Wolfgang Abendroth zur Erinnerung

„Politische Wissenschaft als Politische Soziologie"

Zu den „Gesammelten Schriften" Wolfgang Abendroths

von David Salomon
September 2015

Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Abendroth erschien 2006 der erste Band seiner auf insgesamt acht Bände angelegten „Gesammelten Schriften“. Wenige Wochen vor dem 30. Todestag Abendroths am 15. September dieses Jahres steht der vierte Band kurz vor seinem Abschluss.[1] Damit umspannt die Ausgabe seiner Arbeiten vierzig Jahre – von der Polemik des Zwanzigjährigen gegen Hendrik de Mans „Widerlegung des Marxismus“ (1926) bis zum programmatischen Vorwort „Politische Wissenschaft als politische Soziologie“, das Abendroth für die Aufsatzsammlung „Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie“ (1967) schrieb. Als Abendroth starb, hieß es in einem Nachruf des Frankfurter Instituts für Marxistische Studien und Forschung (IMSF): „Mit ihm hat die Arbeiterbewegung der Bundesrepublik einen bedeutenden marxistischen Intellektuellen verloren, der großen Anteil hatte an der Herausbildung einer linken, sich auf den Marxismus und die Arbeiterbewegung orientierenden Intelligenz. Wolfgang Abendroth hat hierzu in vielfältiger Weise beigetragen: als marxistischer Hochschullehrer ebenso wie durch seine wissenschaftlichen Arbeiten zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zur Politiktheorie und zu verfassungsrechtlichen Fragen; vor allem aber durch die von ihm vorgelebte Identität von wissenschaftlicher Erkenntnis, politischer Überzeugung und politischer Praxis.“ (zit. n. Leisewitz 2006, S. 191) Auch wenn die Schriften aus den bewegten siebziger und achtziger Jahren noch nicht ediert sind, ermöglichen die vorliegenden Bände bereits einen repräsentativen Einblick in dieses Programm des marxistischen Politikwissenschaftlers und Juristen, den Jürgen Habermas einmal den „Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer“ (Habermas 1966) nannte.

Frühschriften und Antifaschismus

Die autobiographischen Interviews, die Barbara Dietrich und Joachim Perels in den siebziger Jahren mit Wolfgang Abendroth führten, erschienen unter dem Titel „Ein Leben in der Arbeiterbewegung“ (Abendroth 1976). Darin erzählt Abendroth, dass er, in einer sozialistischen Familie aufgewachsen – „mein Großvater mütterlicherseits gehörte bereits vor dem Sozialistengesetz zur Sozialdemokratie und blieb ständig sehr aktiv in der Arbeiterbewegung“ –, um das Jahr 1920 selbst politisch aktiv wurde: zunächst in der Kommunistischen Jugend und der neu gegründeten KPD, in der er nach dem Wechsel zum „ultralinken“ Kurs unter Ruth Fischer und Arkadi Maslow nach 1923 zum ersten Mal in seiner politischen Biographie ins Kreuzfeuer geriet, später „als Jura-Student in der roten Hilfe“ (Abendroth 1976, S. 12, 68) und nach abermaligen Konflikten schließlich seit 1929 in der Kommunistischen Partei Opposition (KPO). Schriften Abendroths aus dieser frühen Zeit waren bis zum Erscheinen des ersten Bandes der „Gesammelten Schriften“ kaum verfügbar. Durch die vollständige Publikation der ermittelbaren Frühschriften – insbesondere jener Texte, die zwischen 1926 und 1929 in der „Freien Sozialistischen Jugend“, der Zeitschrift des gleichnamigen Bundes (BFSJ) erschienen sind – hat die Werksausgabe diese Lücke nicht nur geschlossen, sondern das Bild des frühen Engagements Abendroths zugleich um bislang kaum bekannte Facetten erweitert. So dokumentiert der Band zahlreiche Texte, in denen Abendroth mit oppositionellen „nationalbolschewistischen“ Gruppen aus dem Kontext der bündischen Jugend diskutiert, die – wie auch die Herausgeber betonen – sämtlich vom Bestreben geprägt sind, „jene […] Teile […] der bündischen Jugend […], die in gewisser Weise für eine sozialistische Einheitsfront noch offen sind, […] davon abzuhalten, in die nationalsozialistische Bewegung sich einzureihen.“ (Bd. 1: 20)

