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Marx 200: Klassentheorie und Klassenbewegungen heute / Alle Berichte

von Alexander M. Hummel
Juni 2018

„Marx 200: Klassentheorie und Klassenbewegungen heute“

11. Marxistische Studienwoche, Frankfurt am Main, 19. bis 23. März 2018

Wie kann nach Jahrzehnten des Neoliberalismus die Klassentheorie aktualisiert werden? Wie muss Klassenbewegung und politische Repräsentation von Klasse heute gedacht werden, um alte marxistische Reduktionismen nicht zu wiederholen? Und wie kann der Marxismus als Theorie der historischen Wirkmächtigkeit von Klassen in Zeiten von nur geringem Klassenbewusstsein zur Revitalisierung von Klassenkämpfen beitragen? Dies sind einige der Fragen, welche sich die etwa 60 Teilnehmenden der Marxistischen Studienwoche stellten. In Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Arbeitsgruppen zur Lektüre klassischer und zeitgenössischer Texte des Marxismus gelang es, der Beantwortung dieser Fragen ein gutes Stück näher zu kommen. Die von der HeinzJung-Stiftung, der Redaktion „Z“ und einer Vorbereitungsgruppe organisierte Tagung zog viele politisch aktive Studierende, aber auch Aktive aus Gewerkschaften und politischen Organisationen an.

Das einleitende Diskussionspanel mit Kurzinputs von Kim Lucht (Jena), Janis Ehling (Berlin) und John Lütten (Jena) gelang es das Tagungsthema in den Kontext der politischen Kämpfe der letzten Jahrzehnte einzuordnen. In der Epoche ungebrochener neoliberaler Hegemonie sei die Klassenfrage aus der Debatte gedrängt worden, da die einstigen Verteilungskonflikte durch die von den neuen sozialen Bewegungen aufgeworfenen Fragen obsolet geworden wären; gleichzeitig wurde gar ein „Abschied vom Proletariat“ (z.B. A. Gorz) propagiert. In Zeiten bröckelnder neoliberaler Hegemonie kehre nun die Klassenfrage nachdrücklich zurück. Die Kämpfe für Geschlechtergleichheit und gegen rassistische Diskriminierung verschwänden damit nicht. Folglich wurde im Laufe der Tagung immer wieder diskutiert, wie theoretisch und praktisch Identitäts- und Klassenpolitik zueinander im Verhältnis stehen. Dabei wurde dafür plädiert, die Kämpfe nicht gegeneinander auszuspielen, sondern nach ihrer genauen Beziehung zueinander zu fragen. Erinnert wurde daran, dass die untersten Klassenfraktionen selbst zu großen Teilen weiblich und migrantisch seien und es bei Identitätspolitik nicht ausschließlich um das Ausleben von Gefühlen, sondern auch um die Verwirklichung persönlichkeitsbezogener wie materieller Interessen gehe. Schließlich dürfe Klasse nicht wie in Klassismusanalysen als Diskriminierungskategorie gelten, sondern müsse als Struktur- und Subjektkategorie begriffen werden.

Janis Ehling wies darauf hin, dass es keineswegs die am meisten ausgebeuteten Teile der Klasse seien, die sich organisieren. Tatsächlich seien es stets die qualifizierteren Teile der ArbeiterInnenklasse mit positiver Identität und Stolz auf ihre Arbeit gewesen, die sich parteilich organisierten. „Renaissance der Klasse“ sei oft nur eine Renaissance der Klassenrhetorik, bei der unklar bleibe, wie sie mit einer konkreten Klassenpolitik zu füllen sei.

Nicole Meyer-Ahuja, Direktorin am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) in Göttingen, bescheinigte der Klassenanalyse ungebrochene Aktualität. Nur durch sie gelänge es, diverse Teilfragestellungen zu integrieren: Wer ist Unterdrücker und Unterdrückter in der Gesellschaft? Welches Bewusstsein besitzen die Menschen von ihrer Situation? Wie kann auf dieser Basis die Welt nicht nur interpretiert, sondern auch verändert werden? Zwar existierten soziologische Spezialgebiete, welche diese Teilfragestellungen jeweils bearbeiteten, nur der Marxismus würde diese jedoch zusammenführen. Ajuha wies auf die gewachsene Vielfalt der ArbeiterInnenklasse hin: weiblicher und migrantischer, (Solo-)Selbstständige als besondere Gruppe, eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensentwürfe. Gleichzeitig bestehe eine Spaltung der Lohnabhängigen nach Tätigkeit, Qualifikation und Status. Ein Drittel von ihnen arbeite mittlerweile in atypischen Beschäftigungsverhältnissen.

Diskutiert wurde, welche Gruppen von Lohnabhängigen heute den Kern der ArbeiterInnenklasse bilden und damit an den Schalthebeln kapitalistischer Produktionsmacht sitzen. Zwar war es unstrittig, dass darunter heute Beschäftigte in den Bereichen IT, Transport, Energie und allgemein der Industrie fallen, aber kontrovers wurde diskutiert, inwieweit eine solche Differenzierung innerhalb der Lohnabhängigen überhaupt analytisch möglich und praktisch nützlich ist. Meyer-Ajuha wendete sich gegen eine Beschränkung der ArbeiterInnenklasse auf Industriearbeiter. Jörg Miehe (Göttingen), der seine Untersuchungen zur Entwicklung des Umfangs einer „orthodox“ bestimmten Arbeiterklasse der BRD im 21. Jahrhundert vorstellte, sah das anders. Geht man wie Miehe von einer Fassung der ArbeiterInnenklasse im Wesentlichen als Industriearbeiterklasse aus, ergibt sich für 2008 eine Größenordnung von noch 5,7 Millionen Personen gegenüber etwa 38 Millionen bei einer Erfassung über den Lohnabhängigenstatus. Die Diskussion zeigte hier jedoch viele offene Fragen des Konzepts, auch wenn ein Rückgang der im engen Sinne industriellen Arbeiterklasse unbestritten ist.

