Medien- und Meinungsmacht

Formate der Ideologieproduktion

Über das Nachmittagsfernsehen bei RTL und Sat.1

Juni 2011

Nachmittagsfernsehen – Organisierte Langeweile als Format

Das hätte selbst Theodor W. Adorno sich nicht vorzustellen vermocht, dachte er doch vor allem an mehr oder weniger opulente Kinoproduktionen, als er mit Max Horkeimer im Kulturindustriekapitel der „Dialektik der Aufklärung“ schrieb: „Neu aber ist, daß die unversöhnlichen Elemente der Kultur, Kunst und Zerstreuung durch ihre Unterstellung unter den Zweck auf eine einzig falsche Formel gebracht werden: die Totalität der Kulturindustrie. Sie besteht in Wiederholung.“[1] Im heutigen Fernsehalltag ist die Wiederholung des Immergleichen in viel direkterer Weise zum Prinzip geworden, als es in den vierziger Jahren hätte geahnt werden können: „Mitten im Leben“, „Familien im Brennpunkt“, „Verdachtsfälle“, „Betrugfälle“, „Zwei bei Kallwass“, „Richterin Barbara Salesch“, „Richter Alexander Hold“, „Niedrig und Kuhnt – Kommissare ermitteln“ – die Liste ist nicht vollständig. Wochentag für Wochentag spulen die Privatsender RTL und Sat.1 zwischen ca. 13:00 und ca. 18:00 Uhr das mehr oder minder immergleiche Programm von Billig- und Billigstserien ab (hinzukommen Wiederholungen des Nachts und am Vormittag). Während RTL mit der Kamera ausschwärmt um vermeintliche Fallbeispiele aus dem wirklichen Leben zu präsentieren (Spielszenen und offensichtlich gespielte „Interviews“ wechseln beständig, wobei die Anwesenheit der Kamera nicht kaschiert wird), lädt Sat.1 die „Außenwelt“ in das Studio der Psychologin Angelika Kallwass (es ist tatsächlich unklar, ob es ein Studio oder eine Praxis sein soll, im „Besprechungsraum“ zumindest ist Publikum anwesend) oder in den Gerichtssaal (einen Raum, in dem in der Bundesrepublik bekanntermaßen Filmaufnahmen im wirklichen Leben verboten sind).

Diesen „Formaten“ – schon dies ein verräterischer Begriff – lässt sich sicherlich kaum nachsagen, dass sich „das Interesse ungezählter Konsumenten an die Technik“ hefte, „nicht an die starr repetierten, ausgehöhlten halb schon preisgegebenen Inhalte“[2]. Nicht, dass die „Inhalte“ der genannten Sendungen für mehr einstünden, als für jene „abgestandenen Ideologien“, deren Abgeschmacktheit Adorno und Horkeimer schon seinerzeit beklagten[3]. Allein: Auch die Technik kann es nicht sein, die diesen Programmen Zuschauer garantiert. Denn anders als noch im zeitgenössischen Blockbusterkino, in dem immerhin manche computeranimierte Attraktion geboten wird, oder in den mit allerlei Lichterspektakeln, Feuereffekten und fahrbaren Glitzerbühnen ausgestatten „großen Mottoshows“, in denen sich die zehn Übriggebliebenen nach demütigendem Ausgesiebtwerden bei „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS) mit „Gefühl“ (Dieter Bohlen) einem Millionenpublikum präsentieren dürfen, nimmt sich der technische Aufwand der Nachmittagsformate eher bescheiden aus. Der immergleiche Gerichtssaal, das immergleiche Studio, die immergleichen Wohnungen oder Straßenszenen – aufgezeichnet auf billigstem Videomaterial ohne größere Kamerasperenzien: Totale, Halbtotale, Schuß-Gegenschuß – fertig. Auch in die „Schauspieler“ wird nicht viel investiert: Weder Zeit (etwa für ausführliche Proben) noch Geld. Der hierdurch entstehende Eindruck des Improvisierten, Unausgegorenen wird zum Prinzip des Genres erklärt. „Fiction-Reality“, „pseudodokumentarisches Format“: Der Mangel an Technik wird kurzerhand zum Authentizitätsmythos stilisiert. Auch wenn die Geschichten (eingestandenermaßen) erfunden sind, behauptet die Dramaturgie, so könnte es sich zugetragen haben[4]. Schließlich sind Barbara Salesch und Alexander Hold echte Richter, Bernie Kuhnt und Conny Niedrig wirkliche Kommissare. Ein Titel wie „Mitten im Leben“ spricht ohnehin für sich.

