Buchbesprechungen

Kritik der Politischen Ökonomie der Arbeit

von Malte Meyer zu Marcel van der Lin-den/Karl Heinz Roth
Juni 2011

Marcel van der Linden/Karl Heinz Roth (Hrsg.), unter Mitarbeit von Max Henninger: Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Assoziation A, Berlin und Hamburg 2009, 608 S., 29,80 Euro

In ihrer Juniusbroschüre bezeichnete Rosa Luxemburg schonungslose Selbstkritik als „Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung“ und konnte sich dabei auf eine berühmte Einsicht von Marx berufen. Selbstkritik zum Zwecke sozialrevolutionärer Erneuerung war auch das Motiv, das Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth angetrieben hat, marxistische DissidentInnen dazu einzuladen, „über Marx hinaus“ zu denken. Während Luxemburg die Bankrotteure der offiziellen Arbeiterbewegung noch zur Verantwortung zu ziehen hoffte, indem sie den revolutionären Marxismus von seiner Petrifizierung befreite, gehen die radikalen Sozialhistoriker unumwunden davon aus, dass die wert-, klassen- und revolutionstheoretischen Konzeptionen von Marx selbst in mindestens fünf zentralen Punkten revidiert werden müssen, „wenn diese Theorie in den kommenden Jahren als Orientierungshilfe brauchbar sein soll“.

Grausam-gründlicher Kritik zu unterziehen sei deshalb erstens jene theoriepolitische Prioritätensetzung von Marx, die das Studium der Arbeiterklasse systematisch gegenüber dem der Kapitallogik vernachlässige. Die proletarische Erfahrung gerate dadurch so stark ins Hintertreffen, dass Marx für die funktionalistischen Interpretationen vieler seiner Adepten mitverantwortlich gemacht werden müsse. Ebenfalls nicht länger vertretbar sei zweitens ein Objektivismus, der ausgerechnet dort zur naturwissenschaftlichen Identifizierung von „Gesetzmäßigkeiten“ neige, wo es um originär gesellschaftliches Handeln ginge. Avantgardistische Bevormundung oder aber – wie im Fall der holländischen Rätekommunisten – politische Passivität zählten zu den naheliegenden praktischen Konsequenzen. Drittens rede das Marxsche Oeuvre auch der Privilegierung einer bestimmten Fraktion der Weltarbeiterklasse – dem Industrieproletariat in den Metropolen des Kapitals – das Wort, obwohl diese doppelt freien Lohnarbeiter „im Weltmaßstab immer eine ziemlich unbedeutende Minderheit gewesen“ seien. Erklärt werden könne diese Option viertens mit einem methodologischen Nationalismus, der selbst einen so kritischen Theoretiker wie Marx dazu verführt habe, historische Produkte wie den Nationalstaat unkritisch als unwandelbaren Analyserahmen zu akzeptieren. Schließlich und fünftens sei Marx mit der wichtigen Ausnahme seines Briefs an die russische Sozialrevolutionärin Vera Zasulič immer der eurozentrischen Auffassung verhaftet geblieben, „dass (West-)Europa den Fortschritt verkörpere, der sich von dort über die Welt ausbreite“.

Das Vorhaben einer selbstkritischen Erneuerung sozialrevolutionärer Theorie und Geschichtsschreibung, das die Herausgeber in ihren Vor- und Nachworten ebenso klar begründen wie zusammenfassen, bringen sie auf den Begriff einer „dynamischen Kritik der politischen Ökonomie der Arbeit“. Unter diesem Rubrum versammelt das insgesamt 600-seitige Werk 18 Beiträge von „Intellektuellen an den heterodoxen Rändern des Marxismus“. Zu diesen QuertreiberInnen zählen die Herausgeber, feministische und postkoloniale Linke, italienische und nordamerikanische Operaisten, „linientreue Dissidenten“ wie Thomas Kuczynski, Altautonome sowie eine ganze Anzahl jüngerer Radikaler aus Italien, der BRD und den USA. Finden sich im ersten Teil des Bandes eher empirisch orientierte Analysen zur Geschichte und Gegenwart arbeitender Klassen im kapitalistischen Weltsystem, so befasst sich der zweite Teil stärker mit der Untersuchung Marxscher Theoretisierungen u.a. von Arbeit, Wert und Klasse. Weil die fast ausnahmslos hochinteressanten Aufsätze beider Teile an dieser Stelle nicht so gewürdigt werden können, wie sie es verdient hätten, sei auf den von Karl Heinz Roth und Marcel van der Linden gut bilanzierenden Beitrag verwiesen, den sie als Ensemble zur theoretischen Höherstufung proletarischer Klassensubjektivität leisten. „In Anlehnung an die Autoren der ersten Sektion lassen sich die neuen Befunde auf fünf wesentliche Aspekte fokussieren: Erstens die zeitliche und räumliche Ausdehnung, zweitens die Mobilität, drittens die sozialökonomische Ausdifferenzierung, viertens die Frage der Koexistenz oder Stufenfolge unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse und fünftens die Formierungs- und Fragmentierungsprozesse innerhalb der proletarischen Klassenentwicklung. Dabei konstituiert sich die Weltarbeiterklasse nicht als homogenes Gebilde, sondern als ein Multiversum von Schichten und Gesellschaftsgruppen, dessen Lernprozesse, Erfahrungen, Zusammenschlüsse und Handlungen nicht so sehr durch die einzelnen Subjekte, sondern viel stärker von Familien, Gemeinden, Brüder- und Schwesternschaften, Hilfs- und Gewerkvereinen, Geheimbünden und Aktionsgruppen getragen werden. Sie bilden eine diffuse soziale Infrastruktur, die für das Überleben und die Ausbildung kultureller Normen entscheidend ist und auch dann Bestand hat, wenn die sich periodisch aus ihnen generierenden großen politisch-gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse Schiffbruch erleiden.“

Malte Meyer