Editorial

Dezember 2015

Die gegenwärtige politische Diskussion wird nach wie vor fast vollständig von den Krisenprozessen in und um die EU beherrscht. Für die marxistische Linke bleibt die Aufarbeitung der „griechischen Erfahrung“ zentral; damit befassen sich verschiedene Beiträge im Schwerpunkt des vorliegenden Heftes.

Vorangestellt werden zwei aktuelle Themen: Mit der großen Zahl von zuwandernden Flüchtlingen nach Europa und in die Bundesrepublik haben die Themen der politischen Rechten – Nation, Ethnie, Homogenität – in ganz Europa Konjunktur. Gerd Wiegel analysiert die Hintergründe des neuen Aufstiegs von Pegida und der AfD sowie die inneren Auseinandersetzungen im rechten Lager hierzulande. Gegen die Tendenz, dass die populistische Rechte in Europa besonders „von den subalternen Klassen als Garant gegen eine weitere Auflösung des als Schutzrahmen begriffenen Nationalstaats“ gesehen werde, müsse von der Linken die energische Thematisierung der sozialen Frage gesetzt werden.

Thomas Metscher nennt die „Utopia“ von Thomas Morus, vor 500 Jahren erschienen, „die kopernikanische Wende“ im utopischen Denken. Aktualität, Entstehung, Sprache und Form, das experimentelle Denken dieses „humanistischen Gedankenlaboratoriums“ am Vorabend des Aufstiegs der bürgerlichen Gesellschaft und schon über sie hinausweisend, bespricht Metscher in seinem Essay – „das Modell einer von Gewalt und Ausbeutung freien Gesellschaft“.

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Griechenland, die EU und die Linke: Die von der EU gegen den Mehrheitswillen der griechischen Bevölkerung erzwungene Fortsetzung der sozialreaktionären Austeritäts- und Umverteilungspolitik hat die Frage auf die politische Tagesordnung gesetzt, ob die europäischen Strukturen nicht inzwischen so neoliberal verfestigt sind, dass selbst eine gemäßigte soziale Reformpolitik in einzelnen Mitgliedsländern unmöglich geworden ist. Damit verbunden ist die Frage der Demokratie: Wenn die Bevölkerung der Mitgliedsländer nicht mehr darüber entscheiden kann, wer wie hoch besteuert werden soll, wie die Steuereinnahmen verwendet werden, wie hoch das Rentenalter ist, wie öffentliche Investitionen finanziert werden, ob die Geschäfte Sonntags schließen müssen, ob Banken Familien obdachlos machen dürfen, dann ist Demokratie nur noch eine leere Hülle. Für die Linke stellt sich die Frage, ob sie dieses neoliberale Europa noch für reformfähig hält oder ob es angesichts der Ungleichzeitigkeit sozialer Bewegungen in den einzelnen Ländern nicht aussichtsreicher ist, auf einen Austritt zumindest aus der Eurozone zu setzen, wenn dies von Bevölkerungsmehrheiten unterstützt wird.

Jörg Goldberg bespricht das Buch von Giorgios Chondros über die griechische Krise. Chondros zeigt, dass die scheinbare Fehlkonstruktion des Euro vom Standpunkt des Kapitals ein gelungenes Instrument ist, um die nationalen sozialen und demokratischen Bewegungen gegeneinander auszuspielen. Sein Vorschlag, auf gemeinsame europäische Bewegungen zu setzen, erscheint gegenwärtig allerdings wenig realistisch. Trotzdem ist ein Austritt aus der gemeinsamen Währungszone allein keine sinnvolle Option. Conrad Schuhler, der sich ebenfalls teilweise auf Chondros bezieht, setzt die Akzente etwas anders. Obwohl auch er die Schwäche der europäischen Linken in der Griechenlandfrage konstatiert, hält er die Verhandlungsstrategie von Syriza für eine Ursache dieser Schwäche. Diese habe mit ihrem Vertrauen auf Verhandlungslösungen de facto dazu beigetragen, die zivilgesellschaftlichen Bewegungen für ein anderes Europa zu schwächen. Nico Biver gibt einen empirisch untermauerten Überblick über die Stärke von Syriza und der griechischen Linken. Der Fokus liegt auf der Frage, wie groß der gesellschaftliche Rückhalt der linken Regierungspartei heute ist. Ein Problem besteht in der Tatsache, dass sie den Spagat zwischen einer Regierungspartei, die es zudem oft mit dem alten System verhafteten Funktionären in den Ministerien zu tun hat und die unter dem Diktat der Troika steht, und einer mit den sozialen Bewegungen verbundenen antikapitalistischen Organisation schaffen muss. Klaus Dräger schildert die Debatten über Reform oder Austritt in den linken Parteien Europas. Seiner Ansicht nach sind Hoffnungen, die auf eine Ausbreitung des griechischen ‚Bazillus‘ zumindest in den Krisenländern setzen, ebenso auf Sand gebaut wie die Erwartung, dass es in absehbarer Zeit zu europäischen Koalitionen gegen die Austeritätspolitik kommen könnte: „Die reale Ungleichzeitigkeit der Protestbewegungen ist nach wie vor im Wesentlichen an den Kontext einer nationalstaatlich verfassten politischen Öffentlichkeit gebunden.“ Die ökonomischen Bedingungen eines Grexits behandelt Mechthild Schrooten. Sie rekapituliert die Geschichte des griechischen Euro-Beitritts und verweist auf den Widerspruch, dem die Eurozone unterliegt: gleichzeitig eine Solidargemeinschaft und ein Wettbewerbsraum sein zu wollen. Ökonomisch biete ein Grexit alleine kaum einen Vorteil: Er würde die von Griechenland zu zahlende Risikoprämie hochtreiben und das Land zudem einem Wechselkursrisiko aussetzen. Gerade in der aktuellen Situation sei daher der Grexit keine sinnvolle Option.