Diese Sendungen haben das Erbe der früher zahlreichen Nachmittagstalkshows angetreten, in denen sich teils wirkliche, teils schon damals gemimte Angehörige einer stereotypisierten Unterschicht vor einem tribunalhaften Publikum gegenseitig anbrüllen sollten[5]. Viel Aufmerksamkeit braucht man auch bei den heutigen Sendungen nicht, dem Geschehen zu folgen. Schaltet man verspätet ein, begreift man schnell, worum es diesmal geht. Geboten werden ohnedies schematisierte Stories, geeignet zur Berieselung. Eingeschaltet wird, um abzuschalten. Man vertreibt sich die Zeit, indem man sie totschlägt. Das Nachmittagsfernsehen der Privatsender ist organisierte Langeweile. Seine Aufgabe ist es, die unorganisierte, spontane Ödnis vergessen zu machen, die einen Nachmittag ruinieren kann, und nebenbei „Produktinformationen“ zu liefern: „Hat jemand hier Schuhe bei Zalando bestellt?“ – Der Hippie schreit im Werbespot und nach einem Programmhinweis auf den bevorstehenden „Sat.1-Film“ im lukrativeren Abendprogramm oder irgendein RTL-Journal kann man den Alltag einer plump erfundenen Hartz IV-Familie im Brennpunkt weiter begaffen, oder beobachten, wie sich im Gerichtssaal bei Barbara Salesch oder Richter Hold das Blatt nach gewohntem Rezept wendet.

Funktionen: Lückenfüller, Distinktionsmedium und
Medium der Ideologiedistribution

Die ökonomische Funktion dieser Serien ist also rasch beschrieben: Sie dienen als Lückenfüller zu unattraktiven Sendezeiten und als Trägermedien für ausgedehnte Werbeblöcke[6]. Etwas komplizierter ist es, das Zielpublikum zu bestimmen. Im Großen und Ganzen dürfte es das Nämliche sein, an das sich schon die alten Talkshows richteten: An alle, die zur Nachmittagszeit zu Hause sind, also keineswegs ausschließlich an Arbeitslose, Hausfrauen und Schüler, sondern auch an Studenten und freischaffende Heimarbeiter. So zumindest lautet eine häufig zitierte These aus medienwissenschaftlichen Studien der 90er Jahre. Auf Anhaltspunkte für deren Richtigkeit stößt man auch in einem berühmt-berüchtigten Kompendium für Bildungsspießer und alle, die es werden wollen. In Dietrich Schwanitzens vollmundig „Bildung – Alles, was man wissen muß“ übertiteltem Bestseller findet sich nicht bloß ein Panoptikum willkürlich zu einem Kanon zusammengestoppelter „Bildungsinhalte“, sondern auch eine mit „Können“ überschriebene Handlungsanleitung für das Posieren mit Halbwahrheiten. Hier wiederum ist ein Unterkapitel besonders hervorzuheben, in dem sich der Autor mit solchen Dingen beschäftigt, „die man nicht wissen sollte“. Es muss nicht überraschen, dass Schwanitz gleich an zweiter Stelle (nach europäischen Fürstenhäusern) auf das Fernsehprogramm zu sprechen kommt: Es spiele „in der täglichen Unterhaltung deshalb eine so wichtige Rolle, weil alle damit rechnen können, daß viele Sendungen von vielen anderen gesehen werden. Da also jeder bescheid weiß, verrät die Kenntnis des Fernsehprogramms und der verschiedenen Typen von Sendungen viel über das intellektuelle Niveau und das Interessenprofil einer Person und über die Art und Weise, wie sie ihre Zeit verbringt. Outet sich nun jemand als Kenner von nachmittäglichen Pöbel-Talkshows, ist er entweder ein Schriftsteller oder ein Arbeitsloser mit einem proletarischen Geschmack und wenig sozialen Kontakten, der nachmittags schon mit einem Bier in der Hand vor dem Fernsehen sitzt, anstatt Shakespeares Hamlet im Original zu lesen. Kennt man also die Konventionen, das Personal, die Dramaturgie und die Geschichte solcher Talkshows, ist Vorsicht geboten: Man sollte es entweder geheimhalten oder als Resultat von medientheoretischen Studien ausgeben.“[7] Dass der Schriftsteller hier neben „dem Arbeitslosen“ (wie Schwanitz ihn sich vorstellt) Erwähnung findet, deutet an, dass das Nachmittagsprogramm tatsächlich unterschiedliche Milieus ansprechen (oder abstoßen) soll und dabei mit unterschiedlichen Emotionen spielt.