Als die deutschen Faschisten im Januar 1933 an die Macht kamen, war Wolfgang Abendroth 26 Jahre alt. „Aus der Biographieforschung wissen wir, dass jede Generation – zumal im Hinblick auf ihr politisches Bewusstsein – durch bestimmte Schlüsselerfahrungen geprägt wird, die sich oftmals in einem Jahresdatum zusammenfassen lassen. […] Für diejenigen, die sich wie Wolfgang Abendroth in der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung der Weimarer Republik engagiert hatten, hatte das Jahr 1933 diese Funktion. Biographisch begann die Zeit der Verfolgung und der Leiden.“ (Deppe 2006, S. 123–124) Eine unmittelbare Folge des Faschismus an der Macht bestand für Abendroth darin, dass es unmöglich wurde, in Deutschland promoviert zu werden. Zwei rechtswissenschaftliche Aufsätze zur „bürgerlichen Jurisprudenz“ (Bd. 1: 173-177) und zum faschistischen Strafrecht (Bd. 1: 177-180) aus den Jahren 1944/1934 und die schließlich in Bern eingereichte Dissertation zur „völkerrechtlichen Stellung der B- und C-Mandate“ (Bd. 1: 181-465), die 1936 in Breslau erschien, sind die letzten Abendrothschen Frühschriften. Zwischen ihnen und den folgenden Texten liegen zehn Jahre eines erzwungenen Schweigens: „Von 1936 bis 1946 – also volle 10 Jahre zwischen dem 30. und dem 40. Lebensjahr – Verhaftung/Folter, der Prozess: 4 Jahre Zuchthaus, danach Strafbataillon, Einsatz in Griechenland; Desertion zur ELAS, Gefangenenlager der Briten in Ägypten, Rückkehr nach Deutschland erst 1946.“ (Deppe 2006, S. 122) Es sind prägende Jahre, über die die Werksausgabe – zumindest bis zum Erscheinen der Briefe (Bde. 7 und 8) – keinen Aufschluss zu geben vermag.[2]

Demokratiewissenschaft und Arbeiterbewegung

Nach seiner Rückkehr lässt sich Abendroth zunächst in der Sowjetischen Besatzungszone nieder und wird auf staatsrechtliche Professuren in Leipzig und Jena berufen. Abendroth beteiligt sich rege publizistisch an den rechtspolitischen Debatten der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dabei knüpft er an frühere Arbeiten zur Selbstzerstörung des bürgerlichen Rechts an, wenn er schreibt: „Die Einsicht in die selbständige Würde des Rechts findet bei der Kapitalistenklasse notwendig ihre Schranke an ihren besonderen Interessen zur Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung – obwohl diese Einsicht durch sie hervorgebracht wurde.“ (Bd. 1: 469) Diese „Krisis des Rechtsbewusstseins“ (Bd. 1: 469-471) setzt, wie Abendroth betont, keineswegs erst mit dem Faschismus ein: „[D]ie eindeutige antisozialistische und antidemokratische (weil antiproletarische) Grundhaltung des Richterstandes, den die Republik unverändert aus dem alten System übernommen hatte, wurde keineswegs erst in der Zeit des Sieges des Nationalsozialismus deutlich, sondern war schon in der Periode der Kämpfe um die Gestaltung der Republik eine der wichtigsten Voraussetzungen des Erfolges der Reaktion und dann des Faschismus.“ (Bd. 1: 469) Solche Gefährdung des neu zu schaffenden Rechts gelte es nun zu verhindern: „Deshalb darf diese Schicht nicht die Richter des neuen Staates stellen. Mit oberflächlicher Denazifizierung ist es hier nicht getan.“ (Bd. 1: 466) Bereits in diesen ersten Arbeiten Abendroths nach seiner Rückkehr nach Deutschland artikuliert sich das zentrale Thema, das er in den kommenden Jahren verfolgen wird: die Reflexion der Ausgangsbedingungen und Entwicklungschancen eines demokratischen Neubeginns, der nur im konsequenten Bruch mit den Traditionen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen bestehen könne, die den Faschismus an die Macht gebracht hatten. Abendroths Schriften – sowohl die während seiner Zeit in der SBZ als auch die nach seiner Flucht im Winter 1948 geschriebenen – sind, wo sie nicht Historiographie der Arbeiterbewegung betreiben[3], zu einem großen Teil aktuellen politischen Fragen gewidmet. An ihnen entwickeln sie freilich häufig theoretische Positionen von grundsätzlicher Bedeutung. Eine besondere Rolle spielt auch – über die historische Phase der Konstitution zunächst der Ländern, schließlich der beiden deutschen Teilstaaten – hinaus, die Beschäftigung mit Verfassungsfragen. In der Einleitung zum zweiten Band der Schriften heben die Herausgeber hervor: „Abendroths verfassungstheoretische Position kristallisiert sich wesentlich in vier Problemkomplexen: der rechtlichen Diskontinuität zwischen dem Staat des Dritten Reiches und dem der Bundesrepublik, dem Stellenwert der Grundrechte und des Parlamentarismus im politischen System und schließlich der Garantie des Grundgesetzes für eine sozialistische Umgestaltung der privatwirtschaftlichen Ordnung sowie der demokratischen Wege zur deutschen Einheit unter den Bedingungen der Besatzungsherrschaft und der Diktatur der SED.“ (Bd. 2: 14)

