Zeitschriftenschau/Aktuelle Debatten

Konflikte um Migration und Flüchtlingssolidarität

von Jörg Goldberg / André Leisewitz / Jürgen Reusch
September 2018

Allensbach: „Sehnsucht nach starker Führung“

Die Rechtsentwicklung hat sich nach der Bundestagswahl und der sich lange hinziehenden, konfliktreichen Regierungsbildung[1] weiter fortgesetzt; die Präsenz der AfD im Bundestag wirkt; sie instrumentalisiert das Migrationsthema („staatlicher Kontrollverlust“) und treibt die Bundesregierung durch wahlpolitischen Druck im Vorfeld von Landtagswahlen weiter nach rechts. Das besondere Bemühen der CSU und des Bundesinnenministers, ihr durch autoritäre, ausländer- und flüchtlingsfeindliche Rhetorik, Politikvorschläge und Maßnahmen zuvorzukommen, hat sie bisher nur gestärkt und das politische Klima weiter nach rechts verschoben. Das traditionell CDU-freundliche Allensbacher Institut konstatierte Mitte Juli in seinem „FAZ-Monatsbericht“, dass unbeschadet der seit langem rückläufigen Zahl der Asylanträge „unter dem Eindruck der erbitterten Kontroversen der letzten Wochen … die Beunruhigung der Bevölkerung über die Flüchtlingssituation wieder steil angestiegen“ sei. Im Juni 2018 bereitete, in der Allensbach-Terminologie, „die derzeitige Flüchtlingssituation“ 47 Prozent der Befragten „große Sorge“. Auf dem Höhepunkt der gesellschaftlichen Kontroverse waren es im Herbst 2015 53 Prozent gewesen, ein Wert, der bis zum Frühjahr 2017 kontinuierlich auf 26 Prozent zurückgefallen war, um dann mit dem Wahlkampf und der aktuellen Flüchtlingshetze wieder hochgetrieben zu werden. Lt. Allensbach favorisieren derzeit 60 Prozent der Bevölkerung anstelle von Kompromissorientierung „starke politische Führungsfiguren, die eine klare Richtung vorgeben und sich durchsetzen“.[2]

Flüchtlingshilfe: Gespaltene Gesellschaft

Im „Forschungsjournal Soziale Bewegungen“ untersuchen Fabian Beckmann, Fabian Hoose und Anna-Lena Schönauer Einstellungen zur Flüchtlingshilfe.[3] Ihre eigenen Untersuchungen wie die aus anderen Studien[4] referierten Daten für 2016 bzw. 2017 zeigen, dass die Bereitschaft zur Flüchtlingshilfe nach wie vor relativ groß ist. Im Mai 2016 beurteilten im Ruhrgebiet 58 Prozent der Befragten ab 18 Jahren das Engagement für Flüchtlinge positiv bzw. sehr positiv (ein Viertel „teils/teils“, knapp 20 Prozent negativ). Zwei Drittel der Befragten befürworteten eine staatliche Unterstützung der Flüchtlingshilfe. Die Ambivalenzder Einstellungen zeigt sich aber schon darin, dass weniger als die Hälfte einen Ausbau der Flüchtlingshilfe für angezeigt hielt. Soziales Engagement insgesamt oder Hilfe für ältere Personen („Altenhilfe“) wurden deutlich positiver bewertet. Die im Vergleich negativere Einstellung zum Engagement für geflüchtete Menschen hat, so die AutorInnen, vermutlich darin ihre Ursache, dass viele Befragte Flüchtlingshilfe eigentlich nicht für eine „Aufgabe engagierter BürgerInnen“ hielten und darin auch keinen positiven Nutzen für die Aufnahmegesellschaft sahen. Der Bertelsmann-Studie (2017) zufolge erweist sich die „Willkommenskultur“ über die letzten fünf Jahre als „erstaunlich robust“; Zuwanderung wird heute aber deutlich kritischer gesehen. Knapp 60 Prozent der Befragten gingen 2017 davon aus, dass Flüchtlinge in der Bevölkerung willkommen sind (Ostdeutschland: 33, Westdeutschland: 65 Prozent). Bei Einwanderern ist der Wert mit über 70 Prozent deutlich höher. Anfang 2017 sah eine knappe Mehrheit der Befragten (54 Prozent) Deutschland „an seiner Belastungsgrenze angekommen“, 2015 waren es nur 40 Prozent. Der Meinungsumschwung in dieser Frage erfolgte vor allem in Westdeutschland. Die große Mehrheit der Bevölkerung stimmte der Meinung zu, dass jetzt die andern EU-Länder an der Reihe seien, „ihren Beitrag zur Lösung der Flüchtlingsfrage“ zu leisten. Insgesamt zeigt sich also, dass nach wie vor eine gesellschaftliche Mehrheit (fast 60 Prozent) Hilfe für Flüchtlinge positiv bewertet und einfordert, dass aber „die Strahlkraft der Willkommenskultur“ sich deutlich abgeschwächt hat.