Im Hinblick auf die hier verhandelten neueren Formate[8] erweist sich noch eine andere Passage bei Schwanitz als instruktiv: „Als Ausdruck besonderen Schwachsinns gelten Gameshows und alle Variationen von Reality-TV wie Katastrophen-Sendungen, Shows für emotionale Voyeure mit Tränengarantie wie Appelle zur Rückkehr entlaufener Kinder, Zusammenführung lange getrennter Familienmitglieder, Betteln um Vergebung, Versöhnungsshows und Hochzeiten.“[9] Nun ist unbezweifelbar richtig, dass die Nachmittagsformate – die alten Talkshows wie die Gerichtsshows und die neueren pseudodokumentarischen Formate – allesamt von emotionalem Voyeurismus zehren. Auffallend aber ist der performative Widerspruch zwischen dem Anspruch, nichts über sie zu wissen, und der Voraussetzung, sie immerhin so gut zu kennen, dass man weiß, nichts über sie wissen zu dürfen. Etwas, von dessen Existenz man überhaupt nichts weiß, eignet sich auch nicht zur Distinktion von denen, die zuviel darüber wissen[10]. Und genau darum geht es auch: Der emotionale Voyeurismus muss nicht von emotionaler Empathie gekennzeichnet sein. Er kann sich auch Bestätigung in der Abwehrgeste, im Überlegenheitsgefühl, in der zur Schau getragenen Distanzierung suchen. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen einige der erwähnten medienwissenschaftlichen Studien: Der Mannigfaltigkeit an Zielgruppen entspricht eine Mannigfaltigkeit an möglichen Zuschauerhaltungen. Was den einen Anlass für moralische Entrüstung oder empathisches Mitleid ist, bietet den anderen Gelegenheit zur zynischen Überheblichkeit. Komplex geschichtet, bei aller Schlichtheit der Form und des Inhalts, ist das Angebot an Identifikation und Distinktion, an präsentierten Vorbildern und Antibildern, an Instanzen der Wahrheit und moralischen Botschaften. Wer sich empathisch einlässt auf die Handlung bekommt eine (disziplinierende) Handlungsanleitung, wie er oder sie sich im Privatleben und auf den Märkten, auf die es ausgerichtet zu sein hat, zu bewegen hat. In disziplinarischer Drastik werden auch gleich die Konsequenzen gezeigt, die denen blühen, die vom Pfad der Tugend abweichen. Wer sich mit wohliger Verachtung (nicht nur von den dargestellten Figuren, sondern auch von allen, die diese Sendungen ernst nehmen) abwendet und trotzdem hinschaut, handelt nicht weniger affirmativ. Beide Rezeptionshaltungen integrieren in das Bestehende und bestätigen das eigene Selbstverständnis durch die Abgrenzung von fiktiven Schreckensbildern.