1954 schreibt Abendroth unter dem Titel „Demokratie als Institution und Aufgabe“ einen kurzen programmatischen Aufsatz, der als Kondensat des demokratietheoretischen Rahmens gelesen werden kann, in den Abendroths juristische und politikwissenschaftliche Schriften eingebettet sind (Bd. 2: 407-416). Darin definiert er zunächst unter Rekurs auf Pufendorf, Demokratie sei „ihrem Wesen nach gleichberechtigte Teilnahme aller an der gemeinsamen Regelung der gemeinsamen Aufgaben, tendenzielle Identität von Regierenden und Regierten.“ (Bd. 2: 411), um schließlich historisch und soziologisch nachzuzeichnen, wie es zunehmend die Arbeiterbewegung war, die durch ihre Forderungen nach allgemeinem Wahlrecht und der Beseitigung von Klassenprivilegien zum Träger des demokratischen Gedankens wurde. Aufgrund des antagonistischen Charakters bürgerlicher Klassengesellschaft liege das „Problem des demokratischen Gehalts des modernen parlamentarischen Staates“ nicht allein in „der nur formalen Betrachtung seiner Rechtsnormen“, sondern zunehmend in der „inhaltliche[n] Analyse seines gesellschaftlichen Funktionierens“: „Die lebendige und demokratisch organisierte Selbstverwaltung seiner Gebietskörperschaften, seiner Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts, die Heranziehung der vielfältigen Massenorganisationen, die seine politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Kräfte repräsentieren und deren Integration in sein Dasein die Sicherung der demokratischen Beteiligung aller an der planmäßigen Steuerung der wirtschaftlichen Prozesse, die über das Geschick der Gesellschaft entscheiden, bei ständigem Ringen gegen alle gesellschaftlichen Gruppen, die Ausbeutungs- und Machtprivilegien verteidigen wollen – das sind die Kampffelder, auf denen entschieden wird, ob ein parlamentarischer Staat seinen demokratischen Integrationswert bewahrt oder am Ende auch seine parlamentarischen Formen und lediglich formellen demokratischen Spielregeln abstreift.“ (Bd.2: 415) Insbesondere die Gewerkschaften seien daher – wie es an anderer Stelle heißt – „die natürlichen Hüter der Demokratie“ (Bd. 2: 221–230). Indem Abendroth den Demokratiebegriff soziologisch-konkret auf materielle Gleichheitsforderungen gründet, argumentiert er zugleich gegen eine schematische Entgegensetzung von Freiheit und Gleichheit bzw. von Sozialismus und Demokratie: „Sozialismus ist nichts anderes als die allseitige Verwirklichung dieses Gedankens der Demokratie, der aus einem System politischer Spielregeln zum inhaltlichen Prinzip der gesamten Gesellschaft, zur sozialen Demokratie erweitert wird.“ (Bd. 2: 416) Nur solche Erweiterung sei in der Lage, Demokratie auf Dauer zu sichern. Die Weimarer Erfahrung vor Augen, betont Abendroth kontinuierlich, bloß formale, ihrer sozialen Substanz beraubte Demokratie stehe zumal in Krisenzeiten stets vor der Gefahr, den partikularen Machtinteressen privilegierter sozialer Klassen zum Opfer zu fallen. Als Gründungsrektor der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven und schließlich seit 1950 als Professor für wissenschaftliche Politik in Marburg arbeitet Abendroth an einer in diesem Sinne konsequenten demokratiewissenschaftlichen Begründung der neuen Disziplin.

