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Die Linke, die Nation und der nationalistische Rechtspopulismus

Überlegungen im Anschluss an Peter Wahl „Wie nationalistisch ist der Nationalstaat?" (Z 112)

von Kai Wagner
März 2018

Das Thema Nation, Nationalstaat und Nationalismus schmeckt der deutschen Linken nicht. Von der deutschen Nation möchte man nichts mehr wissen, eine Rückkehr zu mehr Nationalstaat erscheint als Sackgasse und Nationalismus gilt als intrinsisch reaktionär. So weit, so gut. Die Sache ist aber nicht so einfach. Eine neue Rechte hat sich weltweit etabliert und inszeniert sich mit dem Ziel, Staat und Nation wieder stark zu machen, als Gegenbewegung zu einer heillos gewordenen Globalisierung, womit sie die antikapitalistische Globalisierungskritik der Linken aufgreift, sie aber nationalistisch verkehrt und politisch in die Irre führt. Supranationale Strukturen und Institutionen wie sie in der EU geschaffen wurden oder in Vertragswerken wie TTIP vorgesehen sind, brechen die Souveränität des Nationalstaats und hebeln die Demokratie aus, so dass die Frage, ob der Nationalstaat ein Bollwerk gegen Übergriffe des internationalen Kapitals darstellen kann, unabweisbar wird, zumal die Instrumente zur Demokratisierung nur im nationalen Rahmen wirksam sind, während sie transnational bislang entweder fehlen oder versagen.

Begrüßenswert ist daher Peter Wahls Unterfangen, „das Diskursfeld Nation etwas näher beleuchten – in der Hoffnung, damit zu einer Versachlichung der Diskussion innerhalb der Linken beitragen zu können“ (Wahl: 62). Allerdings wird Wahl seinem Anspruch nicht völlig gerecht, denn sein Text teilt eine Schwäche, die der Diskussion dieses Themenfeldes in der Linken insgesamt eigen scheint: Es fehlt eine Bezugnahme zur Forschung in Sachen Nation und Nationalismus. Die einschlägigen Publikationen sind mittlerweile unüberschaubar und die vertretenen Positionen heterogen und widersprüchlich, in den 1980er Jahren aber ist eine Vielzahl von fundamentalen Arbeiten erschienen, die in der Folge die Diskussion angeregt und geprägt haben. Aus marxistischer Sicht sind zumindest die unter „Modernismus“ rubrizierten Texte von Benedict Anderson (1983), Ernest Gellner (1983) und insbesondere Eric Hobsbawm (1983) unverzichtbar, die die historische Genese von Nation und ihren Charakter als Konstruktion hervorheben. Das Verständnis von Nation und Nationalismus ist von grundlegender Bedeutung und infolgedessen führen die unterschiedlichen Interpretationen zu ganz unterschiedlichen Folgerungen und Konsequenzen für die praktische Politik.

Es geht mir in diesem Text zunächst darum, unter Verwendung von Gedanken der „Modernisten“ eine Interpretation von Nation und Nationalismus zu skizzieren, die einerseits aus marxistischer Perspektive valide erscheint, andererseits auf den politischen Charakter dieser Begriffe fokussiert. Diese Herangehensweise erhebt nicht den Anspruch, einen „wahren“ Begriff von Nation und Nationalismus gegen einen „unwahren“ abzusetzen, sondern eine Perspektive zu eröffnen, die die politische Dimension in den Vordergrund stellt. Andere Begriffe von Nation und Nationalismus, die etwa sozialpsychologische, zivilisationshistorische, ethnologische, anthropologische, ideengeschichtliche usw. Aspekte betonen, sind möglich, haben durchaus Anspruch auf Gültigkeit und tragen zur Erhellung des Themas bei, bleiben hier aber außen vor. Gegen die „Modernisten“ merkt Anthony D. Smith an, dass generalisierende Erklärungsversuche wenig überzeugend[1] sind und dass vielmehr jede Entwicklung aus ihrem konkreten historischen Kontext heraus zu beurteilen ist und ihrer eigenen Logik folgt. Smith strebt mit seinem ethno-symbolistischen Ansatz ein umfassenderes Verständnis von Nation und Nationalismus an, das auch vormoderne Formen umfasst, und in der Tat kann man auch Assyrien, das Inka-Reich oder das alte Ägypten als Nation begreifen. Aus Smith’ Konzept ist aber die politische Dimension des Nationalismus, das Verhältnis zum Staat und die Abgrenzung gegen andere Gruppen nicht zu entwickeln. Ich beschränke mich daher auf eine idealtypische Herleitung von Nation und Nationalismus im Übergangsfeld Feudalismus – Kapitalismus im Zeitraum zwischen der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 und der Bismarckschen Reichsverfassung von 1871 und grenze demgegenüber den heutigen Nationalismus ab, der eine existierende Nation voraussetzt.