In dieser Melange entfalten die „Formate“ zugleich ihre Funktion als Distributionsmedien ideologischer Deutungsmuster. Eines ist evident: Das von Schwanitz gezeichnete Bild des Arbeitslosen befindet sich in vollständiger Kongruenz zu jenem Bild der „Unterschicht“, dass in den genannten Formaten selbst gezeichnet wird[11]. In ihnen wimmelt es nur so von arbeitslosen Männern in Feinrippunterhemden, die ihre Zeit damit „vertun“ vor dem Flachbildschirm zu sitzen und ihre Frauen das Geld mit Telefonsex heranschaffen lassen, statt – „wie es sich gehört“ – damit, „Bewerbungen“ zu schreiben. Dieser konstruierte Typus des „Sozialschmarotzers“, gerne auch im Übergang zum Kriminellen gezeichnet, kontrastiert freilich mit dem unverschuldet in die Armut Gerutschten, der keine Mühe scheut, den noch so erbärmlichsten Job zu finden und im prekärsten Dasein seine Erfüllung sieht. Dass sich beide wiederum im Kontrast befinden zu einem anderen dem Klischee nachgeformten Typus, dem reichen Schnösel (nicht selten – das unverdiente seiner Situation plakativ zur Schau stellend – als Söhnchen aus gutem Hause inszeniert, das als Schüler eines Privatinternats seine kriminelle Energie an strebsamen Jugendlichen aus ärmeren Verhältnissen auslässt), sollte nicht vorschnell als klassenkämpferisches Element missverstanden werden: Das Wertesystem des Nachmittagsfernsehens ist konsequent kleinbürgerlich. Noch in der feinsten Nuance folgt es den Ideologemen, die – etwa in den von Schwanitz vom Fernsehverbot ausgenommen „politische[n] Sendungen, Debatten und Magazine[n]“[12] – vom Presseclub bis Anne Will, von Tissy Bruhns bis Guido Westerwelle, von Sarrazin bis Sloterdijk in postdemokratischer Einmütigkeit vorgestanzt und nachgeplappert werden. So wie die Telenovela „Anna und die Liebe“[13] die populär-sentimentale Vulgarisierung des selbst schon recht vulgären „Kreativendiskurses“ war, so „popularisiert“ und transportiert das Nachmittagsprogramm die Morallehre von der selbstverschuldeten Deklassierung, die jede Reflexion auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen des Handelns a priori suspendiert. So ist es tatsächlich eine Ideologie, die hier – mit ausdifferenzierten Wirkungen – distribuiert wird: die neoliberale.

Kulturkritik? Nun ja, aber welche?

Gründe für kulturkritische Anmerkungen und kopfschüttelnde Sprachlosigkeit liefern die Sendungen also zahlreiche. Sie selbst spielen, wie ihre Distinktionsfunktion zeigt, bewusst mit solchen Affekten. Allzu rasch führt freilich die kulturkritische Abwehrhaltung nach der Art „Fernsehen ist Schund“ zu verkürzten Antimodernismen, die die produktiven Potentiale moderner Medienkommunikationsformen leichtfertig beiseite wischen. Seit der Erfindung des Buchdrucks und dem Aufkommen der Zeitung wurde jedes neue Medium zum Gegenstand von Diskursen, die in ihm die Ursache von Dekadenz und Sittenverfall ausmachten[14]. Das Verbot oder zumindest die Einschränkung des Medienkonsums gilt seither als Patentrezept des gebildeten Menschen. Noch 1951 formulierte der erste deutsche Fernsehintendant Werner Pleister: „Unter keinen Umständen darf man [...] das amerikanische Beispiel nachahmen: nämlich von morgens bis abends pausenlos zu senden; – sondern das englische Beispiel muss auch für uns massgebend sein: nämlich ein Zwei-Stunden-Programm abends muss gestaltet werden und ein 1 ½ Stunde nachmittags.“[15] Wer dem vorschnell zustimmt, plädiert für eine rigide Monopolisierung des Fernsehprogramms, die mit einem demokratisierten Medienbetrieb wenig gemein hat[16]. Die Ablehnung des Mediums selbst ist nichts als ein bloß scheinradikaler Reflex, der wirkliche Reflexion auf die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen medialer Erzeugnisse verweigert. Ähnlich kurzgeschlossen ist die Verdammung einzelner Genres. Wer heute allzu rasch einstimmt in den oberflächlich-kulturkritischen Diskurs, der im Computerspiel eine Produktionsmaschinerie von Amokläufern vermutet, sei nur daran erinnert, welche Mauern der Roman – heute immerhin gehätscheltes und getätscheltes Lieblingsmedium der Leseerziehung – zu durchbrechen hatte, um den Verdacht von sich abzustreifen, junge Frauen der Realität zu entwöhnen und junge Männer („Werther“) in den Selbstmord zu treiben. Auf solch oberflächlicher Ebene ist gegen die Nachmittagsformate kaum etwas zu sagen. Was spricht schon gegen gespielte oder nachgestellte Szenen aus dem Alltag oder gegen komprimiert dargestellte Gerichtsprozesse? Bei Lichte betrachtet spricht sogar sehr viel für sie. Nehmen wir die Formate für einen Augenblick ernst und messen sie an ihren eigenen Maßstäben.