Der zweite Tag war marxistischen Grundlagen gewidmet. Zunächst insistierten John Lütten und André Leisewitz (Redaktion Z, Frankfurt/M.) darauf, dass Klasse nicht einfach eine soziale Lebenslage beschreibe, sondern als eine antagonistische Beziehung zu verstehen sei, die in den Produktionsverhältnissen wurzelt. Klassenanalyse bedeute folglich die Analyse der Produktionsverhältnisse sowie des konkreten Aneignungsprozesses von Mehrarbeit. Statt sozialstruktureller Schemata seien Klassen zunächst Kategorien der Interessen, der Bewegungen und der Geschichtsanalyse. Lütten erläuterte, dass Klassenkampf einerseits zur Verbesserung der eigenen Existenzbedingungen innerhalb einer Arbeitsbeziehung geführt, aber auch die Form eines Kampfes gegen die Ausbeutungsbeziehung und damit zur Überwindung der herrschenden Ordnung annehmen könne. Stets gebe es dabei ökonomische, politische und ideologische beziehungsweise hegemoniale Dimensionen. Leisewitz illustrierte am Beispiel der Klassenverhältnisse der Französischen Revolution, dass sich der Marxismus für Klassen als geschichtsmächtige gesellschaftliche Gruppen interessiert, für deren Stellung in den Produktionsverhältnissen, Interessenausbildung, politische Formierung, Wechselbeziehungen etc. Mit Blick auf die solche Aspekte zusammenfassende Leninsche Klassendefinition verwies er zugleich darauf, dass hier viele weitere subjekt- und handlungsrelevante Vermittlungsaspekte (Habitus, Kultur usw.) noch nicht explizit thematisiert wurden. In der Diskussion kam die Frage auf, wie Sonderfälle (bspw. Manager) klassenanalytisch einzuordnen sind. Schnell wurde klar, dass hier schon die Verfügung über und nicht das Eigentum von Kapital für die Beteiligung am Ausbeutungsprozess entscheidend ist, so dass z.B. ein Manager trotz formalem Lohnverhältnis als Kapitalist zu verstehen sei. Außerdem wurde die historische Bedeutung der Mittelklassen bzw. Mittelschichten herausgestellt. Zur Bildung eines Blocks gegen die Bourgeoisie sei deren Einbeziehung, so die geschichtlichen Erfahrungen, unabdingbar.

Richard Detje (Redaktion Sozialismus, Hamburg) referierte über Klassen- und Krisenbewusstsein in der BRD. Im „Kapital“ analysiert Marx, so Detje, stets drei Elemente gemeinsam: Erstens die ökonomische Formbestimmung, zweitens das Set von sozialen Beziehungen, also die Klassen, und drittens die Bewusstseinsformen und die damit verbundenen Mystifikationen. Eine Klassenanalyse müsse diese drei Elemente verbinden. Als Ergebnis der empirischen Analyse des Bewusstseins von ArbeiterInnen in drei Befragungsstudien stellte Detje dar, dass die Beschäftigten über einen ganz eigenen Krisenbegriff verfügten, der sich nicht auf den Akkumulationsprozess, sondern auf eine längere permanente Umwälzung im Zuge der Rationalisierung beziehe. Die betrieblichen Rationalisierungsprozesse würden von den diversen Beschäftigtengruppen auf die gleiche Weise wahrgenommen, womit sich ein gemeinsamer Wahrnehmungshorizont und eine geteilte adressatenlosen Wut entwickele, welche der Fragmentierung der Klasse entgegenwirkten. Teil dieser Wahrnehmungen sei, dass Arbeit nicht länger gesellschaftlich anerkannt werde und wahrnehmbare Kollektivstrukturen verloren gingen. Für letzteres werde etwa ein Ersatz in ethnischen Zusammenhängen gesucht. Hier ergäbe sich die Hoffnung, dass eine Vertiefung der Klassenanalyse Gegengifte gegen den Rechtspopulismus zu entwickeln ermögliche. Zu den in den Arbeitsgruppen diskutierten Themen gehörten u.a. das Verhältnis von „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“ und der damit verbundene Prozess der Klassenformierung, die Bestimmung des kommerziellen Lohnarbeiters sowie die Bedeutung des Kerns der ArbeiterInnenklasse.

Der Mittwoch widmete sich historischen und aktuellen Fragen der Klassenpolitik. Zu den historischen Fragen sprach Frank Deppe (Marburg). Er zeigte an Marxens Studie über den „18. Brumaire des Louis Bonaparte“, dass oft Klassen bzw. Klassenverhältnisse nicht unmittelbar auf die kapitalistische Produktionsweise bzw. deren Grundantagonismus zurückzuführen seien – so etwa die Bürokratie, welche über die Staatsmacht verfüge und daraus eigenständige Interessen entwickele. Wichtig für eine marxistische Analyse sei es, neben den Hauptklassen (Proletariat, Bourgeoisie) die gesamte Wirklichkeit der Klassen (Kleinbürgertum, Mittelschichten, Intelligenz) miteinzubeziehen. Politik ist, so Deppe, als ein Feld mit eigener Materialität zu verstehen. Fasse man Politik beziehungsweise den Überbau hingegen lediglich als etwas geistig-ideologisches, ergebe sich daraus eine Schwäche des marxistischen Politikbegriffs. Deppe unterstrich, dass für die Formierung der Klasse neben den realen Klassenkämpfen und der Organisation gerade die Vermittlung von Wissen und die permanente „Anrufung“ der Klasse, aus welcher sich ein Moment der Anerkennung ableite, von großer Bedeutung seien.