1. Geschichtlicher Charakter der Nation

Peter Wahl stellt bei der Definition des Begriffs der Nation richtig fest: „Sie sind historisch entstanden, haben sich historisch verändert und verändern sich auch in Zukunft“ (Wahl: 63). Er nimmt dann aber nicht mehr Bezug auf den geschichtlichen Charakter der Nation, sondern definiert dann Nation gleichsam substanzhaft „als die Verdichtung kommunikativer Prozesse und kultureller Gemeinsamkeiten einer größeren Menschengruppe oder eines gesellschaftlichen Großkollektivs, in der Regel mit einer gemeinsamen Sprache, kollektiven historischen Erfahrungen und einer entsprechenden Selbstwahrnehmung und Selbstdeutung, als kollektive Identität.“ (Wahl: 63). Diese Definition sagt zu wenig und zu viel zugleich. Zu wenig, weil das Spezifische an Nation darin nicht zum Ausdruck kommt, denn auch Gruppen, die keine Nationen sind, können kollektive Identität besitzen. Zuviel, weil selbst die geforderten Eigenschaften nicht immer vorhanden sind, wie das Beispiel der Entstehung der USA 1776 – 1815 zeigt. Zwar war das Projekt „Amerikanische Nation“ eine Sache der reichen englischen Eliten und es verlief keineswegs reibungslos, aber es ist gelungen, eine völlig heterogene Menschengruppe zu einer bis heute erstaunlich stabilen Nation zu verbinden. Dreizehn auf einem Mindestmaß an Eigenständigkeit beharrende Kolonien mit Menschen unterschiedlicher Kultur, verschiedenen Sprachen, unterschiedlicher Religion, ethnischer Herkunft und unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit werden in diesem Prozess trotz starker Klassengegensätze und Betonung von Besitz, Individualismus und Gewalt zu einer Gemeinschaft verschmolzen, in der freilich indigene Bewohner des Landes, Schwarze und Frauen keine Rolle spielen. Die Schwierigkeit, Nation zu definieren, liegt in der Sache selbst. Max Weber benennt die Problematik des Begriffs, die für ihn in der empirischen Uneindeutigkeit liegt: „’Nation’ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an.“ (Weber: 527). Selbstbezüglichkeit innerhalb einer Gruppe scheint also ein Minimalkriterium. Nation ist für Benedict Anderson (1983) eine „imagined community“. Diesen Begriff übernimmt Eric Hobsbawm in seiner Geschichte des Nationalismus in Europa und stellt fest, dass unter den üblicherweise in Anschlag gebrachten Merkmalen für eine Definition von Nation wie Kultur, Religion, Sprache, Territorium oder Volkszugehörigkeit keines eine wesentliche Bestimmung darstellt. Er zeigt, dass Nation und Nationalismus nur in ihrem jeweiligen historischen Zusammenhang zu verstehen sind. Im Widerspruch zu Hobsbawm[2] geht Nation im Verständnis von Wahl dem Nationalstaat logisch und materiell voraus: „Schafft eine Nation sich eigene Staatlichkeit, entsteht ein Nationalstaat.“ (Wahl: 64). Der Kapitalismus ist dieser Entwicklung äußerlich, er findet den Nationalstaat vor, der sich dann als „als der effizientere Rahmen für die kapitalistische Akkumulation (erwies)“ (Wahl: 64). Diese Entstehungslogik von Nation und Nationalstaat stellt die tatsächliche geschichtliche Entwicklung auf den Kopf.