Nicht zuletzt Bertolt Brecht hat in einem seiner vielleicht bekanntesten kurzen theatertheoretischen Texte, der berühmten „Straßenszene“, auf die Bedeutung der Abbildung von Alltäglichem hingewiesen: „Es ist verhältnismäßig einfach, ein Grundmodell für episches Theater aufzustellen. Bei praktischen Versuchen wählte ich für gewöhnlich als Beispiel allereinfachsten, sozusagen ‚natürlichen’ epischen Theaters einen Vorgang, der sich an irgendeiner Straßenecke abspielen kann: der Augenzeuge eines Verkehrsurteils demonstriert einer Menschenansammlung, wie das Unglück passierte. Die Umstehenden können den Vorgang nicht gesehen haben oder nur nicht seiner Meinung sein, ihn ‚anders sehen’ – die Hauptsache ist, daß der Demonstrierende das Verhalten des Fahrers oder des Überfahrenen oder beider in einer solchen Weise vormacht, daß die Umstehenden sich über den Unfall ein Urteil bilden können.“[17] An dieser Stelle freilich interessiert das theatertechnische Moment des Brechtschen Grundmodells weniger als die Koppelung der Abbildung von Alltäglichem an den Zweck einer Urteilsbildung. Erst durch ihn bekommt das Spiel seine kommunikative, seine „gesellschaftliche Funktion“ (Brecht) als einer aufklärerischen Praxis im eigentlichen Sinn. Stets verweist Brecht auf die beiden Künste, die im Zusammenhang mit seinem Theater auszubilden seien: Die Schauspiel- und die Zuschaukunst, wobei er scharf herausstellt, dass auch die Schauspielkunst – wie übrigens jede Kunst im engeren Sinne – zunächst mit der „Kunst der Beobachtung“ zu beginnen habe. Prägnant heißt es in einem der „Gedichte aus dem Messingkauf“: „Du, der Schauspieler / Mußt vor allen anderen Künsten / Die Kunst der Beobachtung beherrschen. // Nicht wie du aussiehst nämlich ist wichtig, sondern / Was du gesehen hast und zeigst. Wissenswert / ist, was du weißt. / Man wird dich beobachten, um zu sehen / Wie gut du beobachtet hast.“[18] Dies freilich als Element auch der Zuschaukunst könnte die Haltung beschreiben, mit der jenseits von vorschneller Empathie und Distinktionsbedürfnis auch RTL-Formate wie „Verdachtsfälle“, „Betrugsfälle“, „Mitten im Leben“ und „Familien im Brennpunkt“ befragt werden können. Die RTL-Serien zehren von der Behauptung, das, was sie darstellen, seien Abbildungen möglicher und realer Problemlagen. Sie geben vor, einem Realismus verpflichtet zu sein, der den Zuschauer mitten in den Alltag führt. Sie selbst legen folglich als Maßstab ihrer Beurteilung nahe, zu fragen, wie gut sie beobachten. Betrachtet man allein die Gegenstände, um die herum sie ihre Geschichten bauen, so sind es durchaus solche, deren Darstellung sich zum Zwecke einer Urteilsbildung lohnen könnte. Das Urteil selbst freilich muss vernichtend ausfallen. Das politisch und ideologisch Falsche wird zum ästhetisch Schlechten. Das ausgestellte Ressentiment wird überhaupt keiner Prüfung unterzogen. So vorhersehbar ist kein Alltag, so einfach gestrickt keine Motivlage. Auf der Basis von so schlecht beobachtetem Material – vermutlich hat sich keiner der Drehbuchautoren auch nur die Mühe gemacht, einmal Gespräche mit wirklichen Arbeitslosen, Prekärbeschäftigten und Internatsschülern zu führen – kann sich auch der reflektierteste Zuschauer kein eigenes Urteil bilden, es sei denn ein Urteil über die Sendung. Allzu offen präsentiert sich der „Trash“ als moralisches Tribunal, allzu propagandistisch wälzt er das Ressentiment, als dass eine Erkenntnis mit ihm und nicht bloß an ihm möglich würde.