Jörn Boewe (Berlin) diskutierte die Entwicklung der Gewerkschaften, der Lohnabhängigenmacht und der Klassenkämpfe in Deutschland seit den 1980er Jahren. Der Klassenkompromiss der alten BRD löste sich Anfang der 90er Jahre auf. Die Reallöhne wuchsen nun langsamer als die Produktivität. Trotz Aufkündung des Klassenkompromisses durch die Kapitalseite blieb die Sozialpartnerschaft die vorherrschende Orientierung der DGB-Gewerkschaften, was Boewe als „einseitige und selektive Sozialpartnerschaft“ bezeichnete. Die „Machtressourcen“ der Lohnabhängigen erodierten über Jahre durch zunehmende Marginalisierung und Deregulierung von Arbeit. Gegenwärtig könne, ablesbar z.B. an der Mitgliederentwicklung der DGB-Gewerkschaften, von einer prekären Stabilisierung gesprochen werden. Zwar ließen sich Ansätze für neue kämpferische Gewerkschaftspolitik ausmachen, jedoch sei eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu Gunsten der Lohnabhängigen auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Bis dahin sei das schrittweise Gewinnen von positiven Erfahrungen unter den Lohnabhängigen durch solidarische Aktionen zentral.

Am vorletzten Tag der Studienwoche referierte Ehling anstelle der kurzfristig erkrankten Ulrike Eifler (DGB Südhessen) über Frauen in der Erwerbsarbeitsgesellschaft und der Arbeiterbewegung. Über alle Epochen hinweg waren Frauen grundsätzlich erwerbstätig – der Umfang dieser Frauenerwerbsarbeit variierte allerdings erheblich. Quer durch alle Branchen verdienten Frauen stets weniger als Männer; Berufe, bei denen sich Frauenarbeit durchsetzte, wurden gesellschaftlich abgewertet. In der ArbeiterInnenbewegung seien Frauen lange Zeit, vor allem im 19. Jahrhundert, nur schwach repräsentiert gewesen, wobei sie als LohndrückerInnen galten. Zugleich war und ist der Organisationsgrad von Frauen geringer als der von Männern. Insgesamt konnte Ehling historisch-konkret am Beispiel Deutschlands die Verwobenheit von Klassen- und Geschlechterverhältnissen aufzeigen. In der Diskussion nahmen aktuelle Fragen von Identitätspolitik und Klassenverhältnissen einen breiten Raum ein (hier wurde u.a. ein Videoclip mit Prof. Sylke van Dyk/Jena besprochen).

Im zweiten Vortrag des Tages gab Marcel van der Linden (Amsterdam) eine Übersicht zu Geschichte und Gegenwart globaler Arbeits- und Klassenverhältnisse. Lebhafte Diskussion löste seine Kritik marxistische Annahmen zur Bestimmung der ArbeiterInnenklasse und des Kapitalismus aus. Er plädierte dafür, den Marxschen Begriff des Arbeiters als doppelt freien Lohnarbeiter stark zu erweitern, um die Vielfalt globaler „hybrider“ Ausbeutungsverhältnisse angemessen beschreiben zu können. Da auch die Arbeitskraft von SklavInnen Warenform annehme, seien etwa auch sie als Teil der ArbeiterInnenklasse zu verstehen. Diese Konzeptualisierung der ArbeiterInnenklasse mache auch eine Revision des Kapitalismusbegriffs notwendig: Kapitalismus – weiterhin als „Warenproduktion mittels Waren“ (Pierro Sraffa) verstanden – wäre nun mit verschiedenen Formen der Ausbeutung vereinbar. In dieser Sicht ist nicht der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital zentral für Kapitalismus, sondern die Arbeitskraft als Ware im Allgemeinen. Historisch sei nicht England die erste moderne kapitalistische Ökonomie der Welt gewesen, sondern die durch SklavInnenarbeit und Zuckerproduktion geprägte Karibikinsel Barbados. In der anschließenden Diskussion wurde die Differenz dieser Sicht zum Marxschen Verständnis von Klassen betont, aber auch, dass sie Zugänge zu Klassenkämpfen außerhalb Europas und den hoch entwickelten kapitalistischen Zentren eröffne.

Bei einer Abendveranstaltung im Frankfurter Club Voltaire sprach Hans-Jürgen Urban (Mitglied des geschäftsführenden IG-Metall-Vorstands) zur Frage, ob Gewerkschaften heute noch Klassenorganisationen sind. Er beantwortete die Frage mit Rückgriff auf Marx und Verweis auf aktuelle Arbeitskämpfe der IG Metall durchaus mit einem „Ja“. Zwar seien die Gewerkschaften derzeit keine Kraft zur Überwindung des Lohnsystems, jedoch nähmen sie auch heute eine wichtige Funktion bei der Organisierung der ArbeiterInnen wahr, als „Sammelpunkt des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals“ (Marx).

Ein Konzerts des Akademischen Arbeiterliederchors (Uni Frankfurt) mit sehr eindrücklich vorgetragenen Liedern und Texten von Bertolt Brecht und Hanns Eisler und der Film „Pride“ setzten kulturelle Akzente. Der auf wahren Tatsachen beruhende Film handelt von der Solidarisierung einer Gruppe Londoner Schwulen und Lesben mit den streikenden Bergarbeitern 1984 in Wales.