Feudalistische Gesellschaften orientieren sich wenig an kulturellen Gemeinsamkeiten der in ihnen zusammengefassten Menschen, bestenfalls erzeugen sie sie. In der Regel sind sie jedoch gegenüber regionalen, kulturellen, sprachlichen, religiösen und anderen Eigenarten der Untertanen indifferent, wie Ernest Gellner gezeigt hat.

Damit sind dann auch Wahls Ableitungen von „nationaler Identität“ als „Verdichtung der Kommunikation innerhalb des Nationalstaats…“ und Nationalismus nicht mehr haltbar. Nationale Identität setzt bei Wahl den Nationalstaat bereits voraus, während der Nationalismus als ein Umschlag der nationalen Identität als einer passiven Struktur in eine aktive politische Haltung hervorgeht, sobald die nationale Identität als bedroht oder in Frage gestellt erscheint.

2. Nationen und Kapitalismus

Hobsbawm lässt seine Geschichte der Nationen und des Nationalismus mit dem Jahr 1780 beginnen, denn Nationen seien ein geschichtlich neues Phänomen, dessen Entstehung im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Kapitalismus betrachtet werden müsse. In welcher Verbindung stehen Nation, Nationalstaat, Nationalismus und Kapitalismus? Im Feudalismus gehen Ausbeutungsverhältnis und Herrschaftsverhältnis Hand in Hand, das eine erscheint im anderen. Die Interessen von Untertan und Herrscher sind im Widerstreit, dieser Widerstreit ist offenkundig. Im arbeitsteiligen Kapitalismus ändern sich die Dinge. Das Herrschaftsverhältnis, das in der Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln begründet ist, ist in den Voraussetzungen der Produktionsweise verschwunden, während das Ausbeutungsverhältnis im Doppelcharakter der Arbeitskraft verborgen ist. Die Auswirkungen von Herrschaft und Ausbeutung sind zwar sichtbar, etwa an der Reichtumsverteilung, die Ursachen sind aber nur der Reflexion zugänglich. Arbeiter und Kapitalist begegnen einander als freie und gleichberechtigte Marktteilnehmer, die beide in ihrer Rolle als Warenbesitzer, Käufer wie Verkäufer, einen optimalen Tausch anstreben. Das bleibende Reproduktionsinteresse des Arbeiters zwingt ihn, seine Arbeitskraft immer wieder zum Kauf anzubieten. Er ist davon abhängig, dass seine Arbeitskraft Gebrauchswert für andere, Wert, erzeugt. Nur dann hat der Erwerb der Arbeitskraft für den Kapitalisten Sinn, nur dann hat dieser die Möglichkeit, den in der hergestellten Ware vergegenständlichten Wert auf dem Markt zum Tauschwert zu erlösen. Beide, Kapitalist wie Arbeiter, teilen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise das Interesse, den Zyklus von Produktion und Zirkulation, die Verwertung von Wert, erfolgreich abzuschließen. Der gleichzeitige Interessengegensatz von Arbeiter und Kapitalist in seiner antagonistischen Dimension transzendiert die Produktionsweise, bleibt aber verborgen, während er in seiner nicht-antagonistischen Dimension sich auf den bloßen Interessengegensatz der auf dem Markt tauschenden Warenbesitzer beschränkt. Diese Grundkonstellation erzeugt den realen Schein der Gleichheit der Interessen von Kapitalist und Arbeiter, den realen Schein der Gemeinschaft der im kapitalistischen Produktionsprozess miteinander verbundenen Individuen mit ihrem gemeinsamen Ziel der erfolgreichen Verwertung von Wert. Für die praktische Durchsetzung