Kapitalismus und Migration

Offene Märkte, geschlossene Grenzen

Ohne Migration endet die europäische Integration als monströser Markt

von Elmar Altvater
März 2016

Migration von Menschen ist normal. Würden Menschen nicht migrieren, gäbe es sie wahrscheinlich nur in Ostafrika, nicht aber überall auf Erden, angepasst an Wüsten, Regenwälder, Grasland, Eisfelder und an die von Menschen gemachten urbanen und industriellen Landschaften. Menschen sind ubiquitäre und daher migrierende Wesen. Also hört Migration nicht auf, und ihr Grenzen zu setzen ist ein hoffnungsloses Unterfangen. „Jede Woche wandern weltweit drei Millionen Menschen in die Städte“, resümiert die Internationale Organisation für Migration (IOM 2015: 15; http://www.iom.int/world-migration) einen Bericht des UN-Human Settlements Programme (UNHabitat).

Nicht normal freilich ist die Massenflucht aus dem Nahen und Mittleren Osten, aus Ost- und Westafrika und Zentralasien nach Westeuropa in jüngster Zeit. Allein an Griechenlands mediterranen Küsten landeten 2015 847.084 Flüchtlinge, nachdem es 2014 „nur“ 34.442 Menschen waren. Die Zahl der Menschen, die bei den Fluchtversuchen im Mittelmeer ihr Leben verloren, stieg von 3.279 im Jahr 2014 auf 3.771 im Jahr 2015. Die von den USA mit ihren „willigen“ Partnern in ihren Wirtschafts- und Militärbündnissen nach dem 11. September 2001 praktizierte „Weltordnungspolitik“ hat Hunderttausende zur Flucht gezwungen. Allein in Griechenland sind 2015 205.858 Menschen aus Afghanistan, 86.989 aus dem Irak und 475.903 aus Syrien gestrandet. Hinzu kommen Umweltschäden und -konflikte sowie die neoliberale Austerity, durch die unzählige Menschen in Not gestürzt worden sind. Dies schreibt warnend auch die IOM. Die derzeitige Fluchtbewegung macht deutlich, in welch verheerenden Zustand der Planet Erde durch politische Gewalt, ökonomische Krisen, finanzielle Spekulation und Umweltzerstörung geraten ist. Die jeden Tag im Fernsehen in Echtzeit zu beobachtende Folge: Viele Menschen verlieren die Heimat und befinden sich auf der Flucht. Die in der gesamten Menschheitsgeschichte normale Migration verwandelt sich in eine panische Flucht.

1 Flucht oder Migration

Flucht und Migration sind zwar zu unterscheiden. Das UNHCR erklärt (http://www.unhcr.de/mandat/fluechtlinge.html): „Flüchtlinge werden zur Flucht gezwungen; Migranten suchen zumeist aus eigenem Antrieb Möglichkeiten, ihren wirtschaftlichen Status zu verbessern… Während Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen beschließen auszuwandern, noch durch ihren Heimatstaat geschützt sind, müssen Flüchtlinge ihre Heimat verlassen, weil ihr Heimatland sie nicht mehr schützen kann oder will…“ Da setzt auch die Genfer Flüchtlingskonvention an. Ein Flüchtling ist eine Person, die „…aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will…“ (Genfer Flüchtlingskonvention von 1951).

Das ist eine historisch geladene Definition aus der Zeit nach dem Sieg über den Nationalsozialismus und dessen Schreckensherrschaft systematischer Menschenrechtsverletzungen. Heute gibt es weitere Gründe für die Flucht aus einem bestimmten Land oder aus einer Region. Viele der Flüchtlinge haben sich aus ökologischen und wirtschaftlichen Gründen auf den Weg an die mediterranen Küsten Europas gemacht. Der Klimawandel, die nukleare Kontamination von ganzen Landstrichen und andere Umweltschäden werden in Zukunft zu den wichtigsten Fluchtursachen gehören. Diese Flüchtlinge sind keine „Konventionsflüchtlinge“, weil sie nicht den Kriterien der Flüchtlingskonvention entsprechen, haben daher auch keinen durch internationales Recht begründeten Asylanspruch. Es ist nationalstaatliche Entscheidung, Flüchtlingen generell oder nur einem Kontingent Asyl zu gewähren.

Auf der Suche nach Schutz in einem anderen Land müssen Migranten, Konventionsflüchtlinge oder „Kontingentflüchtlinge“ häufig gefährliche Wege in Kauf nehmen, auf denen ihnen „Intermediäre“ der Migration oder Flucht – in negativer Konnotation: Schlepper und Schleuser, Menschenhändler, in positiver: Fluchthelfer, Arbeitsvermittler, auch Freunde und Verwandte – behilflich sind. Nicht selten ist die Hilfe, wie zahlreiche Berichte belegen, tödlich. Viele Flüchtlinge oder Migranten (die Abgrenzung ist schwierig, manchmal willkürlich) bezahlen für die Reise in eine bessere Zukunft nicht nur viel Geld, sondern auch mit ihrem Leben.

Es sind nicht nur äußerer politischer und sozialer Druck oder die elende ökonomische Lage, die Ausmaß und Richtung der Migration bestimmen; oft lösen die Gefährdung oder der Verlust menschlicher Sicherheit die Flucht aus: der Verlust der sicheren Unterkunft, der politischen und öffentlichen Sicherheit, einer sicheren Natur einschließlich der Ernährungssicherheit, des Zugangs zu Land und grundlegenden öffentlichen Gütern und Dienstleistungen. Auch die Klimasicherheit ist bedroht. Ganz entscheidend für menschliche Sicherheit ist die Abwesenheit von Krieg, auch wenn das noch nicht Frieden bedeuten mag. Der Zustand menschlicher Sicherheit ist in den Weltregionen unterschiedlich. Die Europäische Gemeinschaft ist in einer besseren Lage als andere Regionen in der Nachbarschaft der EU. Dies ist wahrscheinlich der wichtigste Grund, warum in den letzten Jahren eine starke „Pull“-Spannung zwischen der EU und den Ländern des Balkan, der Levante, Nord-Afrikas oder des Nahen Ostens entstanden ist. Daher strandet eine wachsende Zahl von Menschen als Flüchtlinge an den Außengrenzen der EU.