Alexander M. Hummel

Marx in Köln – Demokratie und Sozialismus

Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung Nordrhein-Westfalen, Köln, 14. April 2018

Die Kölner Marx-Konferenz der RLS NRW zum 200. Geburtstag von Marx – mitgetragen von einem breiten Kreis unterstützender örtlicher Organisationen (Volkshochschule, DGB, Friedensbildungswerk, Sozialwissenschaftliche Hochschulgruppe, Sozialistisches Forum Rheinland, Frauengeschichtsverein, Club Dialektik) - ließ sich von der 170 Jahre zurückliegenden Revolution von 1848 inspirieren. Aus einem einfachen Grund: Marx wirkte damals in Köln als politischer Redakteur (1842/43 und 1848/49) wie auch als Mitglied des 1848 gegründeten Kölner Arbeitervereins. Einleitend stellte Karl-Heinz Heineman vom Vorstand der RLS NRW heraus, wie wenig an die politische Inkubationszeit des jungen Marx vor Ort erinnert werde. Er regte an, das von der Kölner Linksfraktion erwogene Konzept zu einer Würdigung Marxens beschleunigt umzusetzen. Vorerst wurde diese Lücke kreativ geschlossen: So fanden gleichgewichtig sich ergänzende Stadtführungen und Videoreportagen, Workshops und Podiumsdiskussionen statt. Frauen und Männer wurden dabei gleichermaßen als ReferentInnen beteiligt, was noch längst nicht allgemeiner Standard ist.

Zwei Stadtführungen und ein Film: Zwei historische Stadtführungen, am Anfang der Konferenz mit etwa 130 TeilnehmerInnen und nach dem Ende mit 35 boten die Möglichkeit, das politische Wirken des jungen Marx und seine Zusammenarbeit mit Friedrich Engels kennen zu lernen. Das reichte von den Treffpunkten der jungen Revolutionäre über die Redaktionssitze der Rheinischen Zeitung und Neuen Rheinischer Zeitung. Organ der Demokratie (NRhZ, 1948/9) bis hin zu Orten des revolutionären Geschehens mit großen Demonstrationen am Kölner Rathaus, dem nahen Gründungsort des größten deutschen Arbeitervereins mit 7.000 Mitgliedern und den großen Arbeiterversammlungen im Saalgebäude des Gürzenich unter dem Vorsitz des Armenarztes Andreas Gottschalk, dem Marx zeitweise als Präsident nachfolgte.

Die kenntnisreich kommentierte Spurensuche des Sozialhistorikers Fritz Bilz wurde am folgenden Sonntagmittag erweitert durch die Publizistin Ina Hörner vom Kölner Frauengeschichtsverein. Sie stellte in den Mittelpunkt ihres mit Texten, Dokumenten, Karten und Illustrationen angereicherten Rundganges Mathilde F. Annekes Wirken in der revolutionären Bewegung Kölns. Heute eher in der Lokalgeschichte bekannt, übte diese frühe Feministin jedoch mit der Neuen Kölnischen Zeitung für Arbeiter, Bauern und Soldaten einen überregionalen Einfluss aus, ehe sie als Ordonanzoffizierin im badisch-pfälzischen Feldzug 1849 fliehen musste und in den USA eine hoch geehrte Aktivistin in der amerikanischen Frauenwahlrechtsbewegung wurde.

Nach einem musikalischen Auftakt mit der vielseitigen Künstlerin Heike Beckmann wurde auf einer großen Leinwand während der Pausen ein etwa 25-minütiger Film des Teams um Wolfgang Zimmermann und Josef Tratnik zum Tagungsthema gezeigt. Der junge Marx, von Marcel Batangtaris dargestellt, befragt durch den Journalisten Werner Rügemer, feierte zugleich mit einzelnen Textbausteinen eine Wiederauferstehung vor einzelnen Wirkungsstätten, die in den Stadtführungen ebenfalls thematisiert wurden. Der Film im Videoschnitt von Hans-Dieter Hey (r-mediabase.eu/) kann auch auf der Homepage der RLS NRW (nrw.rosalux.de/) eingesehen werden.

Fünf Workshops: Parallele Workshops vertieften am Nachmittag einzelne historische, theoretische und aktuelle Fragestellungen. Der von Fritz Bilz und Christoph Jünke moderierte Workshop „Marx und die 1848er Revolution in Köln“ knüpfte an die vormittägliche Stadtführung an, insbesondere seine Auseinandersetzung mit Andreas Gottschalk über die Bündnispolitik der Arbeiterschaft mit dem Bürgertum. Hier zeichneten sich bereits Fragestellungen zwischen demokratisch-liberalen Reformen und einer proletarisch-sozialistischen Revolutionsstrategie ab, die das folgende 20. Jahrhundert mitbestimmen sollten.

Das mit Friedrich Engels verfasste „Kommunistische Manifest“ löste in der sich entwickelnden Arbeiterbewegung einen politischen Schub aus, der im Hauptwerk „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“ eine vertiefte wissenschaftliche Begründung erfuhr. Mit der Entwicklung des Marxschen Denkens machte Eva Bockenheimer vom Kölner Philosophie-Verein Club Dialektik in dem Workshop „Ein Gespenst geht um …“ anhand von Textbausteinen vertraut. Ebenso setzte sich Daniel Göcht vom Club Dialektik mit dem von Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten und in der „Deutschen Ideologie“ (mit Friedrich Engels) entwickelten Begriff der „Entfremdung“ auseinander. Zurückgeführt auf die gesellschaftliche Praxis in der kapitalistischen Warenproduktion wurden zugleich moderne Herausforderungen wie Burnout und Beschleunigung diskutiert.

