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Kultur, Ästhetik, Kunst

Grundlinien einer ontologischen Ästhetik

von Thomas Metscher
September 2015

In einer Reihe von Schriften habe ich seit einigen Jahren den Versuch unternommen, das Konzept einer ontologischen Ästhetik auszuarbeiten.[1] Der vorliegende Aufsatz setzt sich zum Ziel, die Grundlinien dieses Konzepts in konzentrierter Form darzustellen.[2]

Zunächst: Was heißt ‚ontologische Ästhetik’ und was heißt hier ‚Ontologie’?

I. Ein geschichtsmaterialistischer Ontologiebegriff und das Konzept einer ontologischen Ästhetik

1. Ontologie als geschichtsmaterialistisch-dialektischer Begriff

Der Begriff der Ontologie ist, wie viele Begriffe der neueren, auch der marxistischen Philosophie, metaphysischer Herkunft. Er stammt aus dem Lexicon philosophicum des Glocenius von 1613 und bedeutet dort ‚Lehre vom Sein’ und den ‚allgemeinsten Seinsbestimmungen’, wurde in der Folge mit der Metaphysik als prima philosophia des Aristoteles identifiziert. Diese versteht sich als die ‚Wissenschaft der ersten Prinzipien und Gründe des Seienden’, der die Lehre von dem ‚ersten unbewegten Beweger’, also eine philosophische Theologie, zugehört. Von Kant kritisiert, wird die Ontologie in Hegels Logik rehabilitiert, insofern in ihr von den notwendigen Prinzipien unserer Erkenntnis auf die notwendigen Prinzipien des Seienden geschlossen, die Philosophie zu einer Lehre des Seienden, wie es an sich selbst ist, ausgearbeitet wird. Eine Wiederaufnahme ontologischer Fragen im neueren Denken findet sich in der phänomenologischen Schule, die von Husserls Wesensschau bis zur Fundamentalontologie des frühen Heidegger und Sartre reicht, wie in der realistischen Ontologie Hartmanns. Im Marxismus sind Bedeutung und Rang ontologischer Fragen umstritten. Die Hauptlinien marxistischen Denkens, vom ‚westlichen’ und kritischen Marxismus bis zum sog. Marxismus-Leninismus lehnen, hier in seltenem Einklang, eine marxistische Ontologie ab. Auf der anderen Seite findet sich eine Wiederaufnahme ontologischer Fragen in Lenins Konspekten zu Hegels ‚Logik’, ihre systematische Ausarbeitung in Lukács’ später Ontologie und im Denken von Holz.[3]

Ohne hier auf die Debatten dieser hochkomplexen Fragen im Einzelnen eingehen zu können, sei mit wenigen Worten gesagt, wie ich den Ontologiebegriff verwende. Ich verwende ihn in einer Weise, wie allein man in meiner Sicht einen Begriff metaphysischen Denkens marxistisch noch verwenden kann: kritisch, dem traditionellen Begriffsverständnis entgegen. Fasst dieses Ontologie als Lehre vom Sein (‚allgemeinsten Seinsbestimmungen’) in einem metaphysischen Sinn, also bezogen auf das Seiende im Ganzen wie auf den Grund und Sinn von Sein, so kann geschichtsmaterialistisch ‚Sein’ nur als menschlich-gesellschaftlich-geschichtliches Sein, als Verhältnis von Mensch, menschlicher Welt und Natur bestimmt werden – mit Lukács’ Begriff: als Ontologie des gesellschaftlichen Seins –, als Natur-Sein nur, insofern uns die Natur aufgrund unseres Umgangs mit ihr und unsres Wissens von ihr bekannt ist. Erst durch die materialistische Metaphysikkritik: die Aufhebung der Metaphysik in Dialektik (Holz) kann die Frage nach den Strukturen und Erscheinungen des gesellschaftlich-materiellen und natürlichen Seins unverstellt gestellt werden; so erst wird die sinnliche Materialität des Seins in ihrem An-sich-Sein theoretisch zugänglich. Zugänglich werden Wirklichkeit und Welt, wie sie an sich selbst verfasst sind. Mit dieser Bestimmung ist das geschichtsmaterialistisch-dialektische Ontologiekonzept in einem prinzipiellen Sinn anti-kantianisch wie es anti-phänomenologisch ist und sich im Grundansatz von jedem existentialontologischen Entwurf unterscheidet. Dass aber ein solches Wissen ins Zentrum marxistischen Denkens gehört, ja notwendiger Teil ist einer dialektisch-materialistischen Weltanschauung, steht für mich außer Frage.

Meine Überlegungen nehmen auf Lukács wie auf Holz Bezug, ohne sich einer der von ihnen vorgegebenen Argumentationslinien in einem systematischen Sinn anzuschließen. Mein Ziel war und ist die Ausarbeitung eines eigenständigen Problemansatzes. Er liegt in einigen Grundzügen vor, beschränkt sich allerdings auf die besonderen Gegenstandsfelder, die ich behandle: die Theorie gesellschaftlichen Bewusstseins (in LW) und die Theorie der Kultur, des Ästhetischen und der Kunst (in K und Ä). Es lässt sich hier von Bereichsontologien sprechen, ohne den Anspruch, mehr als den Rahmen für eine allgemeine Ontologie ausarbeiten zu wollen. Beim gegenwärtigen Ausarbeitungsstand haben meine Überlegungen den Charakter eines Entwurfs mit offenen Horizonten.

Ontologie ist für mich also nichts Abgeschlossenes. Mit dem Begriff verbinde ich eine bestimmte Frage- und Aufgabenstellung.[4] Es ist die Frage nach stabilen Strukturen an-sich-seiender Wirklichkeit. Es geht um Konstanten im Wandel des historischen Prozesses, Strukturen, die historischen Veränderungen zugrunde liegen und diesen Kontinuität und Stabilität verleihen. So liegt in Marx’ Ausführung zum Arbeitsprozeß in Kapital I in meiner Sicht eine ontologische Analyse an dem Punkt vor, an dem er den Arbeitsprozess „unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form betrachtet“ (MEW 23, 192). Denn das heißt, er betrachtet ihn, wie er strukturell in jeder bestimmten gesellschaftlichen Form zu finden ist, wie er jede bestimmte gesellschaftliche Form fundiert.[5] Hier zeigt sich zudem, dass ontologische Strukturen weder zeitlos noch ungeschichtlich sind (es ist dies ein verbreitetes Vorurteil). Es sind Basisstrukturen natürlichen und menschlich-gesellschaftlichen Seins, die ihre Identität über längere Zeiträume und geschichtliche Formationen hinweg bewahren, die geschichtliche Veränderungen tragen, doch an sich selbst prozesshaft, veränderlich, werdend-gewordene, also geschichtlich sind. So hält Marx’ Arbeitsbegriff fest, was das Ergebnis evolutionärer Entwicklung ist, gleichwohl für alle uns bekannten Formen menschlicher Arbeit – durch formationsgeschichtliche Differenzen hindurch – seine Gültigkeit bewahrt hat; sie aller Voraussicht nach noch so lange bewahren wird, wie der Mensch in der uns bekannten Gestalt sein Dasein auf der Erde fristet.

Zum Begriff des Ontologischen in dem hier verwendeten Sinn seien folgende Leitsätze notiert:

1. Kategorien bzw. kategoriale Bestimmungen sind im Sinne einer geschichtsmaterialistischen Ontologie keine der Wirklichkeit vom Subjekt her oktroyierten Begriffe, sondern Bestimmungen von Gegenstandsstrukturen und Gegenstandsrelationen: Ausdruck von „Daseinsformen, Existenzbestimmungen“ (Marx; MEW 13, 637). Sie spiegeln, idealiter, Ganzheit und Zusammenhang der gegenständlichen Welt, auf die sie sich beziehen.

2. Ontologische Aussagen benennen gegenstandstheoretische Bedingungen für das So-Sein komplexer Sachverhalte (Tatsachen) – von Wirklichkeit und Welt.