Schien es in der unmittelbaren Nachkriegszeit zunächst tatsächlich so, als würde in allen Besatzungszonen der konsequente Bruch nicht nur mit dem Personal des Faschismus in den Staatseliten, sondern auch mit dem monopolkapitalistischen Wirtschaftssystem vollzogen, so begann schon bald nach der Gründung der Bundesrepublik eine Phase der Restauration, die insbesondere durch den beginnenden Kalten Krieg ermöglicht und begünstigt wurde. Abendroth schärfte seine Positionen nun in der Opposition zur bestehenden Realität des Adenauer-Staats, in dem sich – gerade auch unter Juristen – zunehmend wieder das schwerbelastete Personal des Faschismus etablierte. Als scharfer Kontrahent der Abendrothschen Interpretation der Staatsformbestimmung der Bundesrepublik als „demokratischem und sozialem Bundesstaat“ im Artikel 20 des Grundgesetzes trat insbesondere der Carl-Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff auf. Abendroth hatte im „unaufhebbare[n] Verfassungsgrundsatz der demokratischen und sozialen Rechtsstaatlichkeit […] ein Strukturprinzip der verfassungsrechtlichen Ordnung“ (Bd. 2, 339) der BRD ausgemacht und – ganz in Übereinstimmung mit seiner demokratietheoretischen Konzeption – betont, dieser „Gedanke der sozialen und demokratischen Rechtsstaatlichkeit“ könne „nur richtig verstanden werden, wenn man in ihm den Willen erkennt, […] dem die Gesellschaft demokratisch repräsentierenden Staat die ständige Ausdehnung seiner gestaltenden Tätigkeit auf die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zur Aufgabe zu stellen.“ (Bd. 2, 375) Zentral für die rechtswissenschaftliche Argumentation Abendroths war hierbei, dass er die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen und Kräfteverhältnisse im Deutschland des Jahres 1949, mithin die Diskreditierung der alten Eliten und die Diskussionen um eine wirtschaftliche Neuordnung, in seine Verfassungsinterpretation einbezog.[4] Damit widersprach er Forsthoff inhaltlich wie methodisch diametral, der behauptet hatte, das Grundgesetz habe „keinen spezifischen sozialen Gehalt.“ (Forsthoff 1968, S. 185) Forsthoff bemüht letztlich einen enthistorisierten Zielkonflikt zwischen Freiheit und Gleichheit, wenn er postuliert, Rechtsstaat und Sozialstaat seien „ihrer Intention nach Gegensätze. Der Rechtsstaat hat seine eigenen Institutionen, Formen und Begriffe. Sie sind auf Freiheit angelegt. Auch der konsequent verwirklichte Sozialstaat, der auf Teilhabe hingerichtet ist, bringt eigene Institutionen, Formen und Begriffe hervor, die wesentlich anders geartet sein müssen.“ (Forsthoff 1968, S. 179) Da das so verstandene Rechtsstaatsprinzip über dem Sozialstaatsprinzip stehe, kann Forsthoff in letzterem nur eine weiche Norm ausmachen, deren geringe Bedeutung er mit dem lapidaren Satz herausstreicht: „Nicht im Bereich der Verfassung, sondern der Verwaltung hat der Sozialstaat Eingang in die Wissenschaft vom öffentlichen Recht gefunden.“ (Forsthoff 1968, S. 171) Forsthoffs Interpretation passte genau zur restaurativen Wirtschaftspolitik, die alsbald unter dem Namen einer „sozialen Marktwirtschaft“ die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik faktisch entschied.