Inwieweit unter den aktuellen Bedingungen der globalen Digitalisierung der Schlachtruf „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ heute von den Gewerkschaften eingelöst werden kann, arbeitete der Kölner DGB-Vorsitzende Witich Roßmann heraus. Trotz ihrer Schwächung durch transnationale Konzernstrategien verwies er in diesem Zusammenhang auf neue Möglichkeiten widerständiger Information, Kommunikation und Vernetzung. Hiermit stehen freilich Erweiterungen Marxscher Theorie zur Diskussion, die Muriel González Athenas, Historikerin an der Ruhr-Universität Bochum, explizit in ihrer feministischen Kritik einforderte. In diesem Workshop wurden neuere theoretische Ansätze auf ihre Brauchbarkeit für politische Aktivitäten überprüft. Fragen bezogen sich auf feministisch-materialistische Analysen sowie auf neue und alte Werkzeuge zur Gesellschafts- und Situationsbestimmung.

Zwei Podiumsdiskussionen: Auf die einzelnen Positionen der Teilnehmer kann hier nicht eingegangen werden. Es sollen vielmehr gemeinsame und unterschiedliche Akzentsetzungen in zentralen Fragestellungen herausgearbeitet werden. Mit dem Titel „…ist die Presse frei, die sich zum Gewerbe herabwürdigt?“ fand die erste Podiumsdiskussion statt, in der die Rolle von JournalistenInnen 1848 und heute zur Debatte stand. Karl Marx war in Köln politischer Aufklärung und der Organisation der Arbeitenden verpflichtet. Wie verstehen sich JournalistInnen heute? Haben sie eine politische Mission? Welche Folgen hat ihre Nähe zur Macht? Welche Meinungs- und Handlungsfreiheit haben JournalistInnen noch? Unter der vermittelnden Moderation von Ulrike Baureithel von der Wochenzeitung Freitag diskutierten Daniela Dahn, Autorin und Journalistin; Bettina Gaus, Journalistin; Walter von Rossum, Journalist und Medienkritiker; Frank Überall, Journalist und Bundesvorsitzender des Deutschen Journalistenverbands (DJV). Im Zentrum standen Homogenisierungstendenzen in der „veröffentlichten Meinung“ und mediale Konzentrationserscheinungen, Beschleunigung und Digitalisierung in ihrer wechselseitigen Wirkungsweise sowie die Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien und Medienpolitik.

Homogenisierungstendenzen kämen heute weniger durch einen „eingreifenden“ Journalismus zustande als vielmehr durch vorgängige Selbstunterwerfung als Anpassung an den Mainstream. Hierfür spreche die nahezu synchrone Berichterstattung in den Leitmedien zu Russland und Putin, den aktuellen Giftgaskomplexen oder auch zu Lateinamerika. Lediglich in einigen kleineren Medien gebe es einzelne differenzierende Darstellungen.

Strukturelle Gründe für diese Homogenisierung wurden in den fortschreitenden Konzentrationstendenzen bei den privaten Medien erkannt, was schon 1965 in einem Leserbrief im Spiegel so auf den Punkt gebracht wurde: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten … Das ist nicht von Karl Marx, sondern von Paul Sethe“ (siehe Wikipedia). Letztlich monopolisierten diese auch eine Deutungshoheit der Leitmedien. Zudem gebe es unter verschärftem Wettbewerbs-, Profitabilitäts- und Digitalisierungsdruck eine rasante Beschleunigung, die zeit-und kostenaufwendige Recherchen immer weniger möglich machten. Hier sollten – nach allgemeiner Meinung auf dem Podium – die öffentlich-rechtlichen Medien ein Korrektiv bilden, was aber nur beschränkt der Fall sei. Krimis, Talkshows, Fußballübertragungen bestimmten eine sich verschlechternde Sendequalität. In diese Richtung wirkten auch die wieder auflebenden Diskussionen um Kürzungen der Rundfunkbeiträge. So sei weder eine nachhaltige Medienpolitik in den Parteien noch eine dringend erforderliche medienpolitische Diskussion erkennbar. Hier müsse Gegendruck von unten – wie durch „Democracy now“ in den USA – mit Hilfe der neuen Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten aufgebaut werden.

Das Thema „Commonismus oder Kommunismus – Sozialismus von der Wissenschaft zur Utopie? “ bildete den Schwerpunkt der zweiten Podiumsdiskussion mit folgenden Fragestellungen: Welchen Wert haben modellhafte Veränderungen der Lebensweise wie damals in frühsozialistischen Utopien und heute in der Share-Economy? Sollten statt der von Marx noch angestrebten revolutionären Veränderung nunmehr kleine Modelle und/oder Inseln gepflegt werden? Andererseits – auf welche Eigentumsformen wollen wir hinaus, zumal Staatseigentum sich nicht bewährt hat? Unter der umsichtigen Moderation von Sabine Nuss (Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin) diskutierten Raul Zelik, Autor und Sozialwissenschaftler; Michael Heinrich, Politikwissenschaftler und Autor einer Marx-Biografie; Friederike Habermann, Volkswirtin und Historikerin; Jan Dieren, stv. Bundesvorsitzender der JungsozialistInnen. Weitgehend einige waren sich die Beteiligten in der Kritik der realen Verteilungssituation. Mit Blick auf die neoliberal deregulierten Reproduktionsverhältnisse wurden zwei Problemkreise im Staats- und Genossenschaftseigentum herausgestellt: Während im ersteren mit dem Zusammenfallen von Ökonomie und Herrschaft in der Staatsbürokratie totalitäre Tendenzen angelegt seien, liefen genossenschaftliche Insellösungen Gefahr, in einem Marktsozialismus mit eingeschriebenen Konkurrenzverhältnissen aufzugehen. Dagegen erforderten dezentrale Kooperationsbeziehungen zwischen den Betrieben in Richtung einer allseitigen Bedürfnisbefriedigung einen Bruch mit der Profitlogik. Dieser seien bereits größere Infrastrukturbereiche der gesellschaftlichen Grundversorgung in Gesundheit und Bildung, Kultur und Nahverkehr geopfert worden - in einer Art zweiter kapitalistischer „Landnahme“.