als neue dominante Produktionsweise braucht der Kapitalismus eine Vielzahl von Bedingungen, die nach und nach geschaffen werden müssen: Verfügbarkeit und Mobilität von Arbeitskraft durch Herauslösen aus lokalen Bedingungen, Leibeigenschaft und Zunftzwängen, Verkehrswege und Transportmittel, Kommunikation, Versorgungsinfrastrukturen, einheitliche gesetzliche Regeln zur Produktion und zum Austausch von Waren, Standardisierung von Maßen und Gewichten, einheitliche Währung, Durchsetzung einer gemeinsamen Sprache, Bildungswesen usw. Alle diese aufeinander bezogenen, die Gesellschaft neu strukturierenden, homogenisierenden und anonymisierenden Entwicklungen müssen sich auf einen territorial definierten Machtraum erstrecken. Dieser territorial definierte, nach Vereinheitlichung strebende Machtraum ist der Nationalstaat. Der Nationalstaat schafft durch Verkehr und Kommunikation überhaupt erst massenhaft Verbindungen zwischen Individuen, die zuvor nur in lokaler Bezogenheit aufeinander (Sprache, Kultur, Religion, Lebensweise usw.) existierten. Diese realen, aber zugleich anonymen und wechselhaften Verbindungen innerhalb eines territorial begrenzten Machtraums bilden die Voraussetzungen für das Entstehen des Gedankens von einer„imagined community“ (Anderson), einer Gesellschaft aufeinander bezogener Menschen, die in ihrer Ausdehnung über das im begrenzten Erfahrungshorizont des Individuums Liegende hinausgeht. Die reale Bezogenheit infolge des Verkehrs der Menschen wird ideologisch untermauert durch ihre abstrakte Bezogenheit aufeinander durch die kapitalistische Produktionsweise. In der neuen, arbeitsteiligen Produktionsweise beziehen sich die voneinander getrennten Produzenten aufeinander, aber eben nicht direkt, sondern indirekt, vermittelt über, einerseits, die Kategorie des Werts, der die Aufteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit auf die einzelnen Produktionszweige bestimmt, und, andererseits, über anonyme Märkte, auf denen darüber entschieden wird, ob im Produktionsprozess Wert, Gebrauchswert für andere, erzeugt worden ist. „Nation“ ist nun nichts anderes als der Versuch, die abstrakt-funktionale Bezogenheit der durch kapitalistische Produktionsweise miteinander Verbundenen ideologisch auszustaffieren, ihr Dauer und Bestand zuzuschreiben durch Erzeugung einer entsprechenden Theorie, sie ästhetisch darzustellen durch Kunst, Literatur, Musik, ihr Anschaulichkeit zu verleihen durch Rituale und Symbole, Bauwerke, Hymnen und sie schließlich institutionell zu verankern. Das nicht Fassliche, weil bloß durch die Produktionsweise Vermittelte, wird in der „Nation“ mit ihrer Fülle von Erscheinungsformen einerseits sinnlich erfahrbar, andererseits ideologisch ausgeformt. Nation ist der Gründungsakt einer Gemeinschaft, die sich vom Vorherigen löst, es verdrängt und verdrängen muss, durch Neues und Eigenes ersetzt.