Die EU bzw. einige Mitgliedsländer der EU haben die Situation durch politische und militärische Interventionen verschärft, um einen Regimewechsel in einigen Ländern wie dem Irak, Afghanistan, Libyen und Syrien zu erreichen. Global Players mischen sich in nationalstaatliche Auseinandersetzungen ein, ohne auf die Ökonomie oder das politische Terrain Rücksicht zu nehmen. Sie haben wissentlich die „Push“-Faktoren der Migration unterstützt, indem sie die Bedingungen menschlicher Sicherheit zerstörten. Denn die den destabilisierenden Interventionen nachfolgende politische Instabilität löst Wellen der Gewalt und daher der Flucht und Migration aus.

Push- und Pull-Kräfte wirken immer auf dem Hintergrund der jeweiligen politischen Gesamtlage. Vor dem Fall der Berliner Mauer waren Flüchtlinge aus dem Ostblock in der westlichen, „freien“ Welt hochwillkommen. Flucht-Helfer galten als „Freiheitshelden“, die dazu beigetragen haben, die „Mauern der Unfreiheit“, die Grenzen zur Auswanderung in die „freie Welt“ zu überwinden. In den 1990er Jahren kamen die meisten Flüchtlinge (in Europa) aus dem ehemaligen Jugoslawien, das in den Balkankriegen als schützende politische Einheit zerstört worden ist. Daran waren EU-Mitgliedsländer, nicht zuletzt Deutschland mit seinem damaligen Außenminister Genscher, direkt beteiligt. Zehn Jahre später wurden Libyen, Syrien, der Irak und Afghanistan zu gescheiterten Staaten, eine unmittelbare Folge der Militärinterventionen von USA, NATO und EU-Ländern. Die Vereinigten Staaten waren zunächst die treibende Kraft des Regime-change. Aber sie konnten und können dabei auf die EU, vor allem auf Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien zählen. Die grausame Ermordung des ehemaligen libyschen Führers Muammar Gaddafi wurde unter dem Schutz der ‚Flugverbotszone‘ von Frankreich, dem Vereinigten Königreich und anderen Ländern durchgeführt. Die geheimen CIA-Gefängnisse wurden von Bulgarien, Polen, Litauen, Rumänien etc. auf ihrem Hoheitsgebiet geduldet. Im Europäischen Diskurs des ideologischen mainstream jedoch sind die Bürgerkriege im Nahen Osten und Nordafrika dem Fanatismus, der Korruption, dem wirtschaftlichen Scheitern aufgrund von wirtschaftlichen Versäumnissen nationaler Regierungen geschuldet. Für Auswanderung und Flucht in die EU und ihre Mitgliedstaaten lehnen die EU-Länder daher jede Verantwortung ab. Es wirkt sich auf die Asylverfahren aus, wenn der komplexe Zusammenhang zwischen Verursachung der Unsicherheit der Lebenslage von Menschen und den Folgen für das unauflösliche Dreieck von menschlicher Sicherheit, menschlicher Entwicklung und Menschenrechten aus dem Blick geraten.

Anders als während der Blockkonfrontation bis 1989 sollen die Zäune und Mauern, die heute gebaut werden, niemanden daran hindern, aus den umzäunten Regionen (z. B. auf dem Balkan) auszuwandern, wohl aber Flüchtlinge aus anderen Weltregionen daran, das Territorium der EU zu betreten oder gar in die EU einzuwandern. Die Regierungen einiger Länder definieren ihren Staat ideologisch als „no-immigration country“. Die ehemaligen „Freiheitshelden“ und Fluchthelfer gelten nun als Schleuser und Menschenschmuggler, als Kriminelle, denen zumeist niedere Motive unterstellt werden.

2 Neo-pangäische Integration von Märkten und die
Migration von Menschen

Seit vielen Jahrhunderten haben die günstigen Verhältnisse des Mittelmeers die ökonomische Integration und daher den Handel von Waren und die Migration von Menschen befördert. Das hatte schon Alexander von Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Charakteristikum der mediterranen Region vermerkt. Er verwies auf die einzigartige natürliche Konfiguration von Wasser und Land, von „flüssig und trocken”, und die tief gegliederten Küstenformationen am Übergang von flüssig zu trocken auf der iberischen, der Apennin- und Balkanhalbinsel sowie in der ägäischen Inselwelt oder in Anatolien am Nordufer des Mittelmeers und dann auf die Gebirgsformationen jenseits der Küsten und auf die großen Inseln, durch die Kommunikation und Transporte im Mittelmeerraum, also „Fernhandel und damit (der) Reichtum Europas… von der Natur privilegiert“ worden sind. (Dill 2013: 11) Seefahrt und Landtransporte, also der Austausch von Gütern, Informationen, Menschen und Kulturen, fanden einzigartige geologische und geographische Bedingungen für den politischen und kulturellen Aufschwung vor. Für Humboldt waren dies die entscheidenden Voraussetzungen für die sich seit dem 15. Jahrhundert herausbildende europäische Überlegenheit, bis durch die „Entdeckung“ Amerikas und dessen „Einbeziehung in den abendländischen Wirtschaftsraum das Mediterraneum und die Ostsee als Zivilisationsmotoren entthront“ und „diese Rolle dem Nordatlantik“ übertragen wurden (Dill 2013: 12). Geographie und Geologie bestimmen also die ökonomische und kulturelle Suprematie Europas bis in die Gegenwart. Das ist auch die Schlussfolgerung, die Fernand Braudel aus der „longue durée“ der Geschichte des Mittelmeers ableitet (Braudel 1977; 1990/2001).