3. Bei ontologischen Aussagen geht es um elementare Strukturen, deren Kenntnis unverzichtbar ist, wenn komplexe Sachverhalte (Tatsachen) verstanden werden sollen. Ontologische Elementaria besitzen einen axiomatischen Charakter.

5. Ontologische Kategorien sind geschichtlich in einem Sinn, den man als ontologische Geschichtlichkeit bezeichnen kann. Sie sind geschichtlich auf zweifache Weise. Sie bilden erstens die Basisstrukturen empirischer Prozesse: Strukturen, die diese Prozesse tragen, ihnen Kontinuität und Stabilität verleihen. Sie sind zweitens an sich selbst geschichtlich, da sie langzeitigen Veränderungen unterworfen, selbst gewordene und werdende sind.

6. Erst die Ontologie begründet die radikale Diesseitigkeit des Denkens. Denn sie fragt nach den stabilen Strukturen des materiellen Seins, wobei ‚Bewußtsein’, ‚Logos’, ‚Geist’ als – evolutionär entstandene – Teile des materiellen Seins gedacht werden. Sie fragt so nach der Gegenständlichkeit – der sinnlichen Materialität – von Wirklichkeit und Welt. Ist die sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis die Basiskategorie des von Marx begründeten ‚neuen Materialismus’, so fragt die ontologische Frage nach den Strukturen, aus denen diese Tätigkeit als subjektive Praxis wie die von ihr hervorgebrachte gegenständliche Welt besteht.

Diese Bestimmungen gelten im vollen Umfang auch für die Ontologie des Ästhetischen und der Künste.

Wirklichkeit und Welt

Eine Unterscheidung, die für meine Überlegungen wesentlich ist, ist die Differenz von Wirklichkeit und Welt.[6] Hier ließe sich, mit einigem Recht, von einer ontologischen Differenz sprechen. Unter ‚Wirklichkeit’ verstehe ich, was traditionell ‚das Ganze des Seienden’ oder ‚Realität’, bei Wittgenstein die ‚Gesamtheit der Tatsachen’ heißt. Welt dagegen ist der durch menschliches Tun – Praxis – geformte Teil der Wirklichkeit – Welt ist Wirklichkeit konstituiert durch das gegenständliche Handeln von Menschen. Im Weltbegriff treffen zwei Dimensionen zusammen: die des An-sich, Wirklichkeit als Naturgrund von Welt, und die des Für-uns, Welt als durch menschliche Praxis geformte Wirklichkeit. Ist Wirklichkeit die Gesamtheit der Tatsachen, so ist Welt die Gesamtheit der Tatsachen in Bezug auf den Menschen.

Welt ist zudem, nicht anders als die Wirklichkeit in ihren uns bekannten Naturformen, ein geschichtlicher Begriff. In ihrer materialen Verfaßtheit sind die Gegenstände der Welt wie ihre Verbindungen werdend-gewordene. Sie unterliegen Veränderungen. Sie sind prozessual: Resultat und Ausgangspunkt von Prozessen. Sie sind in der Zeit wie sie im Raume sind. In diesem Sinn sind sie geschichtlich; geschichtlich als Gegenstände der Natur und in besonderer Weise geschichtlich als Gegenstände der Menschenwelt. Diese sind durch sinnlich gegenständliche Tätigkeit, Praxis hervorgebracht. Die gegenständliche menschliche Welt wie die menschlichen Weltverhältnisse sind das Ergebnis menschlichen Handelns. Dieses ist mit sinnlich gegebenen Gegenständen befaßt: mit naturhaft gegebenen und mit menschlich gemachten. Menschliches Handeln ist Tun im Umgang mit Gegenständen oder gegenständliches Herstellen. Handelnde Menschen finden sich in einer durch vorgängiges Handeln determinierten Welt, in der sie selbst handelnd, Welt gestaltend und umgestaltend tätig sind. Sie sind produziert und produzierend zugleich. Die Weltverhältnisse sind gemacht, und sie sind gestaltbar.

Welt meint also jenes Ganze, das sich im Prozess kultureller Weltkonstitution als spezifisch menschliche Ordnung räumlich und zeitlich herstellt. Menschliches Dasein ist konstitutionell ‚welthaft’; in diesem Sinn korrespondiert der Weltbegriff mit dem der Kultur.[7] Kulturelle Konstitution meint den Prozess gegenständlicher Bildung, und dieser vollzieht sich als Raum-Zeit-Kontinuum. Konstituiert wird eine gegenständliche Welt in Raum und Zeit. Die kulturelle Konstruktion von Welt bezieht sich sowohl auf materielle Gegenständlichkeit, die Produkt menschlicher Arbeit ist, als auch auf Bildung der sozialen Welt als eines Systems von Vereinbarungen, Konventionen und Institutionen, als auch auf die Institutionen und Apparate politischer Macht, als auch auf die Welt kultureller Objektivationen (Formen, Traditionen), auf das geistige System von Normen und Werten, schließlich und nicht zuletzt auf die drei großen geistigen Objektivationssysteme: Religion, Kunst, Wissenschaft. Sie bezieht sich weiter auf die Konstitution von Bedeutung und Sinn auf allen Ebenen gesellschaftlichen Seins. Das Ästhetische, in der Vielfalt seiner Dimensionen, spielt eine zentrale Rolle in diesem Prozess.

Wo immer also in meinen Texten das Wort ‚Welt’ oder eins seiner Komposita zu finden ist, bezieht es sich auf Sachverhalte aus dem realen Leben von Menschen: die Erfahrung und Handlung konkreter Subjekte in einer gegenständlichen Welt. In der Geschichte der mimetischen Künste, dies ist ein Grundaxiom meiner theoretischen Überlegungen, ist die Totalität dieser Erfahrung in Form der reflexiven Anschauung aufgehoben.

2. Ontologische Ästhetik: Kultur-Ästhetik-Kunst als kategoriale Reihe und als Gegenstandsbereich

Das methodische Verfahren der ontologischen Analyse ist das einer genetischen Rekonstruktion. Gemeint damit ist der Rückgang auf fundierende Strukturen (‚kategoriale Elementaria’), aus denen Welt-Tatsachen – komplexe Sachverhalte – gebaut sind. Wenn ich von einer Ontologie des gesellschaftlichen Bewusstseins spreche (LW), so meine ich: Bewusstsein soll als struktureller Bestandteil des Wirklichen aufgefasst werden, das seinen genetischen Ort in der gegenständlichen Tätigkeit des Naturwesens Mensch hat; als struktureller Bestandteil von Natur und Menschenwelt, als Kategorie des materiellen Seins, Teil oder Modus, nicht Gegensatz zu Natur/Materie.[8] Wenn ich von einer ontologischen Ästhetik spreche (K, Ä), so heißt das: Ästhetik und Kunst – das mit diesen Worten bezeichnete Gegenstands-, Erfahrungs- und Praxisfeld – sollen in analoger Weise als struktureller Bestandteil des Wirklichen, der menschlich-gesellschaftlichen Welt, als Kategorie materiellen Seins aufgefasst werden. Auszuarbeiten sind die Kategorien dieses besonderen Weltbereichs, damit auch die differentia specifica zu anderen Weltbereichen.

Im Sinne der genetischen Rekonstruktion sind Ästhetik und Kunst Teil des Prozesses der Kultur: Das Ästhetische ist Modus (Seinsform, Weltgestalt) des Kulturellen, die Kunst Modus (Seinsform, Weltgestalt) des Ästhetischen. Es ist dies das Basisaxiom der hier vertretenen Theorie. Kultur-Ästhetik-Kunst bilden eine kategoriale Reihe. Die sie konstituierenden kategorialen Strukturen in ihrer Gesamtheit sind der Sachverhalt, über den hier geredet wird. Er bildet zugleich, in seiner geschichtlich-gesellschaftlichen Verfassung, einen besonderen Gegenstandsbereich, der Teil ist des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse.