Beckmann u.a. stellen fest, dass ablehnende Haltungen gegenüber dem Flüchtlingsengagement nicht auf „prekäre sozialökonomische Lagen, eine defizitäre Arbeitsmarktintegration oder eine unterdurchschnittliche Schul- oder Berufsausbildung“ zurückgeführt werden können. Dies gilt auch für Unzufriedenheit mit der eigenen sozialen oder Einkommenssituation. Als „signifikante Einflussvariable“ erweisen sich dagegen 1.) die politische Orientierung (mehr als 80 Prozent derer, die sich „links der politischen Mitte“ verorten, sind gegenüber Flüchtlingshilfe positiv eingestellt; bei den sich „rechts der Mitte“ verortenden sind es nur etwa 25 Prozent), 2.) die Parteipräferenz und 3.) „die Zufriedenheit mit der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit in Deutschland“. Sie fanden, dass „eine als defizitär erlebte Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit mit signifikant negativeren Einstellungen gegenüber dem Flüchtlingsengagement einhergeht“. „Aus einer wahrgenommenen gesellschaftlichen Ungleichverteilung …, die jedoch nicht zwingend mit einer individuellen Schlechterstellung einhergehen muss, können folglich Ablehnung und Ressentiments entstehen, die zur Abwertung als nicht dazugehörig empfundener Gruppen sowie einer Delegitimierung von Hilfen für diese Outsider führen kann.“ Diesen Sachverhalt analysieren im Detail Klaus Dörre u. a. im „Berliner Journal für Soziologie“ [5]. Sie stellen ihn in den klassenpolitischen Kontext eines durch verfestigte prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse unterschichteten, globalisierten Konkurrenzkapitalismus, in dem subjektiv erlebte Abwertungen des eigenen Status nicht entlang der Achse von Arbeit und Kapital, sondern der von „außen“ und „innen“ interpretiert und nationalistisch-rassistisch aufgeladen werden können.

Diese Studien ergeben: Die Linke kann sich im Kampf für Solidarität mit MigrantInnen und gegen Rassismus zwar auf eine gesellschaftliche Mehrheit mehr oder weniger quer durch alle sozialen Schichten stützen, aber sie muss diese Mehrheiten aktivieren und ihnen Artikulationsmöglichkeiten bieten, um sie zu stabilisieren und dem durchaus wirksamen rechten Druck etwas entgegenzusetzen.

Handlungsorientierte Initiativen

Demonstrationen gegen rassistische Hetze, gegen AfD-Zusammenrottungen, für Seenotrettung von Flüchtlingen, gegen Polizeigesetze und Überwachungsstaat, zahlreiche Initiativen, Aufrufe, Kundgebungen und andere Aktionen gegen die Rechtsentwicklung sind in den letzten Monaten wie Pilze aus dem Boden geschossen. Viele dieser Initiativen sind spontan, aus der tagespolitischen Aktualität heraus entstanden. Bisher sind sie kaum miteinander verbunden. Ob und wie daraus dauerhafte Strukturen und Netzwerke entstehen, muss sich erst noch zeigen. Einige Beispiele:[6]

- Das in zahlreiche lokale und regionale Initiativen gegliederte Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus“ hat seit 2016 viele Aktionen gegen die AfD auf den Weg gebracht, darunter gegen den AfD-Parteitag im Juni in Augsburg. Der kurz gehaltene Aufruf wurde bisher von 18.000 Personen unterzeichnet, darunter Linke, viele Sozialdemokraten, Grüne, GewerkschafterInnen, der Zentralrat der Muslime, die Alevitische Gemeinde u.a.