Seit der Bildung eines kapitalistischen Welt-Systems im „langen 16. Jahrhundert“ (Fernand Braudel 1986) von der „Entdeckung Amerikas“ 1492 bis zum Westfälischen Frieden 1648 ist die soziale und ökonomische Entwicklung auf „Weltniveau“ gehoben und dann als Industriekapitalismus im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts nochmals beschleunigt worden. Die Wachstumsrate der Weltwirtschaft in den letzten zwei Jahrtausenden sprang von lang dauernder Stagnation („Nullwachstum“) auf 2,2 Prozent pro Kopf und Jahr im Zeitraum von 1820 bis 1998 (Berechnung von Angus Maddison 2001). Das bedeutet eine Verdoppelung des realen pro-Kopf-Einkommens von einer Generation zur nächsten. Das liberale Versprechen der klassischen politischen Ökonomie, den „Wohlstand der Nationen“ zu steigern, war nicht falsch. Die Auswirkungen auf die Kultur der modernen Gesellschaften ist immens, da nun qualitative Vielfalt in quantitative Einförmigkeit und die Ungleichheit der Einkommen, der Vermögen, des Zugriffs auf Ressourcen der Natur und auf militärische und politische Machtpotenziale übersetzt wird. Marktprozesse können nun aus den Bindungen, die soziale Beziehungen oder natürliche Bedingungen unvermeidlich darstellen, „entbettet“ werden – was denn auch, wie Karl Polanyi (1978) herausarbeitet, beim Übergang zur modernen Marktwirtschaft mit ihrer selbstreferentiellen Logik geschieht. Hier befindet sich der Ursprung des Wachstumsfetischismus, der die moderne Welt beherrscht.

Mit der Einbeziehung der „Neuen Welt“ entstand das kapitalistische Weltsystem: mit technischen und organisatorischen Entwicklungen, die die ökonomische Expansion in alle Weltregionen und daher die neo-pangäische Integration unserer Tage erst möglich machten. Der Urkontinent Pangäa, der vor 300 bis 150 Millionen Jahren in die heutigen fünf bzw. (mit der Antarktis) sechs Kontinente auseinander driftete, entsteht neu, nun nicht mehr als geologische, sondern als ökonomische Formation. Das begann bereits mit den Völkerwanderungen vor tausenden von Jahren, wurde mit blühendem Fernhandel z. B. auf der Seidenstraße oder mit der Hanse im Ostseeraum, den großen Entdeckungsreisen der Neuzeit und der Entstehung eines Weltmarkts fortgesetzt und ist bestimmend für die neoliberalen Bestrebungen zur wirtschaftlichen Integration im atlantischen und im pazifischen Becken heutzutage. Dies kann als eine zwar nicht geologische, aber doch als ökonomische Wiederherstellung der Erdkonstellation mit dem alten Superkontinent Pangäa, nun aber nicht infolge einer neuen Kontinentaldrift, sondern mit Hilfe der Ware-Geld- und Kapitalbeziehungen sowie durch die ihnen folgenden Migrationsströme verstanden werden.

G-G‘, die Marx’sche Formel für die fetischhafte Gestalt des prozessierenden Wertes, für die Akkumulation des Geldkapitals, ist eine Weltformel, mit der sogar die Erdsysteme magisch zusammengehalten und geologisch getrennte Kontinente ökonomisch in der kapitalistischen Produktionsweise zusammengeführt werden. Die G-G‘-Formel wird nun aber als TTIP und TPP geschrieben, als Transatlantische und Transpazifische Handels- und Investitionspartnerschaft.

Die neo-pangäische Integration sieht Migration, noch dazu eine trans- und interkontinentale Migration, nicht vor. Zwar hat es Wanderungen von Menschen und Tieren, auch von Pflanzen, deren Ausbreitung sich mit der Verschiebung von Klimagrenzen verändert, in der jüngeren Erd- und Menschheitsgeschichte gegeben, z.B. die Besiedlung des amerikanischen Doppelkontinents von Sibirien aus über die heutige Beringstraße in nord-südlicher Richtung und daher über viele Klimagrenzen hinweg, oder die Völkerwanderungen in Europa und Nordafrika zu Beginn unserer Zeitrechnung, oder die Westwanderung der großen Zivilisationen in gleicher Klimazone von China über den fruchtbaren Halbmond in der Levante bis zum Alexandrinischen und dann dem Römischen Reich in Süd- und Westeuropa (dazu vgl. Diamond 1998, insbesondere: 501ff.). Doch auf die Idee, in die Fremde zu ziehen, sind in den vergangenen Jahrhunderten nur wenige Abenteurer gekommen. Sprachgrenzen, religiöse und kulturelle Verschiedenheit, die geographische Distanz und schlechte Transport- und Kommunikationsverbindungen, logistische Schwierigkeiten der Ernährung während längerer Reisen etc. blieben hinderlich für den Austausch von Menschen, Waren, Informationen. Auch Entdeckungsreisen und Eroberungszüge waren die Ausnahme und nicht die Regel.

Erst seit der Industrialisierung Europas und der dadurch seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verursachten Freisetzung einer von David Ricardo 1817 so bezeichneten „redundant population“ (Überflussbevölkerung), wird die Emigration von mehr als 50 Millionen Menschen in den hundert Jahren von etwa 1820 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs aus Irland, Italien, Spanien, Deutschland etc. in die „neue Welt“ Nordamerikas oder nach Südamerika, Afrika und Australien erzwungen. Meist reichte der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx), manchmal wurde politisch und polizeilich „nachgeholfen“. Auch die kriegerische Verwüstung von Landstrichen hat Menschen immer wieder in die Flucht getrieben. Das hat sich bis heute nur insofern geändert, als die Destruktionsmittel des 21. Jahrhunderts unvergleichlich größer sind als in der bisherigen Geschichte. Flucht und Migration jedenfalls sind nicht eindeutig und einfach zu unterscheiden.