In Ästhetik, Kunst und Kunstprozess (Ä), der bisher entwickeltsten Gestalt meines theoretischen Konzepts, gehe ich auf das Problem der ontologischen Fundierung ausdrücklich ein und umreiße den kategorialen Raum der zu erläuternden Theorie (Ä, 28f.). Mein Einsatz ist Holz’ Argumentation für die Zentralität des ästhetischen Gegenstands und damit verbunden die Priorität der Werkästhetik vor Produktions- und Rezeptionsästhetiken. Meine Überlegungen folgen, von diesem Einsatz her, in Begründung und interner Systematik jedoch einer eigenständigen Argumentation. Diese versteht, so in der grundlegenden ersten Studie: Kunst als ästhetischer Gegenstand (Ä, 31-106), das Ästhetische und die Künste im Zusammenhang einer Theorie des Kulturellen, Kultur als Konstitution von Selbst und Welt durch das gegenständliche Handeln der Menschen, das Ästhetische als Modus des Kulturellen: die welthafte Bildung menschlicher Sinnlichkeit, Kunst als Modus des Ästhetischen. Die Ausarbeitung des gegenstandsorientierten Begriffs der Kunst erfolgt systematisch-argumentativ auf zwei Stufen: erstens durch die Analyse der Grundkategorien des Kunstästhetischen: Poiesis, Mimesis, Selbstreflexivität/Widerspiegelung, gegenständliche Tätigkeit, kompositorisches Werk, Geschichtlichkeit und Praxis; zweitens durch die Analyse der Strukturen des ästhetischen Bereichs als distinkten Teils des geschichtlichen Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse: ästhetischer Gegenstand, Kunstverhältnisse und Kunstprozess; dabei bildet das kompositorische Werk das Zentrum des ästhetischen Gegenstands. Dieser wird, in der Gesamtheit seiner Bestimmungen, als kulturelle Konstellation verstanden: als integraler Bestandteil des kulturellen Prozesses. Der Kunstprozess seinerseits umfasst die Momente Kunstproduktion, Werk und Werkrezeption als Zusammenhang – der ästhetische Gegenstand ist nur als dieser Prozess. Eine zweite Studie grundlegenden Charakters: Mimesis und Episteme (Ä, 153-238) entwirft eine Theorie ästhetischen Bewusstseins. Damit gemeint ist das in den Künsten artikulierte und durch sie erschlossene Bewusstsein als ‚Wissen’ von Welt. Für dieses Wissen steht der Begriff der ‚ästhetischen Episteme’. Zum ihrem Komplex gehört der Weltbildcharakter der Künste. Charakteristisch für das ästhetische Weltbild sind seine symbolische Form und das ihr inhärente Moment der Weltdeutung, verstanden als Einheit von Wissen und Verstehen; an diesen Gesichtspunkt schließt dann auch der Problemkreis einer materialistischen Hermeneutik an. Die abschließend gestellte Frage ist die nach Kunst, Ideologie und Wahrheit. Die Überlegungen schließen mit einem Plädoyer für das Wahrheitspotential der Künste.

Die zweite Studie ist auf der ersten fundiert. Beiden umreißen einen argumentativ-systematischen Komplex. Diesem ist eine dritte Studie zugeordnet: Welt im Spiegel. Elemente einer Theorie symbolischen Denkens. Sie behandelt die Spiegelmetapher an paradigmatischen Beispielen und begreift sie als Form der symbolischen Aneignung von Welt, diese Aneignung wiederum als integralen Bestandteil des Prozesses kultureller Konstitution. Eine systematische Bedeutung freilich besitzt die Spiegelmetapher in diesem Konzept nicht.

Durch den vorgegebenen Rahmen einer verkürzten Darstellung ist im Folgenden die Beschränkung auf die kategoriale Grundlegung und die Erläuterung einiger Kernaspekte meines Entwurfs unvermeidbar.

II. Ästhetik und Kunst als Teil des Prozesses der Kultur

1. Begriff und Struktur des Ästhetischen

Das Ästhetische bezeichnet ein grundlegendes gegenständlich-praktisches Weltverhältnis des gesellschaftlichen Menschen. Dieses Verhältnis ist produktiv und konsumtiv (rezeptiv) zugleich. Es ist ein tätiges Verhalten, und es ist ein Verhalten der Reflexion. Seinen Grund hat es in einem produktiven Vermögen: dem Vermögen des formenden Umgangs mit Welt. Seine Grundkategorie ist, zu seiner Objektseite hin, die sinnliche Form, zu seiner Subjektseite das Vermögen sinnlicher Formung, dem auf der rezeptiven Seite das Vermögen der reflexiven Wahrnehmung von sinnlich Geformtem entspricht. Das ästhetische Weltverhalten findet sich in allen uns bekannten Kulturen und historischen Stufen. Es ist in diesem Sinn ein Anthropologicum.

1. 1. Das Ästhetische als Modus des Kulturellen

In grundlegender Bestimmung wird hier das Ästhetische als Modus des Kulturellen, Kunst als Gestalt der Kultur aufgefasst: Form sinnlich-gegenständlicher Bildung des menschlichen Subjekts. Das Kulturelle bezeichnet keine besondere, von anderen unterschiedene Form menschlicher Tätigkeit.[9] Es bezeichnet in einem subjektiven wie objektiven Sinn Selbstproduktion als Dimension menschlicher Tätigkeit überhaupt. Kultur ist das Gesamt selbstproduktiver Akte wie ihrer vergegenständlichten Objektivationen, der kulturelle Prozess der Vorgang in der Zeit, in dem sich menschliche Selbstproduktion vollzieht. Dabei wird Selbstproduktion als Selbstzweckhandlung verstanden: Sie ist Zweck-in-sich-selbst, wie auch der Prozess kultureller Bildung eine selbstzweckhafte Struktur besitzt. Die „menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt“ (Marx; MEW 25, 828), bildet seine Substanz. In diesem Sinn heißt das Kulturelle das Moment der Selbstproduktion im Ensemble menschlicher Tätigkeiten.

Selbstproduktion als Kernkategorie des Kulturellen hat verschiedene kategoriale Stufen: auf fundamentaler Ebene die Ausbildung menschlicher Vermögen im Arbeitsprozess, die psychisch-soziale Bildung im Gesamtprozess menschlicher Reproduktion, die Entwicklung von Sprache und Denken (von kognitiver Fähigkeit und Intellektualität), ästhetische Bildung, Kunst und Wissenschaft, Bildung menschlicher Sinne als geschichtlicher Prozess, Ausbildung von Individualität, Konstitutionsprozess der menschlichen Natur – des menschlichen Wesens als historisches Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Kultur als Selbstproduktion in diesem umfassendsten Sinn meint also die selbsttätige, selbstzweckhafte Verwirklichung menschlicher Subjekte. Ihr Inhalt ist die geschichtliche Bildung menschlicher Bedürfnisse, Fähigkeiten und Kräfte: Veränderung der menschlichen Natur durch die Entwicklung ihrer ‚schlummernden’ Potenzen (Marx). In deren Bildung konstituiert sich zugleich geschichtlicher Sinn: Kultur ist auch der Vorgang einer Sinnstiftung. Selbstproduktion und Weltkonstruktion betreffen den ‚ganzen Menschen’, der sich in der von ihm geschaffenen Welt sinnhaft einzurichten bemüht ist, und dazu gehört der epistemische Kernkomplex: das Erkennen, Wissen und Verstehen von Selbst und Welt. Kultureller Sinn zudem hat seinen Kern im Konzept eines eudaimonischen, d.h. auf ‚Glück’ gerichteten Daseins.[10] Ein Sinnbedürfnis ist als anthropologische Konstante anzunehmen.