- Die im Juni 2018 veröffentlichte „Berliner Erklärung zum Flüchtlingsschutz“ verbindet eine scharfe und konkrete Kritik an der inhumanen Abschottungspraxis der Bundesregierung mit dem Engagement für Demokratie und Menschenrechte. Sie wird von fast 20 sozialen und demokratischen Initiativen aus der Zivilgesellschaft getragen – pro asyl, terre des hommes, Paritätischer Gesamtverband, Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Sea-Watch.org u.a.m.

- Über 2.100 KünstlerInnen und Kulturschaffende haben seit 2009 den bundesweiten Aufruf www.unruhestiften.de unterzeichnet – für humane und solidarische Aufnahme von Flüchtlingen und gegen Abschiebehysterie und Hetze.

- Der Aufruf „Welcome United“ argumentiert aus der Perspektive von hier lebenden Geflüchteten, die sich gegen Diskriminierungen und Schikanen wenden. Er hat für den 29. September zu einer großen antirassistischen Parade in Hamburg aufgerufen.

Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Alle diese Initiativen wenden sich engagiert gegen den aggressiver werdenden Rassismus, der im Aufstieg der AfD sichtbar wird, aber auch weit in die „Mitte“ der Gesellschaft und des politischen Spektrums hineinreicht, und verbinden dies mit konkreten Forderungen und Handlungsorientierungen. Es fehlt aber bisher an einer Initiative, die deutlich macht, dass dieser Rassismus Teil einer antidemokratischen, antisozialen (und nicht auf die AfD beschränkten) Rechtsentwicklung ist, die sich nicht nur gegen Flüchtlinge, sondern letztlich gegen alle Schwachen und Benachteiligten richtet (wie dies die Studie von Dörre u.a. zeigt). Und es fehlt an einem Bündnis, das dagegen einen gesellschaftlichen Aufbruch initiiert und eine politisch breit anschlussfähige, solidarische und demokratische Gegenposition formuliert.

Solidarität ohne Klassenbezug?

In Teilen der deutschen Linken schlägt seit einigen Wochen ein weiterer Aufruf Wellen, der sich unter dem absurden Titel „Solidarität statt Heimat“ von Klassenpolitik verabschiedet (https://solidaritaet-statt-heimat.kritnet.org). Dieser Aufruf von kritnet, medico international und dem Institut solidarische Moderne (ISM) mit derzeit 16.000 UnterzeichnerInnen erweckt den Anschein, einen Schritt in Richtung einer umfassenden solidarischen Gegenposition zu tun. Aber weit gefehlt. Er enthält Passagen, die zu Recht unter Linken grundsätzliche Kritik ausgelöst haben.

Ingar Solty setzt sich mit der Grundhaltung dieses Aufrufs auseinander.[7] Er macht darauf aufmerksam, dass Flucht und Migration das Ergebnis von Zwängen ist, die der Ausbreitung und der ungleichmäßigen Entwicklung des modernen Kapitalismus geschuldet sind. Während der Aufruf ganz im Sinne der über ‚Fachkräftemangel‘ klagenden Wirtschaft Migration als „Kraft von Pluralisierung und Demokratisierung“ begrüßt, verweist Solty auf die Tatsache, dass Flüchtlinge und Migranten – aus unterschiedlichen Gründen – ihre Heimat aufgeben müssen. Er konstatiert: „Denn das Recht zu migrieren ist ebenso bedeutsam wie das Recht, bleiben zu dürfen, sich eine Heimat zu schaffen.“ (102) Solidarität mit Flüchtlingen und Migranten kann sich nicht darauf beschränken, diese willkommen zu heißen: Solidarisch sein heißt ebenso, den Zwang zu Flucht und Migration, deren Opfer Migrantinnen und Migranten sind, zu benennen und zu bekämpfen: „Wer heute über Migration spricht“, hebt er gegen den klassenneutralen Tenor des Aufrufs hervor, „muss auch über den Kapitalismus sprechen – und über den Verlust und die Aneignung von Heimat.“ (97) Der marktradikal entfesselte Kapitalismus der Gegenwart, das „Projekt Globalisierung“ (98), treibt die Proletarisierung im Süden an und ist Triebkraft der Migration. Wer das „Recht zu bleiben“ verteidigt, der muss mit einer Politik brechen, „die die Gestalt unserer Umwelt Marktkräften überlässt“ (103).