Die Migration in der Neuzeit hat als Emigration die europäische Industrialisierung erleichtert und als Immigration in der „Neuen Welt“ für die qualifizierte „manpower“ gesorgt, die für die ökonomische Entwicklung auf der Entwicklungsbahn der europäischen Weltbeherrschung eine Voraussetzung war und ist. Die Ökonomen würden sagen, dass die Migrationsbewegungen allseits positive externe Effekte mit sich brachten. Das war eine „win-win-Migration“, wenn auch nicht für jeden Beteiligten. Das kann von der heutigen Migration nicht mehr so selbstverständlich gesagt werden. Die einen gewinnen, andere verlieren, und tausende von Migrantinnen und Migranten verlieren sogar ihr Leben. Viele von ihnen im migrationsgünstigen Mittelmeer, das ein Massengrab geworden ist.

Naturprozesse, stoffliche und energetische Transformationen und Wert- und Verwertungsprozesse finden unter kapitalistischen Bedingungen immer zugleich statt. Letztere sind die Treiber der ersteren, die sich als deren natürliche Grenze herausstellen. Nun wird auch erkennbar, warum Karl Marx den Begriff des „Doppelcharakters“ aller ökonomischen Prozesse als „Springpunkt“ der politischen Ökonomie bezeichnet hatte, und warum er sich in seiner Kritik der politischen Ökonomie, wenn auch nur am Rande, für Geologie interessierte (vgl. die „Deutsche Ideologie“, in: MEW Bd. 3: 28; Hundt 2015).

Denn auch die industrielle Revolution hat wegen des Doppelcharakters nicht nur wirtschaftliche, soziale und politische, sondern auch geologische Folgen. Geologen und Geochemiker sprechen von einer neuen erd-historischen Epoche, vom so genannten Anthropozän (vgl. Ehlers 2008). Dieses sollte besser als Kapitalozän bezeichnet werden (dazu Moore 2016; Altvater 2014a und 2014b). Denn es sind die menschlichen Aktivitäten unter kapitalistischen Verhältnissen (in Produktion, Investition, Handel, Migration), die – angeregt durch Gewinnmaximierung – nicht nur die Wirtschaft, die Technik und das Alltagsleben der Menschen, sondern die Geologie der Erde, die Gesteinsschichten der Erdoberfläche und deren Bio- und Atmosphäre ver- und umformen. Die Kontinente, die von dem ursprünglichen Superkontinent Pangäa fortgetrieben wurden, werden im kapitalistischen Weltsystem und infolge der vielfältigen wirtschaftlichen Integrationsanstrengungen wieder zu einem „Neo-Pangäischen“ Superkontinent zusammengefügt. Vereinbarungen wie TTIP sind eine Brücke zwischen den beiden Seiten des Atlantischen Ozeans, TPP ist eine Überbrückung des Pazifik, viele BITs zwischen europäischen, amerikanischen und afrikanischen Ländern überbrücken kontinentale Distanzen. Auch Integrationsprojekte der Schwellenländer wie BRICS ordnen die Geographie und Geologie des kapitalistischen Weltsystems und nicht nur den Markt neu. Ausmaß und Richtung von Migrations- und Fluchtbewegungen werden durch diese historischen Prozesse beeinflusst.

Das ist auch der Beginn der Spannung zwischen globaler Ökonomie und nationalstaatlicher Politik. StaatsbürgerInnen können sich auch als ökonomische Charaktere, als Arbeitskräfte aus ihrem goldenen Vlies der Staatsbürgerschaft nicht ganz befreien, wie die Tragödien der Fluchtbewegungen oder die „Renationalisierung“ der Europäischen Union im Zuge der je nationalstaatlichen Abwehr von Flüchtlingen und Migranten und Migrantinnen mit NATO-Draht und Grenzpolizei heute zeigen.

3 Die hierarchische Ordnung entbetteter Märkte

Die Ausdehnung entbetteter Märkte bedeutet keineswegs die Befreiung („Liberalisierung“) aus ökonomischen Sachzwängen. Es handelt sich vielmehr um einen Prozess, der von dem Ökonomie-Nobelpreisträger Jan Tinbergen in den 1950er Jahren als „negative Integration“ bezeichnet worden ist. Dieser Begriff ist nicht normativ, sondern analytisch auf ein Integrationsprojekt bezogen, das vor allem auf die Liberalisierung der Märkte durch den Abbau von Grenzen und die Deregulierung politischer Regeln zielt.

Es war der „Papst des Neoliberalismus“ F. A. von Hayek, der in seinem Buch über „Den Weg in die Knechtschaft“ am Ende des Zweiten Weltkriegs den zynischen Vorschlag der Unumkehrbarkeit von Deregulierung und Liberalisierung auf nationaler Ebene durch Bindung an einen internationalen Vertrag gemacht hatte (Hayek 1944). Das sollte eine wirksame Waffe im „Kalten Krieg“ gegen die politische Linke in der westlichen Welt sein, die die Sozialisierung von Produktionsmitteln in ihrem Programm hatte. Keine nationale Regierung sollte die rechtliche Befugnis und politische Legitimation besitzen, um die einmal in Gang gesetzte Deregulierung in der Politik, die Liberalisierung von Märkten und die Privatisierung des Eigentums rückgängig zu machen. Eine linke Regierung hat daher in der Tat keine Chance, eine Alternative zu realisieren, sie hat „die Regeln des Spiels“ der negativen Integration zu akzeptieren. Dies ist eine Lektion, die noch heute der griechischen Syriza-Regierung von der Troika eingebläut wird.