Etwas komplexer gestaltet sich die Beurteilung der Gerichtsshows – zumindest dann, wenn Alexander Hold die Urteilsbegründung nicht dazu nutzt, sein Weltbild auszubreiten (eine Unsitte, zu der etwa Barbara Salesch weit weniger neigt). Nicht dass hier die Figuren besser beobachtet, das Sujet weniger plump wäre[19]. Allein: Im Gerichtssujet spielt die Moral eine erfrischend geringe Rolle. Die bloße Anwesenheit des juristischen Rituals, der Subsumtion des Falls unter das Gesetz, des Strafrahmens und überhaupt der Rechtsform, der zu folgen nicht immer heißt, dem Sympathischeren Recht zu geben, sorgt für die Anwesenheit einer Urteilsrationalität, die den RTL-Formaten gänzlich abgeht. Die Abgeschmacktheit und Trivialität der Fälle bildet freilich auch hier ein starres Korsett, das garantiert, dass das Geschehen im Affirmativen verbleibt. So bleiben Fragen nach der Richtigkeit oder Problematik bestimmter Rechtslagen, nach der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit von konkreten Gesetzen, ja unter Umständen ihrem Versagen oder ihrer Herrschaftsfunktion ungestellt. Stärker noch: Das Format lässt kaum Raum, sie zu stellen. Es muss kaum überraschen, dass auch die heutigen Gerichtsshows letztlich die verkrüppelte Realisierung eines Einfalls von Bertolt Brecht sind, von dem Sergej Tretjakow wie folgt berichtet: „[I]n Berlin müßte ein Panoptikum-Theater gegründet werden, in dem die interessantesten Prozesse aus der Geschichte der Menschheit dargestellt würden. ‚Das Theater wird wie ein Sitzungssaal gebaut. Allabendlich zwei Prozesse. Zum Beispiel der Prozeß des Sokrates. Ein Hexengericht. Der Prozeß George Grosz, der wegen Gotteslästerung zur Verantwortung gezogen wurde, wegen seiner Karikatur ‚Christus in der Gasmaske’, der kommandiert: Maulhalten und weiterdienen!’ / Brecht ist ganz Feuer und Flamme. Er phantasiert schon über Einzelheiten.“[20] Nicht, dass es keine berühmten historischen Prozesse sind, die in den Gerichtsshows geboten werden, macht sie defizient. Brecht kommt ungefähr zur selben Zeit auf die Idee des Panoptikumstheaters, in dem er in seinem Lehrstück „Die Ausnahme und die Regel“ vorführt, wie selbst richtige Rechtsnormen unter den Bedingungen herrschaftsförmiger Klassengesellschaft zum Herrschaftsinstrument werden können. Auf solche Widersprüche zu orientieren, sie zu erforschen, setzt freilich abermals Konkretion und Beobachtungsgabe voraus. Indem das Gericht der heutigen Shows mit seinen Kanonen auf Fälle für Spatzen schießt und sich – trotz des formalen Hinweises auf Berufung und Revision – als „letzte Instanz“ geriert, wird auch hier das aufklärerische und ästhetische Potential verschenkt, dass in ihrer Grundidee durchaus angelegt ist.

Es wäre natürlich naiv zu glauben, Verbesserungsvorschläge dieser Art hätten eine reale Chance, das Nachmittagsfernsehen besser zu machen. Die Gründe dafür, warum es so ist, wie es ist, liegen auf der Hand. Als Distributionsmedium neoliberaler Ideologeme erfüllt es seine soziale Funktion unter den Bedingungen der Gegenwart. Dass es dieser Funktion indes nur nachkommen kann, indem es einen Realismus suggeriert, den es offensichtlich nicht erfüllt, verweist auf den selbst in ihm mitgeschleppten Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft, auf Prämissen aufzuruhen, die sie selbst untergräbt. Das Trashfernsehen wirkt als Miniatur der postdemokratischen Tendenz. Konnte man schon in den von Schwanitz genannten „Pöbeltalkshows“ die Perversion einer res publica beobachten, die den privaten Ehebruch zum Gegenstand eines Tribunals mit reger Beteiligung des Publikums machte, während es gleichzeitig bei Sabine Christiansen zu einer Versammlung von Claqueuren erniedrigt wurde, so wird nun die soziale Verwerfung aus der Schlüssellochperspektive eines emotionalen Voyeurismus geboten, die das gesellschaftliche Problem als Privatproblem vorführt (RTL) oder ein großes Gerichtssujet aufbaut, in dem es bei Lichte betrachtet um gar nichts geht. Dem entspricht ein politisches System, das Verfahren und Institutionen der Demokratie nicht anrührt, sie jedoch zugleich zu substanzlosen Ruinen ohne nennenswerte Öffentlichkeit und ohne wirkliche Repräsentation sozialer Antagonismen verfallen lässt. Zugleich muss das solcherart ruinierte scheinen, was es nicht ist. An diesen Widersprüchen kann eine Kritik ansetzen, die die uneingeholte Potenz gegenüber der stummen Gewalt des Bestehenden einklagt: in der Politik wie im Nachmittagsfernsehen.