Die Existenz ‚schlummernder’ Potenzen, eine exzeptionelle Entwicklungs- und Formungsfähigkeit des Menschen ist ein empirisch gegebener Sachverhalt. Der Prozess kultureller Bildung nun – die Entwicklung und Formung menschlicher Vermögen – geschieht auf keinem anderem Weg als dem der gegenständlichen Weltkonstitution. Sein ontologischer Raum ist die Weltgeschichte. Kulturelle Bildung ist geschichtlicher Prozess als Geschichte der Gattung – geschichtlicher Prozess, der empirisch in einer Vielzahl singulärer und differenter historisch-kultureller Formen verläuft und sich in individuellen Geschichten spiegelt. Der Gesamtprozess solcher Bildung soll als kulturelle Konstitution bezeichnet werden. In ihm spielt das Ästhetische wie die Künste eine wesentliche Rolle.

Das Ästhetische als Modus des Kulturellen: Es ist in einem ubiquitären und omnipräsenten Sinn Teil des Prozesses der Kultur. Ubiquitär und omnipräsent heißt: es ist, in elementarer Form zumindest, an jedem kulturellen Ort und zu jedem Zeitpunkt der Geschichte vorfindbar. Es zeigt sich in allen Bereichen menschlich-gesellschaftlichen Seins: in Alltag und Lebensweise, in den Künsten, im Verhältnis des Menschen zur Natur. Es meint ein Vermögen des Subjekts, Formen der Gegenständlichkeit und gegenständlichen Handelns, kommunikative Prozesse. Sein Kern, die welthafte Bildung menschlicher Sinnlichkeit, äußert sich in einer gegenständlichen Vielfalt von Dimensionen: der Ästhetik menschlicher Praxis, der Alltagswelt und Lebensweise, der Ästhetik der Natur und der Ästhetik der Künste.

1. 2. Das Ästhetische als Bildung menschlicher Sinnlichkeit

Bereits der etymologische Wortsinn legt nahe: Ästhetik und Ästhetisches ist an menschliche Sinnlichkeit (‚Aisthesis’) gebunden. Kern des Ästhetischen ist die Bildung menschlicher Sinnlichkeit als kulturelle Tatsache. Sie ist „eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte“. In ihr vollzieht sich die gegenständliche Bildung des menschlichen Wesens (MEW, EB 1, 541f.). Die Geschichte des Ästhetischen insgesamt, in allen seinen Manifestationen, ist das aufgeschlagene Buch dieser Bildung. Ja die Arbeit an ihr ist die elementarste Funktion des Ästhetischen. In dieser Bedeutung sind die Künste Vergegenständlichungen (und damit Entwicklung und Bildung) der sinnlichen menschlichen Subjektvermögen. So arbeitet Literatur an der Bildung sprachlicher Ausdrucksfähigkeit, Musik an der Bildung des Ohrs, die bildhaft gestaltenden Künste an der Entwicklung des Sehens usf. Diese elementare Funktion der Künste ist auch ihre permanente Funktion.

Bereits auf der Ebene des Alltagslebens hat jedes kulturelle Sich-Einrichten in eine gegebene Welt, jede Humanisierung von Umwelt, einen elementaren ästhetischen Aspekt, der die Entwicklung von Sinnlichkeit und sinnlicher Wahrnehmung betrifft. Jede Kultivierung einer Lebenswelt schließt Ästhetisierung ein, die immer Formierung von Sinnlichkeit (nach der Seite des Subjekts wie seines Gegenstands), Bildung ästhetischer Gegenständlichkeit wie auch des subjektiven gegenständlichen ästhetischen Sinns bedeutet.

Ästhetische Bildung ist gegenständlichen Charakters. Ihr eignet ein fundamentaler Weltbezug. Sie ist auf die Formierung von Welt orientiert: sie arbeitet an der Umformung, Gestaltung und Umgestaltung gegebener Wirklichkeit im Sinne einer Bildung menschlicher Welt.

Im Sinn eines solchen Weltbezugs ist das Ästhetische eine Grundkategorie menschlichen In-der-Welt-Seins. Kultureller Tätigkeit ist der Aspekt ästhetischer Lebensgestaltung inhärent. Dazu gehört die Ausbildung einer ästhetischen Weltgestalt. Ästhetische Praxis schließt ein: kulturelles Sich-Einrichten in gegebener Wirklichkeit, das Herausarbeiten einer ästhetischen Welt-Gestalt als Welt-Raum menschlichen Wohnens, beschreibbar in der kategorialen Reihe Wohnung–Haus–Ort-Landschaft, und zwar im Sinne eines menschlichen Sich-Eingestaltens in gegebene Natur. Diese kategoriale Reihe meint eine kulturelle Topologie räumlicher Lebensgestaltung als eine fundamentale Form, in der eine besondere menschliche Welt durch gegenständliche Praxis erarbeitet und erschlossen wird. Ein solches Sich-Einrichten in gegebener Wirklichkeit schließt grundlegende gesellschaftliche Verhältnisse ein, gründet auf einer je gegebenen Produktionsweise. Es schließt zugleich ein grundlegendes Naturverhältnis ein. Die Herausbildung einer ästhetischen Weltgestalt menschlichen Wohnens ist stets auch, wie immer vermittelt, Tätigkeit in der Natur, ein menschliches Sich-Einformen in diese: das Umformen von Natur in ästhetische Weltgestaltung. Im Vorgang dieses Sich-Einformens und Umformens konstituiert sich eine ästhetische Weltgestalt als menschlich geformte Natur.

2. Ästhetik der Künste: kategorialer Kernbereich

2. 1. Poiesis und Mimesis als ästhetische Prinzipien

Ästhetische Prinzipien sind Grundkonstitutiva des Ästhetischen, die strukturellen Bestimmungsgründe oder Ursachen seines Daseins und Soseins: Principium (gr. arché) ist das Erste, von dem Anderes abhängt. Ästhetische Prinzipien sind Realprinzipien, principia essendi, sofern sie Konstitutiva des ästhetischen Gegenstands als der Sache selbst sind (sie erst machen ein Etwas zu einem Aestheticum), und sie sind bewirkende Prinzipien (principia efficiendi), sofern sie zugleich Prinzipien des ästhetischen Vermögens sind. Da sich dieses auf die Produktion wie die Konsumtion von Kunst bezieht – es ist Bedingung beider –, betreffen ästhetische Prinzipien den gesamten Kunstprozess. Bezogen auf diesen haben sie den Status ontologischer Grundkategorien.

Aus der Sicht ihrer geschichtlichen Entwicklung von den frühesten Stufen an lässt sich für die Frage nach dem, was die Künste von anderen Gegenstandsbereichen unterscheidet, eine Reihe charakteristischer Merkmale ausmachen: Merkmale, die Kunstästhetisches damit auch im Kontext und als Bestandteil anderer Gegenstandsformen identifizierbar machen. Es ist zunächst und als erstes das Moment formaler Gestaltung. Kunst ist, in allen historischen Stufen und von den frühesten überlieferten Beispielen an, was sie immer noch ist: sinnliche Form. Sie ist ein kompositorisches Machen – ‚Poiesis’[11] –, das sich als Dekor (in ornamentalen Formen, ‚Schmuck’) und als mimetische Form (in Verbindung mit Mimesis) äußern kann.[12] In der Verbindung mit Mimesis, als ‚poietische Mimesis’, hat es die Geschichte der Künste im europäischen wie im Weltmaßstab auf weite Strecken geprägt. Das poietische Machen bewegt sich zwischen den Polen von Arbeit und Spiel. Poiesis/Form ist die Bedingung von Kunst überhaupt, poietische Form ihr Grundbegriff.

Fragen wir nach ästhetischen Prinzipien im Sinne einer genetischen Folge, so ist als erstes das poietische Vermögen zu nennen: Poiesis als menschliche Produktivkraft die Fähigkeit, herzustellen, zu erfinden, zu gestalten. Poiesis, in diesem Sinn, ist das Vermögen kompositorischer Gestaltung, dem eine rezeptive Komponente, das Vermögen kompositorischer Gestaltwahrnehmung, integral entspricht. Poiesis als Vermögen liegt aller ästhetischen Praxis, auch der Alltags- und Naturästhetik, zugrunde. Sie ist erstes Prinzip des Ästhetischen überhaupt. An ihre Seite tritt Mimesis als zweites ästhetisches Prinzip. Sie ist gleichfalls in elementaren kulturellen Vermögen des Menschen verankert.