Der Aufruf ist angereichert mit einer „versteckten Agenda“, wie Hans-Jürgen Urban kritisiert: „Die Subbotschaft des Aufrufs zielt auf eine innerlinke Kontroverse.“[8] Das macht ihn zu einem bewusst ab- und ausgrenzenden innerlinken Richtungsprojekt. Er zählt die der Wagenknecht-Richtung in der Linken zugeschriebenen Positionen zum Rassismus und schließt sie aus dem antirassistischen Spektrum aus. Die Initiatoren bestätigen das (vgl. „junge welt“ vom 22.6.2018): Es sei die Wagenknecht-Lafontaine-Initiative für eine linke Sammlungsbewegung gewesen, die den Auslöser für den Aufruf gegeben habe. Dass er nicht auf eine breite Sammlungsbewegung zur Aktivierung und Ausweitung der für Solidarität mit MigrantInnen zugänglichen Bevölkerung setzt, zeigt auch der Bezug auf das im ISM vertretene, nicht minder desorientierende Konzept des „dissidenten Drittels“. Dessen Propagandist, der „Links-Heideggerianer“ Thomas Seibert, erklärte in einem Interview auf kommunisten.de: „Auf den Punkt gebracht: der Bezug aufs dissidente Drittel behauptet eine Alternative zu der ‚klassenpolitischen‘ Wende, an der im Moment vielerorts gestrickt wird.“ Das ist das Plädoyer für klassenpolitische und kapitalismuskritische Abstinenz, während es für Linke in den demokratischen Bewegungen und Bündnissen gegen rechts doch darum gehen müsste, mit einer inklusiven Klassenpolitik „die gespaltenen und wechselseitig in Konkurrenz getriebenen Teile der abhängig Arbeitenden und Lebenden“ zusammenzuführen und „die Geflüchteten mit ihren Interessen und Bedürfnissen“ einzubeziehen (Urban) und damit ihrer rassistischen Diskriminierung entgegenzutreten. Die Verfasser des Aufrufs verstehen Rassismus dagegen als eine ideologische Verirrung, die bei einem Teil der Bevölkerung schon immer vorhanden war und jetzt aktiviert wird, ohne dass man über deren Nährboden in den materiellen Verhältnissen dieser Gesellschaft weiter nachdenken müsste.[9] Dem stellen sie ein rein gesinnungsethisches Bekenntnis entgegen.

Nationalstaat und internationale Solidarität

Hinzu kommt ein merkwürdiger Widerspruch: Einerseits beklagt der Aufruf die deutsche Spar- und Exportpolitik, die „Ressourcen für gesellschaftliche Solidarität blockiert.“ Nur einen Satz weiter aber wird der Kampf gegen diese Politik als „ständische oder nationalistische Wohlfahrtsstaatlichkeit“ diffamiert, es wird behauptet, diese setze auf soziale Vorrechte und Abschottung. Damit wird ein gängiger Diskurs bemüht, der die Verteidigung des Sozialstaats (die natürlich zunächst den jeweiligen nationalen Rahmen im Auge hat) in die Nähe von Nationalismus rückt – im Sinne der Entgegensetzung zwischen weltoffenen ‚Globalisierungsgewinnern‘ einerseits und zu Nationalismus und Rassismus neigenden ‚Globalisierungsverlierern‘ andererseits.

Diese falsche Gegenüberstellung von Nationalstaat und Internationalismus findet sich auch in den Debatten über das Verhältnis zur EU: Mehr Nationalstaat oder mehr Europa lautet die einfache Formel. In einem programmatischen Aufsatz deutet Axel Troost[10] an, dass nicht nur das „Anschwellen der Migrationsströme“ nach Europa und der Umgang der EU damit, sondern auch die „Skepsis gegenüber Globalisierung und Freihandel“ zu einer Erstarkung national-chauvinistischer Kräfte und zur Infragestellung der EU geführt habe. Er konstatiert „Kontrollverluste der Nationalstaaten“ und lässt implizit durchblicken, dass dies nur durch eine Stärkung der europäischen Ebene auf Kosten der Entscheidungsspielräume der Nationalstaaten beantwortet werden könne.