[3] Da die im Entstehen begriffene Nation zunächst keine andere reale Grundlage hat als die ihre Mitglieder verbindende kapitalistische Produktionsweise, setzt nun etwas ein, das Hobsbawm „invention of tradition“ nennt. Das ideologische Band, das die Mitglieder der neuen Gesellschaft verbinden soll, muss noch geknüpft werden, was nur geschehen kann durch eine Ideologie, die nicht nur Angelegenheit von einzelnen Eliten, Klassen, Schichten, Gruppen ist, sondern gemeinsame Sache aller. Man könnte unter Bezugnahme auf die Erörterung des Begriffspaares Gemeinschaft – Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies als griffige Formel definieren: Nation ist der Versuch, die Differenz von Gesellschaft und Gemeinschaft ideologisch zu überbrücken, Nation verklärt die Gesellschaft zur Gemeinschaft. Im Zuge dieses Prozesses entsteht der Nationalismus als Bewegung zur Ersetzung überkommener Bindungen und Denkweisen, die unter der Vorherrschaft von Kirche und Feudalismus entstanden sind, durch Ideologisierung und Veranschaulichung der entstehenden kapitalistischen Nation und als Ausdruck des Bestrebens, Nation und Nationalstaat zur Deckung zu bringen (Gellner). Nationalismus bedeutet gleichermaßen Verdrängung des Alten wie Durchsetzung des Neuen. In der Entstehungsphase von Nation und Nationalstaat wird schließlich der Nationalstaat die Etablierung von „Nation“ als anerkannter Massenideologie durchsetzen und vollenden. Einmal erzeugt, wird „Nation“ trotz ihres ideologischen Charakters zur realen Größe, wirkt bestimmend auf die Lebensweise der Menschen und ihr Denken, nimmt den Schein einer perennierenden Entität an. Das Resultat des Prozesses der Entstehung von „Nation“: gemeinsame Kultur, Geschichte, Sprache, Lebensweise, Idee der „Schicksalsgemeinschaft“, wird zur Grundlage von Nation umgedeutet. Insofern sie reale Größe ist, ideologisches Korsett einer Gesellschaft, bestimmend für Denken und Lebensweise und im gesellschaftlichen Alltag verankert und institutionalisiert, wird sie fortan zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Jede gesellschaftliche Entwicklung hat Rückwirkung auf das Selbstverständnis einer Gesellschaft und wirkt auf die Vorstellung von Nation, die so einem kontinuierlichen Prozess der Veränderung unterworfen ist. Nationalismus ist nach der Etablierung der kapitalistischen Nation nicht einfach ein tiefes Gefühl der Verbundenheit gegenüber einer Vorstellung von Nation oder eine Ideologie, sondern er tritt meist auf als eine wesentlich politische Bewegung, die eine schleichend sich vollzogen habende Veränderung von Nation, von gesellschaftlicher Wirklichkeit, ablehnt, diese Veränderung beenden will, einen radikalen Wandel anstrebt und letztlich auf einen neuen Gründungsakt von Nation, ein neues gesellschaftliches Selbstverständnis, abzielt, den Gemeinschaftsgedanken neu interpretiert und sich dabei der ideologischen Figur bedient, eine Abirrung von dem wahren Charakter der Nation korrigieren zu wollen und zu den Wurzeln, der Tradition, dem eigentlichen Gründungsakt und dessen Werten zurückzukehren, so dass der tatsächlich angestrebte Bruch mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Wiederherstellung von Nation, als Kontinuität erscheint. Da Nation als Konstruktion („invention of tradition“) im Akt ihrer Selbstbegründung meist auf reale oder vorgebliche Vergangenheit zurückverweist, kann der Nationalismus diesen Rückbezug in seiner eigenen Ideologie als ureigenstes Prinzip reklamieren. Zugleich gelingt es dadurch dem Nationalismus als Ideologie, die Überzeugungskraft des historisch gewachsenen und bewährten Konstrukts „Nation“ für seine eigenen Zwecke zu nutzen.