[1] Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, in: Adorno Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt/Main 1997, S. 157f.

[2] Ebd., S. 158

[3] Ebd.

[4] Mitunter freilich behauptet ein Untertitel, die Erfindung beruhe auf „einer wahren Begebenheit“.

[5] In den neunziger und in der ersten Hälfte der nuller Jahre füllten solche Talkshows, meist nach dem Moderator benannt, den Nachmittag der Privatsender: „Vera am Mittag“, „Oliver Geißen“, „Ilona Christen“, „Hans Meiser“, „Arabella“ etc. pp. Aus dieser „Ära“ übriggeblieben ist allein die Sendung „Britt“ (täglich auf Sat.1 zwischen 13 und 14 Uhr), die sich insbesondere auf durch Lügendetektoren gestützte Überführungen von der Untreue verdächtiger Partner und Vaterschaftstests spezialisiert hat.

[6] Fast scheint es, als hätten sich die Sender abgesprochen. So ist es beispielsweise nicht möglich, die Werbepause bei RTL mit Sat.1 zu überbrücken oder vice versa, denn, wie von Geisterhand gesteuert, läuft die Werbung (fast) gleichzeitig auf allen Kanälen.

[7] Dietrich Schwanitz, Bildung – Alles, was man wissen muß, München 2002, S. 611f.

[8] Insbesondere die Gerichtsshows freilich sind auch nicht mehr taufrisch. Ihre Geschichte reicht weit in die nuller Jahre zurück. Seinerzeit bot auch RTL ein „Strafgericht“ (heute mitunter in nächtlichen Wiederholungen und in der Zweitverwertung durch von alten Kamellen lebende Magazine bei RTL2 noch zu sehen), ein „Familiengericht“ und ein „Jugendgericht“ auf, die allerdings nicht in der Lage waren, den parallel laufenden Sat.1-Sendungen „Richterin Barbara Salesch“ und „Richter Alexander Hold“ das Wasser abzugraben. Ein Vorbild fanden diese „Formate“ seinerzeit in der ARD-Ratgebersendung „Streit um drei“, in der auf unterhaltsame Weise Zivilrechtsstreitigkeiten nachgestellt/gespielt und schließlich von „Experten“ analysiert wurden. Der Ratgebercharakter freilich spielt in den „Gerichtsshows“ keine Rolle mehr.

[9] Schwanitz, a.a.O., S. 612

[10] Dass Schwanitzens Schinken selbst zu den „Werken“ gehört, die man – um in seinem System des Distinktionsgewinns zu bleiben – besser nicht allzu affirmativ zitieren sollte, sei nur am Rande erwähnt. Als opulentes Goldmann-Taschenbuch steht es selbst am Rand des Boulevards. Was es als „Bildung“ präsentiert entspricht im Wesentlichen jenem „vom Fetischcharakter der Ware ergiffenene[m] Geist“, den Adorno als Halbbildung bezeichnet. (vgl. Theodor W. Adorno, Theorie der Halbbildung, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 8; S. 108): „Die Wahlverwandtschaft von Halbbildung und Kleinbürgertum liegt auf der Hand; mit der Sozialisierung der Halbbildung aber beginnen auch ihre pathischen Züge die ganze Gesellschaft anzustecken, entsprechend der Instauration des auf Touren gebrachten Kleinbürgers zum herrschenden Sozialcharakter.“ (ebd., S. 118) Demgegenüber empfiehlt Adorno „ein[en] Zustand“ „zu visieren“, „der weder Kultur beschwört, ihren Rest konserviert, noch sie abschafft, sondern selber hinaus ist über den Gegensatz von Bildung und Unbildung, von Kultur und Natur.“ (ebd., S. 120) Die Distinktionsfunktion von „Bildung und Kultur“ als eines sehr „deutschen Deutungsmusters“ wäre damit hinfällig (vgl. hierzu: Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur – Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/Main 1996).