Zudem bleibe jedoch die Gewaltfrage, da die gegebenen Eigentums-, Produktions- und Herrschaftsverhältnisse sich nicht von allein vergesellschaften. Es bedürfe vielmehr kollektiver politischer Aktionen, so sehr eine Veränderung der Individuen selbst und lernende Kollektive mit neuen sozialen Beziehungs- und individuellen Lebensformen in einer sich verbreiternden inklusiven Commons-Bewegung wünschenswert seien. In der anschließend ins Plenum geöffneten Diskussion wurden insbesondere angesprochen: das Studium der regionalen Vielfalt genossenschaftlicher Projekte in Deutschland und Europa sowie die grundgesetzliche Unterscheidung zwischen Privateigentum und Gemeineigentum. Hier könnten die verfassungspolitisch eröffneten Handlungsmöglichkeiten den von Heinemann am Ende seiner Einleitung angesprochenen „Gegenentwürfen“ in der Commons-Bewegung einen institutionellen Rahmen bieten.

Paul Oehlke

„Marx in Hessen“

Diskussionstagung, Frankfurt am Main, 21. bis 22. April 2018

Am 21./22. April fand an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt a.M. eine Tagung „Marx in Hessen“ anlässlich des 200. Geburtstages von Karl Marx statt. Eingeladen hatten Prof. Bernd Belina und Prof. Alex Demirović von der Goethe-Universität in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der GEW Hessen, der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, dem Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie den in Frankfurt/M. ansässigen Redaktionen „express“ und „Z“. Diskutiert werden sollte über Geschichte und Aktualität des marxschen Denkens und seiner Rezeptionen und Weiterentwicklungen. Die Anknüpfungen an Marx im Nachkriegsdeutschland an den Universitäten Marburg und Frankfurt a.M. waren dabei immer wieder ein zentraler Bezugspunkt. Bei der Begrüßung der ca. 300 Teilnehmenden wurde zunächst die Marx-Rezeption im bürgerlichen Diskurs der Bundesrepublik im Vorfeld seines 200. Geburtstages angesprochen. Der Umstand,, dass die doch eigentlich zu erwartende Generalabrechnung ausgeblieben sei, wurde eher als Zeichen der Schwäche einer sich auf ihn beziehenden Linken gedeutet. Neben den zahlreichen bürgerlichen Publikationen zu Marx fehle es aktuell an linken „Standardwerken“ diesbezüglich, weshalb die Tagung es sich auch zum Ziel setzen sollte, zu einer Wirksamkeit der marxschen Theorie in der Praxis der Gegenwart beizutragen.

Stellvertretend für die beiden zentralen Standorte wissenschaftlicher Marx-Aneignung in Hessen, Marburg und Frankfurt a.M., erinnerten dann Frank Deppe – in historisch angelegten Streifzügen durch die Geschichte marxistischer Theorie und Bewegung in Hessen – und Joachim Hirsch – zu einigen theoretischen Fragen wie Krisen- und Staatstheorie – daran, dass der Marxismus an den Universitäten stets umkämpft und eine Frage politischer Kräfteverhältnisse und Auseinandersetzungen gewesen sei. Da Marxsches Denken bis heute einen zentralen Bezugspunkt emanzipatorischer Politik darstelle, zu der Wissenschaftler beider „Schulen“ Beiträge zu liefern sich bemühten, gelte es angesichts der aktuellen Entwicklungen von globalen Krisen und Konflikten für die Intellektuellen selbst wie auch die politische Bewegung, diese Umkämpftheit im Bewusstsein zu behalten. Im Anschluss an die Differenzen marxistischer Politik zwischen – wie es etwas schablonenhaft hieß – institutionenorientierter Machteroberung und gesellschaftsveränderndem Prozess entstand aus dem Plenum eine Diskussion um zukünftige linke Politik, bei der die Notwendigkeit des Entwurfs einer konkreten gesellschaftlichen Alternative unter Einbeziehung neuer Politikformen wie auch der Beschäftigung mit Machtverhältnissen und ihrer Gewinnung betont wurden.