Im Rückblick muss sicher konstatiert werden, dass Abendroths konkrete Kämpfe fast alle mit Niederlagen endeten. Seine Verteidigung des politischen Streikrechts[5] konnte nicht verhindern, dass sich in der Bundesrepublik eine Interpretation des Streikrechts etablierte, die selbst Tarifkonflikte in ein enges Korsett aus gesetzlichen Einschränkungen und Friedenspflichten zwängte. Die Bundesrepublik wurde bereits 1956 remilitarisiert und auch „Notstandsgesetze“, gegen die Abendroth seit den ersten Debatten um ein Notstandsrecht in den fünfziger Jahren Partei ergriff[6], wurden 1969 verabschiedet; die KPD blieb trotz Abendroths Gutachten (Bd. 3: 109-132) verboten und auch in den siebziger Jahren konnten – um künftigen Bänden vorzugreifen – Abendroths Stellungnahmen die Praxis der Berufsverbote, mit denen schon bald nach der Neukonstituierung einer kommunistischen Partei ihre Mitglieder Berufsverboten im öffentlichen Dienst unterzogen wurden, nicht beenden. Schon Ende der fünfziger Jahre musste Abendroth zudem erleben, dass die SPD, deren Mitglied er bereits vor seiner Rückkehr aus englischer Gefangenschaft geworden war, zunehmend aufhörte eine Plattform marxistischer Opposition zu sein. Schon im Kontext der Debatten, die zum Godesberger Programm führten, und schließlich durch den Umgang mit seinem Gegenentwurf (Bd. 3: 278-290) wurde offenbar, wie wenig der Marxist Abendroth in der SPD mehr bewirken konnte. Der Ausschluss im Zusammenhang mit dem Unvereinbarkeitsbeschluss von SPD und SDS markierte den Abschluss einer langen Entwicklung. In seinem Nachruf auf Erich Ollenhauer (Bd. 4) zieht Abendroth Bilanz: „So wurde auf dem Godesberger Parteitag bis auf geringe Reste der Sozialismus und der Gedanke der unbedingten Solidarität mit der Gewerkschaft, durch die berühmte Wehner-Erklärung 1960 die bisherige außen- und nationalpolitische Vorstellungswelt der Partei, durch den Parteitag von Hannover Erich Ollenhauer als politischer Repräsentant der Partei im Falle ihres Wahlsieges fallengelassen. Die Wahlen 1961 haben (auch vom Standpunkt der Urheber dieser Unternehmen) kaum Argumente für den Erfolg dieser ‚Politik des Überholens der CDU‘ mit ihren eigenen Mitteln bloßer inhaltsloser Demagogie geliefert und das traditionelle Mittel der alten Arbeiterbewegung im Wahlkampf, das der rationalen demokratischen politischen Fragestellung und Diskussion, in keiner Weise widerlegt.“ (Bd. 4) Gleichwohl vermitteln Abendroths Arbeiten auch bei der Relektüre an keiner Stelle eine pessimistische Grundhaltung. Seine scharfe Argumentation trug vielmehr dazu bei, im Kampf gegen eine von Kaltem Krieg und postfaschistischer Mentalität gezeichnete Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik die oppositionelle Würde eines anderen Deutschland lebendig zu halten.