Inzwischen hat es das Hayek-Projekt der Blockade von Alternativen auf die europäische Ebene geschafft. Nach einem halben Jahrhundert der politischen Deregulierung und wirtschaftlichen Liberalisierung sind die Märkte im Wirtschaftsraum der EU so frei wie nie zuvor in der Geschichte – und die großen Marktteilnehmer, Industriekonzerne oder Finanzinstitute, sind mächtiger als je zuvor. Die Märkte sind nicht nur frei, sie sind aus gesellschaftlichen Bindungen und aus natürlichen Bedingungen, wie Karl Polanyi über die „Great Transformation“ im 18. Und 19. Jahrhundert geschrieben hatte, „entbettet“. Daher sind die Arbeiterbewegung und ihre Gewerkschaften so schwach wie nie. Formell regulierte Beschäftigung ist rückläufig; informelle und prekäre Arbeit ist auf dem Vormarsch. Die Ungleichheit zwischen den Klassen und zwischen arm und reich wird größer, wie eine IMF-Studie aus dem Jahre 2015 (www.imf.org/external/pubs/ft/fandd/2015/03/jaumotte.htm) oder ein Bericht von Oxfam aus dem Jahr 2016 (https://www.oxfam.de/system/files/bp210-economy-one-percent-tax-havens-180116-embargo-en.pdf) erneut bestätigen. Danach hatten nur 62 Menschen so viel Vermögen wie die ärmeren 3,5 Milliarden Menschen. Eine soziale und demokratische Alternative zum negativ integrierten Europa und eine Korrektur der Verteilung des „Wohlstands der Nationen“ haben in Hayeks TINA-Welt der Alternativlosigkeit keine Chance, auch wenn der Skandal der Ungleichheit zum Himmel schreit.

Die Folgen von Liberalisierung und Deregulierung sind weitreichend. Handelsbeziehungen und Investitionsströme sind in den letzten Jahrzehnten sprunghaft angestiegen. Dazu haben auch verringerte Transaktionskosten beigetragen. Der intensivierte Wettbewerb hat zur Folge, dass technische Produkt-Normen angeglichen, rechtliche Regelungen vereinheitlicht, Moden und Stile assimiliert werden. Tarifäre und nicht-tarifäre Handelshemmnisse sind weitgehend vom Weltmarkt verschwunden. Besonders folgenreich aber sind die Angleichung der Lohnstückkosten der Produktion und deren gemeinsamer Abwärtstrend wegen des Produktivitätsfortschritts und der auf hoch-integrierten Märkten verschärften Konkurrenz. Das ist günstig für die Konsumenten, die alle Produkte wegen der gestiegenen Produktivität billiger bekommen können. Das ist ungünstig für die Lohnabhängigen, weil Jobs wegfallen und Druck auf Löhne und Gehälter ausgeübt werden kann, ceteris paribus versteht sich. Alle diese Tendenzen zusammen genommen sind für die immer extremer werdende Ungleichheit verantwortlich.

Nun zeigt es sich, dass Märkte zwar aus Gesellschaft und Naturverhältnissen entbettet sind. Sie bilden dabei eine Hierarchie. An deren Spitze befinden sich seit dem Ende des Fixkurssystems von Bretton Woods 1973 und dem „Big Bang“ der Liberalisierung der Finanzmärkte unter Margret Thatcher und Ronald Reagan seit 1983 die Finanz- und Währungsmärkte. Dort werden die Zinsen und Wechselkurse durch private Akteure, durch international operierende große Banken und Fonds mit ihrem Anhang von Anwälten, Beratern und Rating-Agenturen und – in geringerem Umfang – durch nationale Regierungen, Zentralbanken oder internationale Finanzinstitutionen wie IWF oder Weltbank gebildet. Zinsen und Wechselkurse haben für Investitionsentscheidungen und damit auch für Produktion, Standortwahl und Beschäftigung, also für die Lebensverhältnisse der Mehrheit der Menschen auf Erden, zentralen Stellenwert.

In der Hierarchie folgen dann die Märkte für Waren und Dienstleistungen. Dort werden die Produktpreise gebildet, insbesondere die für die Wirtschaftsentwicklung in der modernen Welt entscheidenden Energie- und Rohstoffpreise (von fossilen Brennstoffen, strategischen Rohstoffen, Strom). Auch hier sind die wichtigsten Akteure private, meist große transnationale Konzerne. Am unteren Ende der Hierarchie befinden sich die Arbeitsmärkte, wo Beschäftigung (und Arbeitslosigkeit) bestimmt werden, aber auch das Ausmaß und die Tendenz der Prekarisierung (und Informalisierung) der Beschäftigung einschließlich der Lohnbildung. Es gibt einen entscheidenden Unterschied zu den anderen erwähnten Märkten: Sozialsysteme und Sozialstaat sind selbst in der hochintegrierten EU noch national begrenzt und daher nicht so europäisiert oder globalisiert wie die Finanz- und Produktmärkte.

Das ist der Grund dafür, dass das Wertgesetz, das die Märkte bei Wert- und Preisbildung reguliert, das also den Gang der Akkumulation des Kapitals bestimmt, auf dem Weltmarkt nur auf modifizierte Weise funktioniert. Marx beschäftigt sich mit den daraus folgenden Fragen im 20.Kapitel des ersten Bandes des „Kapital“ (MEW Bd. 23: 583 - 590) über die „nationale Verschiedenheit der Arbeitslöhne“. Was sich in nationalen Gesellschaften im zeitlichen Verlauf nacheinander ändert und den Produktivitätsfortschritt ermöglicht, existiert auf dem Weltmarkt als „Verschiedenheit der Arbeitslöhne“ und der Arbeitsbedingungen zeitgleich nebeneinander. Der Wettbewerb wird stimuliert und die Wirkung des Wertgesetzes müsste zu einem Ausgleich der Unterschiede beitragen. Doch genau dies passiert nicht, die Tendenz aller ökonomischen Größen in die Richtung eines Durchschnitts – mit Tendenz nach unten – kommt nur unzureichend zustande. Denn „die Staatseinmischung hat… das naturgemäße ökonomische Verhältnis verfälscht.“ (MEW 23: 587) So interpretiert Marx den liberalen Ökonomen Henry Charles Carey. Marx setzt sich mit diesem durch den Nationalstaat verfälschten ökonomischen Verhältnis auseinander und verweist erstens auf die Geldform der Werte, die in der internationalen Konkurrenz angeglichen werden. Zweitens bleiben die Lohnstückkosten unterschiedlich wegen unterschiedlicher Produktivität und unterschiedlicher Arbeitsbedingungen und -kosten am „Standort“. So bildet sich zwar eine „Durchschnittseinheit der universellen Arbeit“ (MEW 23: 584), die aber letztlich durch das ökonomische und politische „Gewicht“ des jeweiligen „Standorts“ beeinflusst wird. Drittens entstehen, wenn die Unterschiede zum Durchschnitt zu groß werden, Kräfte von Attraktion und Repulsion (Pull- und Push-Tendenzen), die nicht nur auf Finanz- und Gütermärkten wirken, sondern auch die Arbeitsmärkte erfassen.