Poiesis bezeichnet das kompositorische Vermögen und ist damit Prinzip der ästhetischen Form. Mimesis ist Prinzip des ästhetischen Inhalts. Sie ist ein primären Reproduktionsprozessen entspringendes anthropologisches Vermögen, ursprünglich die Fähigkeit zur Mimikry und Angleichung, das in den ästhetischen Prozess strukturbildend eingeht. Als kulturelles Vermögen ist es, wie jedes andere kulturelle Vermögen, bildungs- und entwicklungsfähig. Ihm entspringt die Fähigkeit, in Spiel, Tanz und Sprache Abwesendes sinnlich zu vergegenwärtigen. Es liegt jeder, auch der komplexesten ästhetischen Mimesis zugrunde. Im Bereich der Künste äußert sich das mimetische Vermögen in der Trias Darstellung, Ausdruck, Nachahmung. In diesen Gestalten hat es, seit der Mimikry, bereits einen beachtlichen kulturellen Transformations- und Entwicklungsprozess durchlaufen. Ästhetische Mimesis meint welthafte (weltartige und weltgestaltende) Kunst: Kunst als Weltentdeckung, Weltdeutung und Weltentwurf.

Poiesis: ästhetische Form

Die Besonderheit der Künste hat ihren Grund also im Moment der Komposition, in der Formbestimmheit des ästhetischen Produkts. Ästhetische Form meint: kompositorische Gestaltung innerhalb eines spezifischen Materials und auf der Grundlage eines besonderen Stands der Entwicklung der ästhetischen Produktivkräfte. Form bezieht sich auf das konkrete Werk: das Werkhafte von Kunst. Werk heißt: materielle Vergegenständlichung künstlerischer Arbeit. Zu sprechen ist vom Formapriori künstlerischer Produktionen in dem Sinn, dass kompositorische Formung Bedingung von Kunst überhaupt ist. Ästhetische Form ist kompositorisch geformte Gegenständlichkeit. Es gibt keine Kunst ohne das tragende Moment kompositorischer Formung – auch in der sog. minimalistischen Kunst muss sie, wie elementar auch immer, vorhanden sein.

Form in der Kunst ist immer die Einheit von Form und Bedeutung: ‚bedeutungshaltige Form’, entsprechend der Dialektik von Inhalt und Form. So wenig es Kunst ohne Form gibt, so wenig gibt es Kunst ohne Bedeutung. Eine formale Gestaltung, die keine Bedeutung besitzt, ist keine Kunst. Neben das Formapriori künstlerischer Produktionen tritt das Apriori der Bedeutung, ja die Kriterien ästhetischer Wertung haben solche zu sein, die sich aus der Dialektik von Form und Bedeutung ableiten.[13] Dabei kann das, was hier ‚Bedeutung’ heißt, sehr unterschiedlich beschaffen sein. Bereits formales Spiel und minimalistische Konstruktionen besitzen Bedeutung oder können eine solche besitzen, sofern etwa dieses Spiel als angenehm empfunden wird und Vergnügen bereitet, die minimalistische Konstruktion einen bestimmten Sinn (oder die Abwesenheit von Sinn) vermittelt. Die Bedeutung kann sich, wie oft in mimetischer Kunst, auf einen Weltgehalt beziehen, der das Schicksal von Individuen, Klassen, ja der menschlichen Gattung betrifft. Vom funktionalen Sinn eines Gegenstands (seiner pragmatischen Funktion) ist die ästhetische Bedeutung kategorial strikt zu unterscheiden. Die Komplexität der Werkbedeutung ist zentrales Kriterium der Wertung von Kunst – der Bestimmung des ästhetischen Rangs eines Werks; entscheidend dafür die Einsicht, dass die Werkbedeutung immer an den Formcharakter des Werks gebunden ist, auf diesen untrennbar zurückgeht.

Mimesis: Welthaftigkeit der Künste[14]

Der kunstästhetische Begriff der Mimesis bezieht sich in allgemeinster Bestimmung auf die konkrete Welthaftigkeit der Künste im Sinne eines fundamentalen Verhältnisses zu menschlicher Praxis und Erfahrung. Die Grundstruktur ästhetischer Mimesis besteht aus den Komponenten mimetische Form, mimetischer Gegenstand und mimetische Funktion. Mimetische Form meint das besondere ästhetische Werk, mimetischer Gegenstand das Weltsegment, auf das sich ein besonderes Werk reflexiv bezieht, mimetische Funktion die Wirkung des Werks im Hinblick auf Rezipienten.

Der Mimesisbegriff bezeichnet im ontologischen Sinn also ein fundamentales Weltverhältnis, das den Künsten strukturell inhärent ist und auf dem sie aufbauen. Dieses Weltverhältnis tritt in der Geschichte der Künste in unterschiedlichen Ausprägungen auf. Die Grundbedeutungen – die ‚Namen’ – der Mimesis: Darstellung, Ausdruck, Nachahmung verweisen auf ihre fundamentalen Modi und bringen sie in sprachliche Bezeichnung. Es handelt sich um Unterschiede der strukturellen Beziehung von mimetischem Gegenstand, mimetischer Form und mimetischer Funktion. So ist die Welthaftigkeit des mimetischen Ausdrucks eine andere als die der Darstellung und der Nachahmung. Ausdruck bezeichnet die ästhetische Artikulation der ‚inneren Welt’ (Hegel) eines individuellen oder kollektiven Ichs: die sich in Kunstform vergegenständlichende und mitteilende psychische Erfahrung von Menschen (Gefühl, Affekt, Emotion). Nachahmung (imitatio) kann zweierlei bedeuten: erstens, im Sinne des Prinzips ontischer Mimesis, die Reproduktion externer Realität, der empirischen Erscheinungsform von Wirklichkeit und Welt, in Spielarten, die von Leonardo da Vinci bis zum modernen Naturalismus und ‚Photorealismus’ reichen; zweitens aber auch, im Sinne des Prinzips ontologischer Mimesis, die Nachgestaltung des inneren Formgesetzes, der ‚entelechischen Gestalt’ von naturhaft Seiendem: imitativer Vollzug also eines im Externen (der physis) wirkenden Prinzips. Umschließt Nachahmung in ihrer ontisch-ontologischen Bedeutung die größten Polaritäten unter den Grundbegriffen ästhetischer Mimesis, so hat Darstellung den umfassendsten Sinn. ‘Darstellung’ bedeutet die fiktive Vergegenwärtigung (ästhetische Modellierung) historisch-gesellschaftlicher Welt, wobei ‚Welt’ hier erfahrende und handelnde Individuen ebenso umfasst wie gegebene Gegenstände, Gegenstandsrelationen und Verhältnisse. Der Weltbegriff zielt hier auf den strukturierten Zusammenhang sinnlich realer, agierender, reagierender und interagierender Individuen in einem gesellschaftlich-gegenständlichen Raum-Zeit-Gefüge. Zu sprechen ist in diesem Zusammenhang von einem realismustheoretischen Mimesisbegriff.[15]

Mimesis und Realismus. Notiz

Grundprinzip des künstlerischen Realismus im Sinne eines kunsttypologischen Begriffs ist die mimetische Darstellung, in einem eingeschränkten Sinn auch der mimetische Ausdruck. Realismus ist ein Modus des Mimesisbegriffs; er ist nicht mit ihm identisch.[16] Realistische Kunst ist, im Anschluss an Auerbach, „dargestellte Wirklichkeit“,[17] und dies gilt über die Literatur hinaus für alle Künste, die von ihrer materiellen Formenwelt her der realistischen Darstellung oder auch des Ausdrucks fähig sind. Das bedeutet aber, dass mit dem kunsttypologischen Begriff des ‚Realismus’ keine besondere Stilrichtung, Epoche oder Kunstform gemeint sein kann, sondern vielmehr ein besonderes künstlerisches Verfahren, das besagt, dass „die Wirklichkeit in ihren vielfältigen bestimmenden Faktoren sich im Kunstwerk niederschlägt”.[18] Sein Grundkriterium ist die künstlerische Weltentdeckung. Im Zentrum des realistischen Prinzips steht die Absicht, durch die Darstellung von Wirklichkeit die dargestellte Welt in wesentlichen Zügen zu erfassen und im Vollzug der Darstellung zu deuten. Realistische Kunst ist „Interpretation durch Darstellung”[19] (Auerbach 1967, 515), ihr Gegenstand „die geschichtliche und natürliche Wirklichkeit in ihrem Bezug auf den Menschen”.[20]

2. 2. Das Ästhetische als Gegenstandsbereich und die Geschichtlichkeit der Künste

Kunst bildet einen Gegenstandsbereich von hochgradiger Komplexität, der gleichwohl von anderen Bereichen gesellschaftlichen Seins klar unterschieden ist. Ich möchte die kategorialen Strukturen dieses Gegenstandsbereichs in einigen Gesichtspunkten erläutern.