3. Nationalistische Bewegungen der Gegenwart als Krisenreaktion

Zu unterscheiden ist also zwischen dem Nationalismus der Entstehungsphase von Nation, der auf die Schaffung des Nationalstaats abzielt zur Vollendung der Kongruenz von Nation und Nationalstaat und der Nation überhaupt erst zu produzieren beginnt als ideologische Staffage der territorial abgegrenzten kapitalistischen Gesellschaft, und dem Nationalismus der Gegenwart, der Nation als etablierte und damit wirkmächtige „vorgestellte Gemeinschaft“ schon voraussetzt, sie funktionalisiert und zur Verfolgung seiner politischen Interessen zum zentralen Thema seines ideologischen Kampfes macht. Beide Varianten eint das Ziel eines Gründungsakts von Nation unter Verdrängung des Alten, während aber bei der Schaffung des Nationalstaats geschichtliche Fortschritte erreicht werden, ist der heutige Nationalismus überwiegend reaktionär.

Seit einigen Jahren ist ein zeitgleiches weltweites Erstarken rechter nationalistischer Bewegungen zu beobachten, die unter anderem in Österreich, Frankreich, Tschechien, Ungarn, Polen erstaunliche Erfolge erzielt und in Großbritannien und den USA nachhaltige politische Weichenstellungen bewirkt haben. Ich interpretiere diese Entwicklungen als aggressiv-verzweifelte Reaktion auf die Wahrnehmung und Empfindung einer massiven Bedrohung, nämlich auf globale Herausforderungen neuen und fundamentalen Typs, auf die die Menschheit keine angemessene Antwort gefunden hat: die kapitalistische Globalisierung und die ökologische Krise. Die kapitalistische Globalisierung hat in der Tendenz zur Folge, dass jede Ware prinzipiell an jedem Ort der Welt hergestellt werden kann und dass der Wert einer Ware, insbesondere der der Arbeitskraft, nivelliert wird. Die Ergebnisse von Klassenkämpfen, die den Wert der Arbeitskraft im „Westen“ auf im Vergleich höherem Niveau hatten halten können, werden zunichte gemacht. Wenige Gewinner stehen sehr vielen Verlierern dieses Prozesses gegenüber. Die fünfhundertjährige Überlegenheit und die privilegierte Rolle des Westens im Weltsystem (Wallerstein) ist damit endgültig zu Ende. Die ökologische Krise bedroht die Menschheit in ihrem Bestand und hat schon jetzt massive Auswirkungen in den ärmsten Regionen der Welt, die zu Hunger und Migration führen. Eine erfolgreiche, nachhaltige Lösung der ökologischen Krise setzt eine grundlegende Änderung von Lebensweise, Produktionsweise und Art und Menge der produzierten Waren voraus. Ein bloßer Austausch von Technologien, etwa fossilistische Mobilität gegen E-Mobilität, verlagert das Problem nur. Beide Problemkreise, kapitalistische Globalisierung und ökologische Krise, bedeuten eine Verlagerung von Problemen auf eine neue, den Nationalstaat transzendierende, globale Ebene. Beide Problemkreise verschärfen unter den gegenwärtigen Bedingungen die Konkurrenz der Menschen, verschlechtern die Lebensbedingungen und bedeuten nur für wenige Aufstiegsmöglichkeiten oder Profit. Die erfolgreiche Bearbeitung der Probleme setzt transnationale Zusammenarbeit voraus, genau dort aber, so scheint es, jenseits des eigenen Nationalstaats, lauert die Konkurrenz, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Aus dieser widersprüchlichen Konstellation heraus lässt sich der zunächst völlig unerwartete Erfolg der Trump-Bewegung erklären. Zugleich lassen sich im ideologischen Reaktionsmuster der Trump-Bewegung und des Rechtspopulismus die Grundelemente des Nationalismus erkennen: Bruch mit dem Alten, Ankündigung einer radikalen Wende, Neuinterpretation von Gemeinschaft, Abgrenzung nach außen, Vergangenheit als Anknüpfungspunkt für die Gestaltung von Zukunft und vor allem die eigene Nation als oberstes Gut. Der Erfolg von Trump ist umso erstaunlicher als er kaum Unterstützung des US-Kapitals hatte. Als Kandidat der Republikaner war er isoliert und ohne Netzwerk und selbst als Präsident fand er zunächst nur bei einer Minderheit Unterstützung: Militär und Rüstung, fossilistische und extraktivistische Industrien, marktradikale Teile der Finanzindustrie. Als Unternehmer hatte er einen schlechten Ruf, sein Auftreten war und ist rüpelhaft und ordinär. Seine politischen und ökonomischen Ideen führen in den Augen der Mehrheit des US-Kapitals in eine Sackgasse. Die Ursache seines Erfolgs liegt in seiner Bewegung, der Identifikation seiner Wähler begründet. Er hat den Kerngedanken des Nationalismus radikalisiert und nutzbar gemacht, die Gemeinschaft. Statt „diversity“, einer Parole der Globalisierung mit der Absicht, die Zusammenarbeit zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Ethnie, Religion und Orientierung im ökonomischen Getriebe des Kapitalismus reibungslos zu gestalten, nun Redefinition des Einwanderlandes USA als verschworene abgeschottete Gemeinschaft: „America First“, „Buy American – Hire American“, Aufkündigung internationaler Zusammenarbeit, Mauer zu Mexiko, Einreiseverbote und nach innen Entgegensetzung der „forgotten people“ gegen das „Establishment“. Die Überzeugungskraft von Trump liegt nicht in der Person selbst, nicht in der politischen Strategie, sondern in der Projektion eigener Wünsche und in der Intensität der Identifikation seiner Anhänger in einer diese zutiefst verunsichernden Situation. Der Irrationalismus Trumps stellt dabei keine Schwäche dar, sondern im Gegenteil immunisiert er gegen jede rationale Auseinandersetzung. Der realen Abschottung des Landes korrespondiert die intellektuelle Abschottung: „fake news“.