Die negative Integration entbetteter Märkte in der Welt von Ware und Geld mag zu gesteigerten Profiten führen, wie David Ricardo versprochen hat, auf dem Arbeitsmarkt aber werden dadurch Migrationstendenzen ausgelöst. Globalisierte Märkte für Waren, Kapital und Dienstleistungen sind grenzenlos und frei, während die Migration von Menschen reglementiert und mit Grenzzäunen eingedämmt wird. Die Ideologie der freien, grenzenlosen Kapital- und Warenmärkte zusammen mit der Idee der homogenen ethnischen Nation und koloniales und rassistisches Denken existieren nebeneinander und rechtfertigen und verteidigen die Grenzlinien zwischen Europa an den Nordufern des Mittelmeers und dem „außen“, das geographisch entlang der südlichen Mittelmeerküsten beginnt und sich geistig in den Köpfen der Menschen festsetzt. All dies findet seinen politischen Ausdruck in den jüngsten Änderungen der europäischen Asylpolitik, in der polizeilichen und militärischen Verteidigung der europäischen Grenzen, im Wachstum der rechten Bewegungen überall in der EU.

Finanz-, Waren- und Rohstoffmärkte sind immer offener und TTIP soll dies noch transatlantisch forcieren, während Arbeitsmärkte gegen Migranten abgeschottet werden. Die EU reagiert auf die wachsende Zahl von Flüchtlingen durch Militarisierung der Außengrenzen (Frontex). In den politischen Diskursen ist das größte Problem jedoch nicht die humanitäre Katastrophe vor der Haustür der EU, sondern die „ungleiche Belastung“ der Mitgliedsländer der EU mit den Kosten von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten.

Die Rechtfertigung der europäischen Politiker für die Tragödie an den Grenzen der EU ist, dass die Flüchtlinge meist „Wirtschaftsflüchtlinge“ seien, die „das Grundrecht auf Asyl missbrauchen“. So sprachen bayerische Politiker oder der ungarische Rechtsextremist Premierminister Orbán. Sie argumentieren explizit, dass die Europäische Union nichts mit den Fluchtursachen zu tun hat. Sehr oft zwingt die Art und Weise der Arbeitsmarktregulierung Arbeitsuchende in illegale oder informelle Formen der Beschäftigung. Das ist für Arbeitgeber lohnend und es ist zusätzliche Ausbeutung der Arbeitnehmer. Die Migrationsgesetzgebung wurde in vielen Ländern in den letzten Jahren geändert, wie die OECD im „international Migration Outlook 2015“[1] explizit erklärt: Facharbeiter sind erwünscht, „aber die Länder wählen schärfer aus“, „Investoren und Unternehmer sind begehrt, doch werden sie immer genauer geprüft“. Während einige Einwanderungsverfahren für Familien gelockert werden, geht der allgemeine Trend in Richtung von Maßnahmen zur Stärkung der Grenzkontrollen, zur Förderung der ‚freiwilligen‘ Rückkehr und zum Kampf gegen illegale Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte. Der Umgang mit der Flüchtlingswelle seit 2015 in der Europäischen Union zeigt die Fratze von Hartherzigkeit, Borniertheit und antidemokratischer Repression.

Daher ist die negative Integration entbetteter Märkte prinzipiell unvollständig. Artikel VIII der römischen Verträge von 1956 begründet die vier Grundfreiheiten: (1) die Freiheit der Kapitaltransfers, (2) die Freiheit des Handels von Gütern, (3) die der Dienstleistungen und (4) die Freizügigkeit von Personen, d. h. auch von Arbeitnehmern innerhalb der EU. Auf Finanz-, Waren- und Dienstleitungsmärkten sind Grenzen in einer Reihe von Integrationsschritten schon bis Anfang der 1980er Jahre in der EU demontiert worden. Die EU hat zwar ernsthafte Bemühungen unternommen, die freie Bewegung von Personen (durch Schaffung des „Schengen-Raums“ seit 1985 und der Dublin-II-Regeln) zu erleichtern. Aber als die Zahl der Flüchtlinge 2015 dramatisch anstieg, wurden in Europa neue Mauern und Zäune aus NATO-Stachel- oder Rasierklingendraht und Flüchtlingslager errichtet, wo humanitäre Mindeststandards sehr oft nicht gelten und eine neo-nationalistische, chauvinistische Stimmung gemacht wird. Die EU, die 2012 den Friedensnobelpreis erhalten hat, erweist sich beim Umgang mit Flüchtlingen als ein Kontinent der Schande, so dass inzwischen selbst konservative EU-Vertreter über das Merkel-Wort von der „EU als Wertegemeinschaft“ nur bitter lachen können.

Außerdem wird von den in Europa fast überall herrschenden Neoliberalen das Regelwerk der Freizügigkeit im Schengenraum in Frage gestellt, sobald es in Anspruch genommen wird. Warum waren die Liberalisierung und Deregulierung an Finanz- und Warenmärkten mehr oder weniger erfolgreich, am Arbeitsmarkt aber nicht? Warum ist das Projekt der negativen Integration in der „Flüchtlingskrise“ gefährdet?

Wachstum hat, so die These, eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der europäischen Bürgerinnen und Bürger gebracht. Die 30 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs werden in Deutschland als „Wirtschaftswunder“ und in Frankreich als „Les trente Glorieuses“ gepriesen. Erst seit den 1970er Jahren kam der neue Diskurs über die „Kosten des Wachstums“ und die „Grenzen des Wachstums“ auf. Man musste sich des Doppelcharakters ökonomischer Prozesse erinnern: Das Wachstum der Werte in der Ökonomie verändert durch Stoff- und Energieverbrauch, durch Schadstoffemissionen und Eingriffe in die Evolution des Lebens die Natur, und diese Eingriffe selbst unterliegen den Naturgesetzen der Entropiesteigerung in der nicht-lebendigen und der Evolution des Lebens in der lebendigen Natur. Der Habenseite der Wachstumsbilanz in Gestalt des steigenden Bruttoinlandsprodukts musste nun auch die Sollseite der „social costs of private enterprise“ (Kapp 1950/ 58) gegengerechnet werden.