Das Ästhetische als Gegenstandsbereich

Grundaxiom meiner Überlegungen ist die Existenz einer sinnlich-gegenständlichen, durch menschliches Handeln konstituierten Wirklichkeit, des Ensembles einer gesellschaftlichen Welt, auf die sich die Künste in unterschiedlicher Weise beziehen, mit deren Verhältnissen sie in Genesis und Funktion verknüpft sind. Kunst ist, wie jede andere geistige Äußerung des Menschen, organischer Teil von Gesellschaft, in Produktion und Rezeption in konkrete Weltverhältnisse – ‚materielle Lebensverhältnisse’ – eingebunden und angemessen nur aus diesen zu erfassen. Dabei bildet sich die Kunst im Verlauf ihrer historischen Entwicklung – und dieser Prozess ist ein weltgeschichtlicher (ein solcher, an dem alle Weltkulturen beteiligt sind) – zu einem eigenständigen Gegenstandsbereich heraus, der als Komplex geschichtlich-gesellschaftlicher Strukturen verfasst ist, in dessen Mitte das Kunstprodukt, das kompositorische Werk steht. Konstitutive Strukturen dieses Bereichs sind die Kunstverhältnisse und der Kunstprozess. Von Kunstverhältnissen spreche ich im Sinne eines Felds geschichtlich-gesellschaftlicher Bedingungen der Produktion und Rezeption von Kunst. ‚Kunstverhältnisse’ sind ein gegenstandstheoretischer Begriff. Er bezieht sich auf den Gesamtbereich des Kunstprozesses (den Vorgang der Produktion und Rezeption eines künstlerischen Produkts als zusammenhängender Prozess in der Zeit) wie auf die Institutionen und Instanzen, die diesen Prozess strukturieren; auf den Gesamtbereich dessen, was Pierre Bourdieu das ‚ästhetische Feld’ nennt. Die Kunstverhältnisse sind zuerst und zunächst die Produktionsverhältnisse von Kunst, als Verhältnisse von Herrschaft und Eigentum, unter denen Kunst produziert wird; zum zweiten sind es die Verhältnisse der Distribution und Vermittlung; zum dritten die Verhältnisse der Konsumtion/Rezeption von Kunst. Zu den Kunstverhältnissen gehören also die institutionellen wie die sozial-normativen Bedingungen künstlerischer Produktion, Distribution und Konsumtion. Zu ihnen gehören aber auch, von konstitutiver Bedeutung für den Kunstprozess selbst, die ästhetischen Verhältnisse im engeren Sinn des Begriffs: der Entwicklungsstand der ästhetischen Produktivkräfte: die überlieferte Formenwelt der Künste als Material künstlerischer Gestaltung – mit dem ein Künstler arbeitet, in dem er ein neues Werk produziert. Es gibt keine Kunst ohne vorgängige Überlieferung. Diese ist Teil der notwendigen Bedingungen künstlerischer Produktion wie Rezeption. Zu den Kunstverhältnissen gehören weiter die allgemeinen kulturellen und ideologischen Verhältnisse einer Zeit: die vorhandene objektive Kultur; der allgemeine Stand des Wissens und Bewusstseins; die zivile Gesellschaft mit ihren Instanzen und Institutionen, dominante wie oppositionelle Ideologien, Weltanschauungsformen, politische Formen usf. – sofern sie relevant sind für den ästhetischen Gegenstand einer bestimmten historischen Zeit.

Der ästhetische Gegenstand, wie der Begriff hier verstanden wird, ist nicht mit der traditionellen Vorstellungen des isolierten Kunstwerks zu verwechseln; er wird als kulturelle Konstellation verstanden – als Teil des Prozesses der Kultur. Das bedeutet als Erstes: das Werk ist vermittelnde Mitte eines kommunikativen Vorgangs, dem Produktion und Konsumtion organisch zugehören. Das Ganze dieses Vorgangs, zu dem das historisch-institutionelle Feld gehört, in dem er sich vollzieht, nenne ich den Kunstprozess. Ist auch das Werk die Mitte und damit die Kernkategorie dieses Prozesses, so kommt doch den Momenten der Produktion und Rezeption ästhetisch wie semantisch eine wesentliche Bedeutung zu.

Kunst ist gegenständliche Tätigkeit und als solche eine Weise der Produktion. In diese gehen psychisch-soziale Verfasstheit, Weltanschauung und Werkintention des Künstlers als des Produzenten werkbestimmend ein. Kunst als Produktion heißt: sie ist ein ‚Formieren’ (Marx) im Medium gegenständlicher Materialien (naturhaft vorgefundener oder kulturell geformter), wobei die Unterschiede in der stofflichen Beschaffenheit der Materialien die Unterschiede der Kunstarten in einem elementaren Sinn fundieren. Die Besonderheit künstlerischer Arbeit besteht in der Verbindung des formal-materiellen mit einem ideellen (semantischen) Moment. Was die Kunst zur Kunst macht, ist nicht die Tatsache, dass ihre Produkte durch Arbeitsvorgänge geschaffene Artefakte sind, sondern dass diese bedeutungsvolle Formen sind, ja in ihre mimetischen Modi Bilder von Weltgehalten entwerfen, ihren Sinn durch die Deutung von Welt erhalten. Die Kunst wird zur Kunst durch den bedeutungsstiftenden Akt der Form und durch nichts anderes.

Im Moment der Produktion liegt der Grund für die relative Autonomie der Kunst und des ästhetischen Bereichs. Der Begriff künstlerischer Autonomie wurde und wird oft im Sinn einer von allen gesellschaftlichen Bindungen gelösten, ‚ungeschichtlichen’ Kunst missverstanden und so mit künstlerischer Autarkie verwechselt. Seine positive Bedeutung hingegen, auch und gerade im Sinn einer marxistischen Kunsttheorie, bezieht sich auf den Sachverhalt, dass künstlerische Produktion eigengesetzlich ist und in diesem Sinne selbstbestimmt. Sie folgt Regeln, die aus keiner anderen Produktionsart stammen, sondern aus den Anforderungen ihrer eigenen: den Besonderheiten künstlerischer Poiesis. Sie sind für jede Kunstart gesondert zu erarbeiten und liegen auch nicht ein-für-alle Mal fest. Die Autonomie der künstlerischen Produktion nun bildet – im ontologischen Sinn – den Kern, der die Eigenständigkeit des ästhetischen Bereichs insgesamt konstituiert.