Themenblock „Politische Implikationen der Marxschen Theorie und Weiterentwicklungen der Herrschaftskritik“: In einem ersten Panel („Umstrittene Interpretationen der Marxschen Theorie und ihre politischen Implikationen“) betonten sowohl Nadja Rakowitz (Redaktion Express. Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit) als auch David Salomon (Universität Hildesheim und Redakteur von „Z“) die Bedeutung von Marx´ Ökonomiekritik als Beitrag zu einer politischen Theorie, die explizit auch die Sphäre der Ökonomie zur Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit mit einzubeziehen habe. Während jedoch Rakowitz eben deshalb davor warnte, den Staat als zentrales Instrument hierfür zu begreifen, betonte Salomon dessen Bedeutung als politische Kampfarena, innerhalb welcher der Kampf um polit-ökonomische Veränderungen unter anderem zu führen sei. An diesen Punkt schloss auch die weitere Diskussion an, bei der vor allem die Frage nach Staatlichkeit in einer sozialistischen Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen Überflüssigkeit als konstitutivem Element eben nur der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und einem historisch zu verstehenden Staatsbegriff, der eben nicht mit der kapitalistischen Gesellschaft in eins zu setzen sei, im Mittelpunkt stand.

Im zweiten Panel („Herrschaftsverhältnisse: Zusammenhänge von Klassenherrschaft, Sexismus und Rassismus“) sprachen Kirsten Huckenbeck (Redaktion Express) über „Gesellschaft oder Identität?“, Silvia Kontos (Hochschule RheinMain) über „Perspektiven der linken Frauenbewegung“ und André Leisewitz (Redaktion „Z“) über „Aktualität der Klassentheorie“. In Vorträgen und Diskussion gab es durchaus Übereinstimmung darüber, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik mit Bezug auf soziale Struktur, Geschlechterbeziehungen und virulente Rassismen nicht in Kategorien von „Disparitäten“ oder „Intersektionalität“ gefasst werden könnten, sondern dass es sich um soziale Verhältnisse und Antagonismen handele. Wieweit diese Klassenverhältnisse darstellten oder durch diese geprägt seien, wurde unterschiedlich akzentuiert. Einigen Raum nahm die Diskussion um die zunehmender soziale Ungleichheit seit Mitte der 1970er Jahre ein (Nährboden rassistischer und nationalistischer Ideologien?) und das Verhältnis von Klassen- und Geschlechterfragen („Eigenlogik und Wechselwirkung“).

Themenblock „Staat, Raum Politik“: Im ersten Panel „Staat und Recht“ ging es um die für die bürgerliche Demokratie zentralen Kategorien von Staat und Recht im Anschluss an Marx. So stellten sich für Andrea Maihofer (Universität Basel) die Menschenrechte ambivalent dar, da sie einerseits universell und damit emanzipatorisch gegenüber feudaler Willkürherrschaft, andererseits konstitutiv für die bürgerliche Klassenherrschaft gewesen seien. Für eine zukünftige Bezugnahme herrschaftskritischer Politik auf die Menschenrechte gab sie ihren trotz des universellen Anspruchs vorhandenen Charakter partikularer Wertevorstellungen zu bedenken. Ein so reflektierter Menschenrechtsbegriff muss ihr zufolge nicht nur den abstrakten Menschen an sich, sondern das konkrete Individuum in seiner Unterschiedlichkeit mitdenken und somit einen Aushandlungsraum ermöglichen. Für John Kannankulam (Phillips-Universität Marburg) war der rote Faden, der sich durch Marx Werk zog, die Erkenntnis, dass gesellschaftliches Handeln den Menschen als äußerlich-fremde und nicht als ihre eigene Macht erscheint. Konkretes Beispiel hierfür sei der bürgerliche Staat als der Gesellschaft äußerliche Verdopplung ihrer selbst. Eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die damit einhergehende Durchsichtigkeit von Produktion und Distribution würde daher auch neue, radikaldemokratische Formen der Verwaltung von Gesellschaft möglich und nötig machen. Sonja Buckel (Universität Kassel) diskutierte im Anschluss verschiedene Ansätze der Abschaffung oder Transformation von Recht, um dann zu dem Fazit zu kommen, dass es vor allem die Gestaltung von Politik, Demokratie und Ökonomie sei, auf die es ankomme. Die Diskussion im Plenum ergab vor allem die Erkenntnis, dass es nicht „allein“ um eine Abschaffung des Kapitalismus, sondern auch um die Schaffung neuer Politik- und Demokratieformen im Sinne gesellschaftlicher Aushandlung gehen müsse.

Das zweite Panel behandelte „Raum und Politik“. Jens Wissel (Frankfurt University of Applied Sciences) sprach über „Globalisierung und Klassenkampf“, während Bernd Belina (Goethe-Universität Frankfurt/M.) fragte „Wo wird rechts gewählt?“. Dazu kommentierte Janine Wissler (Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Hessischen Landtag).

Themenblock „Kapitalismus als Weltsystem und die postkoloniale Konstellation“: Im ersten Panel „Kontroversen zu Marx‘ ungeschriebenen Büchern über Außenhandel und Weltmarkt – von den klassischen Imperialismustheorien zur Globalisierungsdiskussion“ stellte Thomas Sablowski (RLS-Stiftung, Berlin; „Zur Analyse der Internationalisierung des Kapitals und der ungleichen Entwicklung“) die gängigen bürgerlichen und linken/marxistischen Außenhandelstheorien vor. Kritisch setzte er sich mit der Dependenztheorie auseinander, die lediglich die Zirkulationssphäre im Auge habe. Die klassischen, an Lenin orientierten Imperialismustheorien seien aber ebenfalls nicht geeignet, die Realität der modernen Globalisierung zu erfassen, weil sie in ihrer Fixierung auf den Zusammenhang zwischen Monopolen und Staat als Periodisierungskriterien neuere Entwicklungen nicht einordnen könnten. Jörg Goldberg (Redaktion Z; „Marx‘ Kapital, der Weltmarkt und der Kapitalismus des Südens“) bezeichnete den Aufstieg und die kapitalistische Emanzipation neuer Wirtschaftsmächte wie die BRICS-Staaten als wichtigstes neues Moment. Marx habe zwar die globale Tendenz des in Westeuropa aus dem Feudalismus entstandenen Kapitalismus richtig analysiert. Er sei aber davon ausgegangen, dass sich diese – von ihm durchaus als spezifisch westeuropäisch erkannte – Form auf die ganze Welt ausbreiten würde. Das sei aber nicht der Fall – die sich in anderen Weltteilen herausbildenden kapitalistischen Gesellschaftsformationen wiesen eigenständige Ausprägungen auf. Unter diesem Gesichtspunkt sei daher die im ‚Kapital‘ am englischen Beispiel entwickelte Analyse zu überprüfen. In der sich anschließenden Diskussion stand die Frage im Mittelpunkt, ob tatsächlich, wie von beiden Referenten vertreten, die inneren Verhältnisse entscheidend seien für die Entwicklungen auf den Weltmärkten, oder ob das Verhältnis ‚innen – außen‘ im Mittelpunkt zu stehen habe.