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Kapitalismusanalysen: Im zweiten Teil seines Beitrags über die globale Produktion digitaler Hard- und Software behandelt Christian Fuchs die Arbeit in der indischen Software-Industrie, in Call-Centern, die Software-Entwicklung bei Google und Online-Prosumption. Mit der „neuen internationalen Arbeitsteilung der digitalen Arbeit“ ist ein weltweites Netz der Ausbeutung entstanden, in dem unterschiedlichste Formen der Ausbeutung (Lohnarbeit, unbezahlte „freie“ Arbeit, prekäre Arbeit, Sklavenarbeit) unter der Regie der internationalen IuK-Industrie miteinander verwoben sind. Die anhaltende Finanzkrise und die Hilflosigkeit der staatlichen Geldpolitik haben für Marxisten die Frage der Geldtheorie wieder in den Mittelpunkt gestellt; Z 102 und Prokla 179 veröffentlichten dazu Schwerpunkthefte. Stephan Krüger reagiert darauf mit einer differenzierten Kritik: Auch marxistische Autoren würden seit dem Abschied der offiziellen Geldpolitik vom Gold oft einer „monetären Geldtheorie“ anhängen, bei der der Zusammenhang zwischen Geld und Geldware aufgelöst sei. Die Finanzkrise zeige aber gerade, dass dies im Kapitalismus nicht möglich sei. Friedrich Carl und Paul Oehlke informieren über neuere Tendenzen in der „Innovationsökonomie“ der sog. Sussex-Schule, die entgegen dem Zeitgeist auf eine Zurückdrängung finanzkapitalistischer, soziale Polarisierung forcierender Kapitalstrategien setzen und eine stärkere Rolle des Staates einfordern. Sie sehen hier Ansätze für einen sozial-ökologischen Umbau des europäischen Kapitalismus und für eine weiterreichende Demokratisierung. Im Mittelpunkt des Beitrags von Klaus Steinitz über die Entwicklung der Wirtschafts- und Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland 25 Jahre nach dem Anschluss der DDR steht deren Bewertung in öffentlichen Umfragen. Es ergeben sich gravierende Bewertungsunterschiede zwischen Ost- und West – die „positive“ Bewertung in Westdeutschland ist etwa doppelt so hoch wie in Ostdeutschland – und nach Generationen: Fast 40 Prozent der Jüngeren in Ostdeutschland, aber nur 25 Prozent der Älteren bewerten „den Stand der Einheit“ positiv für sich.

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Weitere Beiträge: John Lütten setzt sich mit einer im Rahmen der ‚neuen Marxlektüre‘ verbreiteten Lesart von Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie auseinander, der zufolge Marx im „Kapital“ eine subjektlose, unpersönliche Form bürgerlicher Herrschaft beschrieben habe. In dieser ‚verselbständigten‘ Form von Herrschaft sind Individuen und gesellschaftliche Klassen lediglich bewusstlose Exekutoren ökonomischer Funktionen ohne Handlungsoptionen. Lütten zeigt, dass diese Position den dialektischen Zusammenhang von Struktur und Handlung verkennt. Zudem sei sie „anschlussfähig“ an neoliberale Sichtweisen, denen zufolge die Gesetze der Finanzmärkte jede Handlungsmöglichkeit determinieren. Elisabeth Abendroth zeichnet anhand von Jan Seghers‘ „Sternthalerverschwörung“ und Gila Lustigers Roman „Die Schuld der Anderen“ nach, wie der gegenwärtige Kriminalroman als gleichermaßen gesellschaftsanalytisches wie politisches Medium fungiert. Der Diskussion um Realismus in der Gegenwartsliteratur (vgl. Z. 101) steht sie eher skeptisch gegenüber, sei hier doch „ästhetische Reglementierung“ zu befürchten. Wulf D. Hund arbeitet in seinem Betrag detailreich heraus, wie sich in Fritz Langs Stummfilmklassiker „Metropolis“ antisemitische, rassistische und antikommunistische Ikonographien und Motive überlagern. Gegen Interpretationen, die in „Metropolis“ eine linke, gar sozialistische Utopie sehen wollen, zeigt Hund, dass es letztlich ein Ideal der Volksgemeinschaft ist, das in Metropolis utopisch inszeniert wird. „Die Stadt als soziales Kampffeld“ war Thema der „Marxistischen Studienwoche“ vom März 2015. Wir dokumentieren vier Beiträge von Patrick Ölkrug (Stadtentwicklung und Austeritätspolitik in Portugal), Sophie Dieckmann (Wohnungspolitik in der VR China), Matthias Clausen (Berliner Initiative „Kotti & Co“) und Ernest Kaltenegger (Linke Wohnungs- und Stadtpolitik in Graz). Zur Erinnerung an Arno Klönne veröffentlichen wir einen Brief von ihm mit einem Kommentar zum linken Milieu der 1950er und 1960er Jahre im Frankfurt er Raum: „Das hat es sonst in dieser Weise damals in Westdeutschland nirgendwo gegeben.“

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Z 105 (März 2015) wird, wie auch die Marxistische Studienwoche 2016 (14. bis 18. März, Frankfurt/M.; vgl. S. 16), „Kapitalismus und Migration“ als Schwerpunktthema behandeln.