Als Vergegenständlichungsform menschlicher Arbeit hat Kunst den Charakter eines Werks – selbst dann, wenn sie, wie in Beispielen des Tanzes oder des theatralen Spiels, im Bereich des Performativen generell, über den aktuellen Akt der Darstellung hinaus keine materielle, damit tradierbare Existenz hat und allein als Erinnerung fortdauert; heute freilich auch in der materiellen Form filmischer Aufzeichnung. In der Regel meint ‚Werk’ das objektivierte, materiell existente, tradier- und kommunizierbare Produkt der künstlerischen Arbeit. ‚Werk’ bezieht sich so auf die Selbstidentität eines materiell existenten, formal gestalteten Gegenstands: eine kommunizierbare, rezipierbare, historisch tradierbare ästhetische Form. Auch performativen Akten eignet eine kompositorische Struktur, insofern lässt sich hier von ‚Werken zweiten Grades’ sprechen. Der Begriff des kompositorischen Werks ist Begriff gegenständlicher ästhetischer Synthesis – der Synthesis aller kategorialen Momente des Kunstästhetischen in der konkreten Werkform selbst. In diesem Sinn ist das kompositorische Werk die Kernkategorie des ästhetischen Gegenstands.

Dem rezeptiven Akt kommt, nicht anders als der künstlerischen Produktion, eine ästhetisch wie semantisch bestimmende Rolle zu. Erst in der Rezeption, der produktiven Konsumtion der Rezipierenden wird der Kunstprozess zu einem Abschluss gebracht. In der ästhetischen Erfahrung der Kunst rezipierenden Subjekte erfolgt, zumindest idealiter, die Veränderung und Erweiterung ihrer emotionalen wie kognitiven Vermögen, damit, in der Folge eine gesteigerte Handlungsfähigkeit. Kunst ist also doppelte Produktion: Produktion von Kunstwerken zum Zweck der Produktion von Subjektvermögen.

Der rezeptive Akt hat zudem große Bedeutung für die Frage nach ästhetischer Wahrheit. Zu erkennen ist: Kunst ist ideologisch ambivalent. Sie fungiert als Macht der Integration und Unterwerfung wie als Kraft des Widerstands und der Selbstwerdung. Sie ist selbst Medium von Widersprüchen und Konflikten, ja trägt diese oft in ihrer Formenwelt aus. Einzelne Werke changieren, je nach Kontext und Gebrauch, zwischen diesen Polen. Solche Ambivalenz betrifft zentral das in den Künsten artikulierte und durch sie vermittelte Bewusstsein und Wissen, dessen ‚Wahrheit’ nie ein Gegebenes, sondern stets ein im Akt der Rezeption neu zu Erringendes ist. Es ist dies die Funktion der Interpretation, der Kritik, der Inszenierung, des Spiels, der aktuellen Aufführung. Jeder rezeptive Akt ist, als Akt einer Aneignung, an diesem Vorgang beteiligt. So hat Kunst, wie jede andere Bewusstseinsform, an der Janusköpfigkeit des Ideologischen teil, zugleich Wahrheit und Täuschung, Wirklichkeit und Verkehrung – und Wirklichkeit in der Form der Verkehrung – zu sein. Das Werk, im semantischen Sinn, hat den Charakter eines Potentials, das erst in der rezeptiven Aneignung, zu der zentral die Werkinterpretation gehört, in seiner Wahrheitsfunktion zu erschließen ist. Kunst, in der gegenwärtigen Gesellschaft, ist im empirischen Durchschnitt den Zwängen von Macht, Herrschaft und Eigentum, nicht zuletzt den Gewalten des Markts unterworfen, gegen die sie sich als emanzipatorische Kraft erst zu behaupten hat. Sie ist in Institutionen, soziale Praktiken und Prozesse eingegliedert, deren Regeln sie unterliegt. Sie existiert und wirkt im Zusammenhang von Ideologien. Sie ist eine ideologische Form und besitzt kraft dieser eine nicht nur welt-erschliessende, sondern auch welt-verschliessende und welt-verkehrende Funktion. Ästhetische Wahrheit, als höchste Gestalt des in den Künsten artikulierten Wissens und Bewusstseins, ist diesen Mächten erst abzuringen. Sie konstituiert sich nur im Gegenzug zur Macht der Ideologien – niemand hat das, am Material der Künste selbst, so eindringlich demonstriert wie der Peter Weiss der Ästhetik des Widerstands. Ihren besten Möglichkeiten nach aber ist Kunst Gestalt der Erinnerung wie sie Kraft des Widerstands, der Erneuerung und der Befreiung ist. Sie ist, in ihrer Wahrheitsfunktion, Kritik, Sinngebung, Antizipation. Diese Bestimmungen umreißen den Bedeutungshorizont dessen, was der Begriff ästhetischer Wahrheit besagt. Zu ihm gehört der kategorische Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx), und zu ihm gehört das Bild eines Weltzustands, in dem ein solches Umwerfen gelungen ist – der Erde als Heimat.[21]

Die Geschichtlichkeit der Künste

Wie der künstlerische Prozess insgesamt sind alle seine zentralen Kategorien in ihrer Grundverfassung geschichtlich. Dies gilt im ausgezeichneten Sinn für das kompositorische Werk. Dieses ist geschichtlich nicht nur in ‘extrinsischer’ Bedeutung – der unausweichlichen Tatsache, dass Kunst in historischen Kontexten produziert und rezipiert wird –, sondern in dem ‘intrinsischen’, nämlich ontologisch-strukturellen Sinn einer Geschichtlichkeit, die alle seine Glieder wie den Prozess seiner Produktion und Vermittlung durchdringt – das kompositorische Werk in seiner ästhetischen Verfasstheit ist ein geschichtlich Besonderes. Seine ästhetische Individualität (= Singularität) ist durchgängig geschichtlich geprägt.

Geschichtlichkeit ist ein Begriff der Form-Inhalt-Dialektik. Das bedeutet aber auch, dass die universale Bedeutung eines Kunstwerks nur über den Weg seiner geschichtlichen Bedeutung voll zu erschließen ist. Hier gilt das ästhetische Gesetz der Identität in der Differenz, das den Zugang der simplen Aktualisierung verwehrt.

Geschichtlichkeit hat den Charakter einer Werksignatur. Ein Kunstwerk ist geschichtlich im Sinne einer doppelten Prägung und im Zusammenspiel beider: von der Seite der ästhetischen Form und von der Seite des mimetischen Gehalts. Beide bilden eine untrennbare Einheit, die in der Dialektik von Inhalt und Form ihren Ausdruck findet. Geschichtlichkeit ist so allen seinen Teilen eingeschrieben. Sie konstituiert seine ästhetische Singularität als kompositorisches Gebilde, erwächst aus dem Vorgang seiner Produktion. Auf diese Weise schlägt sie sich als Werksignatur nieder. Im Kunstwerk wird das Besondere eines historischen Moments festgehalten, zugleich jedoch wächst diesem, wenn es sich denn um ein Werk von Rang handelt, eine Bedeutung (oder Bedeutungen) zu, die über diesen historischen Moment hinausgeht, die im idealen Fall den Charakter einer ‘universalen’ Bedeutung besitzt, d. h. einer solchen, die seine gültige Rezeption in wechselnden historischen Zeiten gestattet. Ein Kunstwerk ist nie ‚zeitlos’, aber es kann zu verschiedenen Zeiten seine Wirklichkeit neu entfalten: die Menschen ergreifen und bewegen, ihnen Einsicht und Erkenntnis vermitteln.

So wächst der universale Charakter eines Kunstwerks aus seiner historischen Singularität heraus – ohne freilich seinen geschichtlichen Charakter zu verlieren. Denn jede seiner Wirkungen, auch in geschichtlich grundverschiedenen Zeiten, ist ein historisch-kontextueller Akt; derart, dass eine Zeit sich in einer anderen wiedererkennt. Vielleicht lässt sich hier von Schichten geschichtlicher Bedeutung sprechen. Auf der ersten Ebene artikuliert ein Werk einen Bedeutungsraum, der im Besonderen einer Zeit wurzelt und mit dieser vergeht. Auf einer zweiten Ebene artikuliert es einen Spielraum von Bedeutungen, die über diese erste Zeit – die Zeit also seiner Entstehung – hinausreichen und auch in anderen, späteren Zeiten Gültigkeit und Geltung besitzen. Einem Werk, das solche Qualität im ausgezeichneten Sinn besitzt, kommt das Attribut des Klassischen zu.