[11] Vgl. hierzu abermals Adorno: „Ein halbgebildetes Slogan, das einmal bessere Tage gesehen hat, ist Ressentiment; Halbbildung selber aber ist die Sphäre des Ressentiments schlechthin, dessen sie jene zeiht, welche Irgend noch einen Funken von Selbstbesinnung bewahren. Unverkennbar das destruktive Potential der Halbbildung unter der Oberfläche des herrschenden Konformismus. Während sie fetischistisch die Kulturgüter als Besitz beschlagnahmt, steht sie immerzu auf dem Sprung, sie zu zerschlagen.“ (Adorno, Theorie der Halbbildung, a.a.O., S. 116)

[12] Vgl. Schwanitz, a.a.O, S. 613.

[13] In dieser Serie arbeitet sich eine graue Maus mit verkapselten „Kompetenzen“ zur erfolgreichen Designerin von Werbung und Mode empor und angelt sich auf dem Weg nach oben den Sohn der Chefin. Von Reflexionen über den Sinn und Unsinn des Werbe- und Modehokuspokus ist die Serie freilich gänzlich frei.

[14] Vgl. hierzu etwa die Beiträge in Albert Kümmel/ Leander Scholz/Eckhardt Schumacher: Einführung in die Geschichte der Medien, Paderborn 2004. Eine besondere Ironie freilich ist, dass auch derjenige, der daraus den Schluss ziehen mag, das Fernsehen privatim besser ganz abzuschaffen, den Schwanitzschen Kosmos keineswegs verlässt: „Als Nonplusultra (lat. Unübertreffbares) der Bildung gilt es, überhaupt keinen Fernseher zu besitzen. Wer so weit gekommen ist, braucht sich um seine Reputation keine Sorgen mehr zu machen.“ (Schwanitz, a.a.O., S. 612)

[15] Zit. nach Christina Bartz, Fernsehen, in: Kümmel/Scholz/Schumacher a.a.O., S. 200

[16] Die Einschränkung des Fernsehprogramms würde beispielsweise jene demokratische Grundfertigkeit des Zappens unterdrücken, die Siegfried Prokop zurecht als „ein intelligentes Spiel, das ein kontextbewusstes Publikum spielt, das eine interessante Beute sucht“ bezeichnet hat (Siegfried Prokop, Der Medienkapitalismus – Das Lexikon der neueren Medienforschung, Hamburg 2000, S. 213).

[17] Bertolt Brecht, Die Straßenszene – Grundmodell einer Szene des epischen Theaters (1940), in ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 22, S. 371

[18] Bertolt Brecht, Rede an dänische Arbeiterschauspieler über die Kunst der Beobachtung, in: ebd., S. 862

[19] Wer an humorvollen und gut beobachteten Geschichten im Gegenwartsprivatfernsehen interessiert ist, sollte dann doch eher Montagabends die Anwaltsserie „Danni Lowinsky“ schauen, über die jüngst Karin Schuster im Freitag (24.3.) zurecht schrieb, sie sei „eine der schlauesten und unterhaltsamsten Serien, die Deutschland in der jüngsten Zeit gesehen hat. Erzählt wird eine lange Geschichte, die von Familie und sozialen Unterschieden handelt, sowie in jeder Folge eine kurze mit eben denselben Themen. Zwangsheirat, Alleinerziehende, Gentrification, Pharmafirmen, Altenheime, überhaupt Kapitalismus und Religion: Danni Lowinsky macht vor nichts Halt. Wo Gerichtsshows nur über sex and crime fantasieren, bringt die Juristen-Serie unsere Gegenwart tatsächlich auf den Bildschirm, freilich im kleinen Rahmen und gerne ein wenig überdreht.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

[20] Sergej Tretjakow, Bert Brecht, in: ders., Die Arbeit des Schriftstellers – Aufsätze Reportagen Porträts, Reinbek 1972, S. 153.