oder gar keiner Teilhabe am ökonomischen Kapital.“ Natürlich schließe das „spezielle Distinktionsgewinne (…) (im Bereich des kulturellen oder symbolischen Kapitals) nicht aus. Wobei man allerdings sagen muss, dass auch hier die Maschen enger geworden sind und Leute, die sich für diesen Weg entscheiden, schon aus monetären Gründen aus vielem abgedrängt werden.“ Winkler, der gerade in Köln angekommen ist, lässt Stahl diese Wahrnehmung mit der Ornamentierung des Hauptbahnhofs vergleichen. Dessen „Balkengewölbe des Hauptbahnhofs, diese interessanten Verästelungen, Netzwerk, Grobgeflecht wie der Kapitalismus selbst, diese ganzen Streben und Abhängigkeiten, das ist wie immer und trotzdem neuerdings bedeutungslos. Die ganzen Leute da draußen, auf dem Bahnsteig, die ahnen nichts, die wissen ja nichts. Die wissen nicht, was ihnen droht.“ (311)

Daß Winkler nur durch den Freitod frei zu werden vermag, diese erbarmungslos strukturalistische Darstellung verleiht dem Stahl’schen Roman(en) eine wohl nicht-intendierte Melancholie, die den Verdacht erweckt, hier schreibt jemand, der wie kaum ein anderer deutschsprachiger Gegenwartsautor, die unhaltbaren Verhältnisse von heute seziert und gegen sie anschreibt, und doch zugleich den Eindruck erweckt, daß er an eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse und die Subjekte, die hierzu fähig wären, selbst nicht mehr so recht glaubt. Stahl scheint ergo aus einer „Trotz-alledem“-Haltung herauszuschreiben. Das ist sein gutes Recht und mindert keineswegs die hohe Qualität und das offenkundige Erkenntnispotential seiner Arbeit. Trotzdem stellt sich die Frage: Läuft die Melancholie Stahls nicht Gefahr, in denselben aufgeklärten Zynismus zu verfallen, gegen den Stahl in der Beschreibung seines Protagonisten zu Felde zieht? Dann wäre immerhin eine konservative Unterströmung in Stahls abstrakt-revolutionären, antikapitalistischen Romanen zu konstatieren.

Literatur

Thomas Barfuss, Konformität und bizarres Bewusstsein, Hamburg 2002.

Katharina Hacker, Die Habenichtse, Frankfurt/M. 2006.

Anna Katharina Hahn, Kürzere Tage, Frankfurt/M. 2009.

Christoph Hein, Weiskerns Nachlass, Frankfurt/M. 2011.

Enno Stahl (2009), Literatur und Aufklärung. Gespräch. In: Sozialismus, H. 2, S.60f

Enno Stahl (2011), Über die Bürde der Literatur. www.ruhrbarone.de

Enno Stahl (2012), Winkler, Werber, Berlin

[1] Über das Verhältnis von Literatur und Politischem sagt Stahl: „Jede Form von Literatur transportiert eine bestimmte Gesinnung, entweder bewusst oder unbewusst. Trivial- und Unterhaltungsliteratur, aber auch Vieles, was in den Kaderschmieden des deutschen Schrifttums Leipzig und Hildesheim zusammengeschrieben wird, enthält sich vordergründig jeder politischen Aussage, ist gerade darum zutiefst affirmativ, wirkt sich also durchaus politisch aus.“ (Stahl 2011)

[2] Stahl, dessen Wurzeln in der Avantgarde liegen, distanzierte sich später von literarischer Formrevolutionierung. Er nennt seinen heutigen Stil auch „analytischen Realismus“ (Stahl 2011).

[3] Das „Brausen eines ICEs“ soll nicht nur Assoziationen an die Geschäftsleute wecken, die dieses schnellste Zugmodell in Deutschland alltäglich bevölkern, um ihren kurz getakteten Geschäftsterminen nachzukommen. Es ist zugleich natürlich ein Verweis auf das berühmte expressionistische Gedicht „Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht“ (1913) von Ernst Stadler.