Diese Einsicht hat Folgen für die Rezeption. Eine aktuelle Geltung ist, wenn sie dem Charakter authentischer Kunst Genüge tun soll, nur aus der historischen Differenz, nicht im Sinn einer unmittelbaren Aktualisierung zu gewinnen. Die Aktualität einer Bedeutung kann allein eine Schicht der gegebenen Werkbedeutung sein, die Fremdes und Vertrautes zu gleichen Stücken enthält. Aktualität ist also aus der historischen Distanz zu erschließen. Zu ihr gehört das Bewusstsein eines Anderen und Differenten, aus dem allein die Gegenwärtigkeit des überlieferten Werks als geschichtliche Erfahrung in ihrem Reichtum und ihrer Vielschichtigkeit entspringt. Zur Geschichtlichkeit der Kunst gehört die „Pluralität der ästhetischen Sphäre’ (Lukács): die Vielfalt und Vielgestalt der in der Geschichte der Weltkunst überlieferten Kunstformen, der eine Vielfalt von Funktionen, Rezeptionsweisen und Kunsterfahrungen entspricht. Diese reichen von der Lust an ansprechend geformten Kunstgestalten bis zu Trauer und Erschütterung, von der kultischen Identifikation bis zum politischen Aufruhr, von ideologischer Integration und Affirmation des Bestehenden zu Widerspruch und Opposition, vom Sinn-Surrogat zu utopischem Vorgriff. Sie umfassen emotive Einstimmung, kontemplative Betrachtung und die Entdeckung neuer Welt und Welterfahrung; Weinen und Lachen, ‚Vergnügen’ und ‚Lehren’, Eingriff und Stellungnahme. Ihnen gehört die Erfahrung des ‚Schönen’ zu wie die des ‚Erhabenen’, des Hässlichen wie des Schrecklichen, der Freude, des Leids und des Glücks. Zu Recht hat Lukács die Kunst „die Erinnerung der Menschheit“ genannt. Das geschichtliche Universum der Künste ist Archiv dieser Erinnerung, die sich dem kundigen Zugang nicht verschließt. Den Schlüssel dazu liefert der Zugriff über Geschichte. Keine marxistische Ästhetik, die den Namen verdient, wird sich der Erkenntnis der Vielfalt der historisch überlieferten Kunstwelten und der ihnen angeschlossenen Erfahrungen und Funktionen verschließen wollen. In ihrer Vielfalt zugänglich sind sie freilich allein dem historischen Blick.

[1] Vgl. Logos und Wirklichkeit. Ein Beitrag zu einer Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins. Frankfurt a.M. 2010 (im Folgenden abgek. LW), „Dritter Teil: Logos, Kultur und Ästhetik“; Kunst. Ein geschichtlicher Entwurf. Berlin 2012 (abgek. K); Ästhetik, Kunst und Kunstprozess. Berlin 2013 (abgek. Ä). Die drei Bücher enthalten den kategorialen Kern und die Ausarbeitung einzelner Problemfelder meines ästhetiktheoretischen Konzepts, doch keine systematische Gesamtdarstellung; diese ist für eine spätere Veröffentlichung geplant. Der Gedanke des kategorialen Zusammenhang von Kultur, Ästhetik und Kunst, der in diesen Schriften als systematisches Konzept zugrunde liegt, geht auf eine ältere Studie zurück: „Ontologie, Kulturtheorie, Ästhetik“. Herausforderung dieser Zeit. Zur Philosophie und Literatur der Gegenwart, Düsseldorf 1989, 59-169.

[2] Anlass dieses Aufsatzes ist Norbert Schneiders streitbarer Essay „Mimesis und Realismus. Anmerkungen zu Thomas Metschers Philosophie der Kunst“, in: Das Argument 309, 2014, 549-59. Das Problematische an dieser Schrift ist, in meiner Sicht, nicht ihre Kritik, sondern der Tatbestand, dass sie mich Positionen zuordnet, die mit der von mir vertretenen wenig gemeinsam haben, ja in nicht unwesentlichen Punkten in deutlichem Widerspruch zu ihr stehen. Eine Antwort war deshalb erforderlich. Die beste Antwort, denke ich, ist nicht die kritische Gegenrede, die nur allzu leicht zu unproduktiver Polemik führt, sondern die Darstellung meines Konzepts in seinen Kernelementen. Auf diese Weise bleibt es den Lesenden selbst überlassen, ihre Schlüsse zu ziehen. Zudem kann mein Text auch ohne Kenntnis des Schneiderschen ‚Originals’ gelesen und verstanden werden. An entscheidenden Punkten meiner Argumentation, insbesondere dort, wo ich stark verkürzt argumentieren muss, verweise ich auf die detaillierte Darlegung in meinen Schriften.

[3] Die Frage nach einer materialistischen Ontologie ist ein in vielem noch offenes Problemfeld; es bedarf weiterer Bearbeitung. So fehlt bis heute eine gründliche Behandlung von Lukács’ später Ontologie. Informativ für die Problemexposition J. Lensink, „Ontologie“, in H.J. Sandkühler (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Hamburg 1990, Bd. 3, 615-28, wenn auch die Argumentation gegen Lukács allerdings so wenig überzeugt wie Vellays Kritik von Holz auf der Basis von Lukács’ Ontologie. (C. Vellay, „Hans Heinz Holz’ metaphysische Idee des Gesamtzusammenhangs“, Aufhebung. Zeitschrift für dialektische Philosophie 3/2013, 10-48.) Sehr informativ, nicht zuletzt auch durch den Einbezug ontologischer Fragestellungen im Rahmen der analytischen Philosophie T. Stahl, „Praxis und Totalität. Lukács’ Ontologie des gesellschaftlichen Seins im Lichte aktueller sozialontologischer Debatten“. In: R. Dannemann (Hg.), Lukács 2014/2015. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft. Bielefeld 2015, 123-50.

[4] Des Näheren LW, 15-17.

[5] Des Näheren LW, Zweiter Teil, A, II, B, 2, 2.

[6] Des Näheren LW, 30-33, 83-122, , LW, 389-437; Ä, 46-48, 145-52, 154-79.

[7] Des Näheren LW, Dritter Teil.

[8] LW, Zweiter Teil, B.

[9] Vgl. LW, 389-438.

[10] Zu diesem, auf Aristoteles zurückgehenden Konzept des Näheren LW, 420-27.

[11] Poiésis bedeutet gr. Machen, Wirken (lat. operatio). Bei Aristoteles ist poiésis die durch techné (Kunst, Kunstfertigkeit) bewirkte Herstellung eines Werks (ergon), im Unterschied zu dem, was von Natur aus ist oder wird.

[12] Mimésis wird hier, im Anschluss an Koller, in der Trias von ‚Nachahmung’, ‚Darstellung’, ‚Ausdruck’ verstanden (H. Koller, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Bern 1954); des Näheren Fußnote 14.

[13] Vgl. Ä, 95-105.

[14] Zum Folgenden des Näheren K, 27-46, 81-102.

[15] Zur Unterscheidung von realismustheoretischer, ontischer und ontologischer Mimesis K, 27-46.

[16] Vgl. K, I, 1; des Näheren T.M., „Mimesis und Realismus“, in P. Drexler/R. Schnoor (Hg.), Against the Grain/Gegen den Strich gelesen. Berlin 2004, 293-312.

[17] E. Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 4. Aufl. Bern 1967.

[18] H.H. Holz, Philosophische Theorie der bildenden Künste. Bielefeld 1996/97, Bd. I, 135.

[19] Auerbach 1967, 515.

[20] M. Naumann u.a., Gesellschaft, Literatur, Lesen. Berlin 1973, 49.

[21] Dazu des Näheren „Die Frage der Wahrheit in den Künsten“, in: Festschrift für Robert Steigerwald zum 90. Geburtstag, Essen 2015 (im Erscheinen).

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