Die Mechanismen, die in der Trump-Bewegung wirksam sind und die insgesamt typisch sind für heutigen weltweiten populistisch-nationalistischen Bewegungen, sind ebenso wirksam in der sich in Teilen zum religiösen Fundamentalismus hinwendenden islamischen Welt, deren Wertesystem die Gesellschaften lange hatte stabilisieren können, nun aber längst obsolet geworden ist und mit der Globalisierung vollends aufgelöst wird, mit dem Unterschied, dass der Gemeinschaftsgedanke nicht auf Nation projiziert wird, sondern auf die Religion, genauer auf fundamentalistische, realitätsferne Varianten des Islam. Auch hier liegt die Überzeugungskraft nicht in der Ideologie, einer per se irrationalistischen atavistischen Konstruktion, sondern in der Identifikation des Anhängers, der im Bekenntnis zum Gläubigen wird. Norbert Elias hatte den Nationalismus noch „eines der mächtigsten, wenn nicht das mächtigste soziale Glaubenssystem des 19. und 20. Jahrhunderts“[4] genannt. An der Parallelität der Strukturen wird jedoch deutlich, dass die dem Nationalismus oft zugeschriebene Kraft als Ideologie nicht in der Ideologie selbst, in der Vorstellung dieser oder jener Nation liegt, sondern in der Vorstellung von strukturierter und reglementierter Gemeinschaft, die im Bild der Nation ausgestaltet wird und zugleich offen für Identifikation und Projektion ist. Die wirkliche Macht des Gedanken von Gemeinschaft liegt im utopischen Gehalt, den der Vergangenheitsbezug, den Religion und Nationalismus teilen, stützt, denn er erscheint trotz seines imaginären Charakters als der Ausweis der Realmöglichkeit der erklärten Ziele. Vergangenheit und Zukunft verschmelzen in der Ideologie von Religion und Nationalismus zu einer Einheit, die die Gegenwart negiert und geradezu entwirklicht. Das ist der Clou am Slogan „Make America great again“.

4. Wie soll die Linke reagieren?

Was heißt das für die praktische Politik? Angesichts der zu Recht als Bedrohung wahrgenommenen kapitalistischen Globalisierung und der ökologischen Krise wird die Tendenz des Rückzugs in eine national interpretierte Gemeinschaft mit gleichzeitiger starker Abgrenzung nach außen und Abwertung des Fremden wirksam bleiben. Die nach innen in vielen Staaten bereits jetzt bestehenden Entwicklungen zum Abbau von Demokratie, zum autoritären und ideologisch determinierten Staat werden weiter fortbestehen. Eine entsprechende Tendenz der Politik ist momentan unter anderem in Polen und den USA erkennbar. Diesen Entwicklungen entgegen steht das Interesse der stärksten und technologisch führenden Kapitalfraktionen, den Prozess der kapitalistischen Globalisierung weiter voranzutreiben. In Europa haben hier Deutschland und Frankreich eine Führungsrolle. Beide Richtungen liegen in Großbritannien nach dem Beschluss zum Ausscheiden aus der EU im offenen Widerspruch. Es entstehen neue ungewohnte Konstellationen: Auf der einen Seite die von kapitalistischer Globalisierung und durch die Folgen der ökologischen Krise (Migration, Verlust von Arbeitsplätzen vornehmlich in fossilistischen Industrien) sich bedroht fühlenden Lohnabhängigen, die sich zunehmend an rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien und Führerfiguren orientieren, welche wiederum Industrien vertreten, die der Schumpeterschen „schöpferischen Zerstörung“ im globalen Maßstab anheimzufallen im Begriff sind, auf der anderen Seite die unter dem Banner von Menschenrechten und „diversity“ die kapitalistische Globalisierung vorantreibenden Fraktionen von Finanz- und Produktivkapital. Beide ringen um die Macht in den Staaten. Die kapitalistische Globalisierung erzeugt also die widersprüchliche Entwicklung, dass der Nationalstaat im Interesse seines Kapitals einerseits Kontrollmechanismen aufgibt und verliert, andererseits diese gleichzeitig verteidigen möchte und für Teile von Kapital und Volk zunehmend als Bastion in einer Abwehrschlacht um eine neue politische und ökonomische Weltordnung erscheint.