Aber nicht nur dies. Unternehmen der EU wurden in den wilden Jahren des schnellen Wachstums und der europäischen Integration Bestandteile globaler Warenketten und nach der neoliberalen Deregulierung seit den 1970er Jahren mehr und mehr abhängig von globalen Finanzmärkten. Die wirtschaftlichen Wachstumsraten gingen zurück. Die politischen Eliten in der EU ebenso wie in den USA und in Kanada hoffen, dass die historische Erschöpfung des Wachstumspotenzials durch die weitere Marktintegration gestoppt werden könnte. Wirtschaftliche Integration wird jetzt nicht mehr als Folge des Wirtschaftswachstums verstanden, sondern umgekehrt als seine Voraussetzung. Wirtschaftliche Forschungsinstitute berechnen Gewinne aus dem transatlantischen Integrationsprojekt TTIP in der Größe von mehreren 100 Milliarden Euro. Das Versprechen des höheren Wachstums durch transatlantisch und transpazifisch ausgreifende Integration der Wirtschaftsräume ist ideologisch aufgeladen, die Wachstumsraten und Wohlstandsgewinne sind absurd überschätzt. Deshalb werden keine Zahlen präsentiert.

Es ist eine keynesianische Idee, wirtschaftliche Dynamik durch Stimulierung der Nachfrage zu erhöhen. Diese Idee wird eklektisch mit ökonometrischen Berechnungen und neoliberalen Verheißungen von Wachstumsimpulsen durch negative Marktintegration, d.h. mit einem anti-keynesianischen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft in Verbindung gebracht. Die europäische Integration erhält nun Impulse aus der Rückkehr zu nicht nur freien, sondern zu entbetteten Märkten ohne den in sozialen Auseinandersetzungen erkämpften Respekt für soziale und ökologische Regeln. Die von Polanyi analysierte „Gegenbewegung“ gegen die Entbettung aus der Gesellschaft, gegen den Abbau von sozialem Schutz von Arbeit und Natur, wird in einem Projekt der „Bastard-Integration“ mit keynesianischer Nachfragesteigerung und neoliberalem Sozialabbau mit dem alles überwölbenden Ziel der Profitsteigerung gestoppt. Die dann unvermeidliche Steigerung der Ungleichheit wird billigend, wenn auch mit Krokodilstränen, in Kauf genommen.

Denn entbettete, deregulierte Weltmärkte sind hoch profitable Märkte für das Kapital. Das war schon David Ricardos Begründung des Freihandels vor fast 200 Jahren: „Es war mein Bestreben… zu zeigen, daß die Profitrate niemals anders als durch eine Senkung der Löhne erhöht werden kann und daß eine dauernde Senkung der Löhne nur durch ein Sinken der lebenswichtigen Güter, für welche die Löhne verausgabt werden, eintritt. Wenn daher durch die Ausdehnung des auswärtigen Handels oder durch Verbesserungen der Maschinerie die Nahrungsmittel und die anderen lebensnotwendigen Güter des Arbeiters zu einem niedrigeren Preis auf den Markt gebracht werden können, wird der Profit steigen…” (Ricardo 1817/ 1959: 119) Zu Ricardos Zeit konnten Grundnahrungsmittel wie Getreide mit Hilfe des Außenhandels (z. B. mit Irland und den Kolonien in Nordamerika oder mit dem zaristischen Russland) in Großbritannien billiger und die Reproduktionskosten der britischen Arbeitskraft daher gesenkt werden. Die Profite des Kapitals konnten steigen und die kapitalistische Akkumulation und wirtschaftliches Wachstum wurden so beflügelt. In Irland hatte dies Hungersnöte und eine Massenauswanderung in die „Neue Welt“ zur Folge.

Allerdings ist heute die Situation eine andere als zu Beginn des 19. Jahrhunderts, denn es gibt viele Hightech-Industriewaren wie Autos, elektrische Haushaltsgeräte oder Elektronik für die Teilnahme an der digitalen Welt, die in den Korb der unverzichtbaren Lohnwaren (in den entwickelteren Ländern) gehören. Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass es bei der Marktintegration heute nicht nur um eine Handels-, sondern auch um eine Investitionspartnerschaft geht. Bei TTIP werden also nicht nur transatlantische Warenketten von Handelsunternehmen in der Zirkulation von Kapital gebunden, sondern industrielle Produktionsunternehmen, extraktive Unternehmen und Finanzinstitute. Die Entbettung aus Regulationsräumen ist jetzt nicht nur eine Maßnahme auf Märkten für Waren und Dienstleistungen, sondern auch ein Prozess an den unterschiedlichen Produktionsstätten, an den Standorten im globalen System. Weniger entwickelte Volkswirtschaften können in solch einem Integrationsprojekt nicht als gleichberechtigte Partner mithalten. Sie verfügen nicht über High-Tech-Produktionsstätten und diversifizierte Handelsplattformen. Auch qualifizierte Arbeitskräfte fehlen häufig ebenso wie Technologie und Infrastruktur, eine effiziente Verwaltung und nicht zuletzt eine diversifizierte Finanzindustrie. Es sind also die entwickelten Marktwirtschaften, die die komparativen Vorteile des freien Handels ernten. Weniger entwickelte Volkswirtschaften geraten ins Hintertreffen.