Im zweiten Panel über „Postkoloniale Konstellation und imperiale Lebensweise“ wurde versucht, auf die Leerstellen des Marxismus im Kontext einer postkolonialen Weltkonstellation einzugehen. Ulrich Brand (Universität Wien) stellte hier eine globale Arbeitsteilung anhand rassifizierter und ethnifizierter Kriterien fest, die strukturell abgesichert und in sämtlichen Politikentwürfen bis ins linke Lager hinein nicht in Frage gestellt werden würde. Stefan Gandler (Universidad Nacional Autónoma de México) ging auf die Verdinglichung des Bewusstsein in den Ländern des globalen Südens ein, welches im Gegensatz zu den Ländern der „imperialen Lebensweise“ viel stärker mit einer subjektiven Identifizierung der globalen kapitalistischen Ordnung und ihrer Zerstörungsgewalt sowie dem Gefühl der eigenen Minderwertigkeit einhergehe. Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Universität Gießen) betonte besonders die Bedeutung von Kolonialismus am Beispiel der Plantagenökonomie für den bei Marx analysierten Prozess der Industrialisierung und Arbeitsteilung, der ohne diesen nicht vollständig zu verstehen sei. In der anschließenden Diskussion wurde hieraus maßgeblich auf die Konsequenz geschlossen, dass konkrete Kämpfe wie auch Politikkonzepte stärker den globalen Kontext theoretisch als auch praktisch mit einbeziehen sollten.

Am zweiten Tag eröffnete Hans Jürgen Urban (Geschäftsf. Vorst. der IG Metall) das Panel über „Emanzipatorische Perspektiven und die handelnden Subjekte“ mit einem kritischen Befund zum aktuellen Zustand der gesellschaftlichen Linken. Diese sei in Zeiten der Krise des Neoliberalismus fragmentiert und damit nicht interventions- oder gar hegemoniefähig. Das sei zum Teil auch Ursache des Erfolgs des Rechtspopulismus. Urban versuchte, dagegen Wege zur Bündelung linker Kräfte zu einem Projekt sozialer & ökologischer Transformation aufzuzeigen. Dabei dürfe man vor der Möglichkeit von Fehlern nicht zurückschrecken, sondern müsse diese in der eigenen Politik antizipieren. Einer konstruierten Gegenüberstellung von Klassen- und Identitätspolitik wurde eine klare Absage erteilt. So auch Alex Demirovic (Goethe-Uni Frankfurt a.M.). Er betonte die Notwendigkeit, Gesellschaft als Gesamtzusammenhang zu begreifen, um deren Aneignung und bewusste Gestaltung es nach Marx zu gehen habe. Die intellektuelle Praxis der Linken an der Uni dürfe sich nicht von der politischen Praxis lösen, da sie sonst Gefahr laufe, Herrschaftswissen zu werden. Hierfür brachte er auch die Idee einer „verbindenden“ Organisationsform wieder ins Spiel. In der Diskussion wurde insbesondere das Spannungsfeld zwischen Homogenisierung und Fragmentierung verschiedener Politiken und Identitäten als entscheidendes Problemfeld ausgemacht.

Das Abschlusspanel sollte die Lage linker, kritischer Wissenschaft konkreter beleuchten. Anne Titor (Friedrich-Schiller-Universität Jena) machte sich stark dafür, die Differenzen in der Marx-Interpretation produktiv zu nutzen, Bettina Gutperl (Studierendenverband DIE LINKE.SDS) sprach sich für eine stärkere Intervention in studentische Kämpfe an der Uni wie ihr Studierendenverband es versuche aus, Felix Wiegand (Goethe-Uni Frankfurt a.M.) schilderte das Institut für Humangeographie in Frankfurt als ein erfolgreiches Beispiel von Kräfteverschiebungen zugunsten der Linken an der Uni, forderte aber gleichzeitig auch ein stärkeres politisches Engagement linker Wissenschaftler vor Ort. Jenny Simon (Universität Kassel) stellte aus ihrer Erfahrung heraus fest, dass es offensichtlich eine Diskrepanz zwischen der großen Nachfrage nach marxistischer Gesellschaftskritik und dem vorhandenen Angebot gäbe, weshalb die Schaffung von niedrigschwelligen Möglichkeiten hierzu eine zentrale Aufgabe linker Wissenschaft für die Zukunft sei. Einig waren sich alle darüber, dass im Zuge des Rechtsrucks mit verschärften Angriffen auf kritische Wissenschaft zu rechnen sei und man sich kollektiv und solidarisch dagegen zu verteidigen habe.

Yannik Pein

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