Die Linke hat die neuen Herausforderungen nicht vollständig begriffen und ist in traditionellen Fixierungen befangen. Sie begreift nicht die Dramatik der ökologischen Krise, betreibt eine Politik, überwiegend in der Reanimation sozialdemokratischer Positionen bestehend, im nationalen Rahmen, orientiert auf den Transmissionsmechanismus des Parlamentarismus, die Übersetzung von Wahlergebnissen in parlamentarische Teilhabe. Nachdem die europäischen Sozialdemokratien ins Lager des Neoliberalismus übergelaufen sind, ist ein Vakuum entstanden, in das neue Bewegungen nachgerückt sind, die wesentlich klassische sozialdemokratische Positionen übernommen haben. Sozialdemokratismus ist das Bestreben, Entwicklungen, die als solche hingenommen werden, in ihren Folgen und Auswirkungen auf die Lohnabhängigen so abzumildern und erträglich zu gestalten, dass der gesellschaftliche Konsens nicht zerstört wird. Aus dieser Haltung heraus ist eine richtungsweisende Politik nicht möglich.

Ohne die Diskussion an dieser Stelle explizieren zu können, scheinen mir folgende Gedanken für eine linke Politik erwägenswert:

- Der welthistorische Umbruch, der sich vor unseren Augen vollzieht, wirft die Frage auf, ob nicht die Linke neben der nationalen Klassenpolitik eine globale Politikdimension entwickeln müsste, in der angesichts von Globalisierung und ökologischer Krise ein zu konkretisierendes Menschheitsinteresse zu formulieren und zu vertreten wäre, und zwar in bewusster Entgegensetzung zum nationalistischen Rechtspopulismus.

- Der Rechtspopulismus zeigt zweierlei. Zum einen: Die neoliberale Hegemonie beginnt zu erodieren, Teile der Bevölkerung akzeptieren einen Bruch mit dem herrschenden System, wenn auch in irregeleiteter Richtung. Und zum anderen: Der dem Nationalismus zu Grunde liegende Gedanke der Gemeinschaft ist wirksam. In der Frühzeit der Arbeiterbewegung und bis in die Weimarer Republik war dieser Gedanke Teil der Stärke der linken Bewegung. Positionen, die einen klareren Gegensatz zum herrschenden System formulieren und zugleich diesen Gegensatz in eine alltagsweltliche Praxis überführen, die die Lebensweise der Menschen direkt betrifft und prägt, scheinen möglich und in Anbetracht der ökologischen Krise nötig.

Literatur

Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities, London

Elias, Norbert (1994): Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl., Frankfurt

Gellner, Ernest (1983): Nations and Nationalism, Oxford

Hobsbawm, Eric (1983): Nations and Nationalism, London

Hobsbawm, Eric und Ranger, Terence (Hrsg.) (1992): The Invention of Tradition, Cambridge

Smith, Anthony D. (1998): Nationalism and Modernism, London

Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5., revidierte Auflage. Besorgt von Johannes Winckelmann. Studienausgabe, Tübingen

[1] „Das modernistische Paradigma der Nationen und des Nationalismus ist das fruchtbarste und umfassendste der großen Erzählungen auf diesem Gebiet. Es ist auch eines der letzten. Es entstand im Gegensatz zu den älteren nationalistischen oder perennialistischen Paradigmen. Aber wie in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen wurde dieses allumfassende Erklärungsparadigma zunehmend zugunsten begrenzter Modelle und Darstellungen von besonderen, meist gegenwärtigen Aspekten des Studiums von Nationen und Nationalismus aufgegeben.“ (Smith: 145, Übersetzung KW)

[2] „Nationen erzeugen keine Staaten und Nationalismen, sondern umgekehrt.” (Hobsbawm 1983: 10, Übersetzung KW)

[3] Anderson hat gezeigt, dass die Durchsetzung des neuen Konzepts von „Nation“ die Ablösung überkommener Denkweisen und Bindungen voraussetzt: Verfall der Macht von Religion und Kirche und ihrer Sprache, Erosion der religiös begründeten Legitimität der Feudalherrscher, Eröffnung der Dimension Zukunft in der Vorstellung von Zeit. In diesem Zusammenhang spielt der Buchdruck und die Verdrängung von Latein durch Volkssprachen und Schriftsprachen eine wesentliche Rolle.

[4] Elias (1994: 194)