Zur Aktualität der Abendrothschen Demokratiewissenschaft

Anlässlich des 100. Geburtstags Wolfgang Abendroths schrieb Frank Deppe in dieser Zeitschrift: „Als Anhänger des von Marx und Engels entwickelten Historischen Materialismus betrachtete Abendroth Ökonomie, Gesellschaft und Politik als eine Totalität, als einen Herrschaftszusammenhang, in dem die kapitalistische Verfügung über die Produktionsmittel und die Gesetzmäßigkeiten der krisenhaften Kapitalakkumulation gleichsam die dominanten Variablen bilden. Aber er anerkannte wie kaum ein anderer marxistischer Sozialwissenschaftler seiner Zeit die Autonomie des Politischen – der Rechtsverhältnisse, der Machtstrukturen wie der politischen Kämpfe und Auseinandersetzungen.“ (Deppe 2006, S. 129–130) Die Bedeutung, die dem Politischen in Abendroths Denken zukam, spiegelt sich nicht zuletzt auch in seinem Begriff von politischer Wissenschaft als politischer Soziologie: „Politische Soziologie ist – ob sie das will oder nicht – praxisbezogen. Sie ist es nicht nur, weil politische Praxis ihren Gegenstand bildet, auch wenn sie politische Theorien ideologiekritisch analysiert oder selbst politische Theorien entwickelt. Sie ist es ebenso, weil sie selbst, indem sie politische Praxis analysiert oder eine politische Theorie ausarbeitet, der politischen Praxis dient und sie verändert.“ (Bd. 4) Für Abendroth resultierte aus dieser Feststellung die Aufforderung an den politischen Wissenschaftler, seine Expertise – ohne dabei in Gefälligkeitswissenschaft abzugleiten – selbstbewusst als Bestandteil politischer Praxis zu begreifen und in den Kontext jener sozialen Kämpfe zu stellen, in denen demokratische Gleichheitsforderungen artikuliert werden. Dieser Anspruch hat – auch wenn die Konstellation der gegenwärtigen Krisenepoche sich deutlich von den Konfliktkonstellationen der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit unterscheidet – nichts von seiner Aktualität verloren. Die realpolitische Erdung der Abendrothschen Schriften, ihre konsequente Orientierung auf historisch-soziologische Konkretion und die Bedeutung, die dem Kampf um Rechtspositionen in ihnen zukommt, sind für eine Erneuerung marxistischer Debatten von ebenso bleibender Bedeutung wie für die Rekonstruktion einer politischen Linken.

Literatur

Abendroth, Wolfgang (1966): Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme. Pfullingen.

Abendroth, Wolfgang (1976): Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, aufgezeichnet und herausgegeben von Barbara Dietrich und Joachim Perels. 1. Aufl. Frankfurt a.M.

Abendroth, Wolfgang (2006-2015): Gesammelte Schriften (bisher 4 Bde). Bd. 1 und 2 hrsg. v. Michael Buckmiller, Uli Schöler und Joachim Perels; ab Bd. 3 hrsg. v. Michael Buckmiller. Hannover: Offizin.

Deppe, Frank (2006): Wolfgang Abendroths „Politische Wissenschaft“. Anspruch, Wirkung, Aktualität. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung (67), S. 122–133.

Diers, Andreas (2006): Arbeiterbewegung, Demokratie, Staat. Wolfgang Abendroth, Leben und Werk 1906-1948. Hamburg.

Forsthoff, Ernst (1968): Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats. In: Ernst Forsthoff (Hg.): Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit. Aufsätze und Essays. Darmstadt: Wiss. Buchges. (Wege der Forschung, 118), S. 165–200.

Habermas, Jürgen (1966): Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer. Der Ordinarius Wolfgang Abendroth wird am 2. Mai sechzig Jahre alt. In: Die Zeit, 29.04.1966, S. 24. Online verfügbar unter http://www.zeit.de/1966/18/partisanenprofessor-im-lande-der-mitlaeufer.

Leisewitz, André (2006): Wolfgang Abendroth und das IMSF. In: Hans-Jürgen Urban, Michael Buckmiller und Frank Deppe (Hg.): „Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie“. Zur Aktualität von Wolfgang Abendroth. Hamburg, S. 191–195.

[1] Ich danke dem Herausgeber Michael Buckmiller dafür, dass er mit das Manuskript des Bandes für diesen Beitrag vorab zur Verfügung gestellt hat.

[2] Verwiesen sei auf die ausführliche Teilbiographie von Andreas Diers, 2006.

[3] Insbesondere Bd. 4 enthält einige der größeren Arbeiten zu diesem Themenkomplex, so die „Sozialgeschichte der Europäischen Arbeiterbewegung“.

[4] Vgl. hierzu auch ausführlich Abendroth 1966. Ein Wiederabdruck wird in Bd. 4 erscheinen.

[5] Etwa Bd. 2: 121-126; 308-314; 334-337.

[6] Etwa Bd. 3: 242-245; 358-365.