David Ricardo und ebenso John M. Keynes haben in ihren ökonomischen Schriften immer für eine Liberalisierung des Handels von Waren und Dienstleistungen und gegen die Liberalisierung der Finanzmärkte argumentiert. Die Hierarchie der freien Märkte hat nämlich zur Folge, dass bei der Liberalisierung der Finanzmärkte Anpassungen auf Güter- und Arbeitsmärkten erzwungen werden, die für die betroffenen Gesellschaften schwere Verwerfungen mit sich bringen. Dies ist einer der Gründe, warum die Verhandlungen über TTIP oder TPP exklusiv, nicht transparent, ohne Beteiligung der Öffentlichkeit und demokratische Kontrolle geführt werden. Die nachteiligen Nebeneffekte des profitablen Handels werden der Öffentlichkeit vorenthalten. Freilich kann der Bogen dieses post-demokratischen Tuns so überspannt werden, dass selbst konservative Parlamentarier wie der deutsche Bundestagspräsident Lammert gegen die TTIP-Verhandlungen aufbegehren, zu deren Dokumenten selbst Bundestagsabgeordneten der Zugang verwehrt wird.

4 Das Scheitern der negativen Integration

Die Forcierung der negativen Integration von Märkten soll also das Wachstum beschleunigen, beschleunigt werden aber auch die soziale Desintegration durch Weitung der Kluft zwischen arm und reich und die Zuspitzung der Umweltkrise. Das sind Push-Faktoren der Migration und daher ist es kein Wunder, dass sich die Migrationsströme ausweiten. Zugleich hat die Liberalisierung der Finanzmärkte seit den 1970er Jahren viele Länder in schwere Schuldenkrisen gestürzt und deren nationale Souveränität untergraben. Das ist nicht einzigartig in der jüngeren Geschichte. In den 1870er Jahren geriet Tunesien in einen Staatsbankrott und in dessen Folge unter die Kuratel einer britisch-französisch-italienischen Finanzkommission. Tunesien endete als französisches Protektorat. Ähnliches geschah dem Osmanischen Reich und Ägypten. In der jüngeren Vergangenheit hat die Zahl der Austerity-Opfer noch zugenommen. Das aktuellste Beispiel für die Folgen der Verschuldung und für die Austerity-Auflagen nach dem Muster des „Konsenses von Washington“, ein Regelwerk, mit dem in den 1980er Jahren den Schuldnern der „Dritten Welt“ der Schuldendienst abgepresst wurde, ist Griechenland. Der finanzielle und politische Druck auf das Land hat Wirtschaftsstrukturen vernichtet, die Sozialstruktur und politische Demokratie schwer beschädigt, Menschen krank gemacht bzw. die Heilung von Krankheiten verteuert und daher zu häufig verhindert. Die Verschuldung blockiert in vielen Weltregionen die wirtschaftliche Entwicklung. Mit Krediten wird – anders als die Bretton-Woods-Institutionen und ihre neoliberalen Ideologen immer noch kontrafaktisch versprechen – kein Wachstum finanziert, sondern Armut und Abhängigkeit erzeugt.

Kreditbeziehungen spalten die Welt, denn sie haben unterschiedliche Konsequenzen für Schuldner und Gläubiger. Sind die monetären Forderungen der Gläubiger Geldvermögen, das nach der Verbriefung auf globalen Finanzmärkten in Gestalt von Wertpapieren gehandelt werden kann und das seinen Besitzern Forderungen an Schuldner sichert, die diese erfüllen müssen, werden Schulden zu lästigen Verpflichtungen, die immer wieder die Zahlungsfähigkeit von Schuldnern übersteigen. Während die Forderungen monetäre Ansprüche sind, müssen die Schuldendienstleistungen real erarbeitet werden. Denn Geldvermögensbesitzer werden sich nicht mit wertlosen, aus dem Nichts geschaffenen („originierten“) Papieren zufrieden geben. Real können die Leistungen aber nur „vor Ort“ erbracht werden, aus einem Überschuss, produziert vom Schuldner, der von dem Gläubiger angeeignet werden kann. Das funktioniert nur durch Vermittlung des jeweiligen Nationalstaats, der die Schulden übernehmen muss und für den Schuldendienst an private Gläubiger gerade steht. Wenn es denn funktioniert, ist die skandalös zunehmende Ungleichverteilung, wie sie in den zitierten Reports dargelegt wird, die unvermeidliche Folge.

Das integrierte Europa wird also infolge der Nationalisierung von Schulden und Schuldendienst zu einer Verschiebung des politischen Gewichts zu Gunsten der Nationalstaaten gezwungen. Die Finanzkrise erfasst nun auch die Gemeinschaftswährung Euro, weil die Europäische Gemeinschaft als ein negatives Integrationsprojekt keine Reserven für die Bewältigung der Krise besitzt. Für den Schuldendienst müssen die Nationalstaaten aufkommen, nicht die EU. Fortschritte der Europäischen Integration und bei der Überwindung der Krise können nicht mehr auf dem Weg der negativen Integration erreicht werden, sondern nur noch mit einem Spurwechsel auf die Bahn der positiven Integration. Der griechische Fall zeigt dies auf dramatische Weise. Ein souveränes Land mit einer Bevölkerung von etwa11 Millionen Menschen wird von den europäischen Partnern (von „Brüdern und Schwestern“) ins Elend gestoßen, weil die Hausordnung des „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ Unterstützungszahlungen an überschuldete Länder nicht vorsieht.

Die negative Integration durch Entbettung der Märkte, Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung mündet in wirtschaftlicher Not, in sozialer Desintegration und nationalistischen Denkmustern, die sich mit neoliberaler Marktoffenheit mischen. Das Resultat sind die schon von Karl Polanyi in seiner Studie über die Entbettungsprozesse von Märkten kritisierte Verwandlung des freien Marktes in eine „Satansmühle“, die gesellschaftlichen Zusammenhalt zerstört und in Verbindung mit den Renationalisierungstendenzen hinter geschlossenen Grenzen nationalistische Ideenwelten in Verbindung mit xenophobischer Abschottung fördert. Es wird dann immer schwieriger, Flüchtlinge zu akzeptieren, ihnen Asyl zu gewähren und gleichzeitig die Ursachen für die „nicht normalen“ Migrationen zu bekämpfen.

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