Dabei erscheint die Grundorientierung in Troosts EU-Konzept sinnvoll. Ein Austritt aus der EU bzw. deren Auflösung dürften weder realistisch sein noch auch nur wünschenswert: Wenig spricht dafür, dass dadurch die Spielräume für soziale und ökologische Politik größer würden. Troost ist zuzustimmen, wenn er die konstatierten sozialen Fehlentwicklungen in der EU in erster Linie den nationalen Regierungen vorwirft: „Denn es sind die nationalen Regierungsapparate und politischen Eliten, die seit Jahrzehnten sich der Logik der Austeritätspolitik unterwerfen…“ Wenn aber die Grundlage der Fehlentwicklungen in der EU falsche Orientierungen in den großen Nationalstaaten sind – an der Spitze die unsoziale Spar- und Exportpolitik Deutschlands – dann liegt die Lösung ebenfalls auf der Ebene der Nationalstaaten. Die Behauptung: „Vor dem Hintergrund freier Kapital- und Warenströme sowie einer gemeinsamen Währung können nationale Regierungen in den zentralen Feldern der Wirtschafts-, Sozial- und Lohnpolitik keine progressive Politik im nationalen Alleingang durchhalten“ ist u.E. falsch, insbesondere wenn es um starke Ökonomien wie die Deutschlands oder Frankreichs geht. Dies ist eine Logik, die – konsequent zuende gedacht – jeden Kampf zur Verteidigung und zum Ausbau sozialer Rechte ad absurdum führen würde. Denn bei solchen Kämpfen – erinnert sei an die aktuelle Situation in Frankreich – stehen immer die jeweiligen nationalen Bedingungen im Mittelpunkt. Der Verweis auf angebliche globale Zwänge ist das Argument des Gegners. Veränderungen auf EU-Ebene reflektieren immer die jeweiligen Kräfteverhältnisse in den Nationalstaaten. Troosts Vorschlag, die Linke solle die „Europa-Frage als prioritäres Problemfeld“ betrachten, führt dann in die Irre, wenn ein Gegensatz zwischen Nationalstaat und EU konstruiert wird. Es sind die im Rahmen der Nationalstaaten relevanten Themen und Konfliktfelder, an denen sich jene sozialen Kräfte formieren, die allein in der Lage sind, notwendige Veränderungen der EU-Politik durchzusetzen. Die auch bei Troost durchschimmernde falsche Entgegensetzung von „Renaissance des Nationalstaats“ (wobei der „Flächenbrand des Nationalismus“ heraufbeschworen wird) einerseits und „mehr Europa“ andererseits übersieht, dass progressive Lösungen auf europäischer Ebene nur möglich sind, wenn sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der Nationalstaaten verschieben. Angesichts der enormen Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten zwischen den EU-Mitgliedsstaaten, die – wie Troost richtig bemerkt – zuletzt eher größer geworden sind, ist nicht damit zu rechnen, dass sich die sozialen Prozesse überall in die gleiche Richtung entwickeln. Aktuelle Beispiele sind die Entwicklungen in Griechenland und Portugal einerseits, in einigen osteuropäischen Ländern andererseits. Soll die „Säule Sozialer Rechte“ auf EU-Ebene verbindlich durchgesetzt werden, so wird das nur gelingen, wenn in einigen wichtigen Nationalstaaten Bewegungen für die Durchsetzung entsprechender Forderungen erfolgreich sind. Die Behauptung, progressive soziale Lösungen könnten nicht „im nationalen Alleingang“ umgesetzt werden, würde diese Bewegungen entwaffnen und damit auch progressive Entwicklungen in der EU blockieren.

Jörg Goldberg / André Leisewitz / Jürgen Reusch

[1] Siehe Z 112 (Dezember 2017), S. 18-32, und Z 114 (Juni 2018), S. 140-153.

[2] Renate Köcher, Sehnsucht nach starker Führung, in: FAZ v. 18.7.2018.

[3] Fabian Beckmann/Fabian Hoose/Anna-Lena Schönauer, Soziales Engagement in der Flüchtlingshilfe, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, H. 3/2017, S. 24-34. Basis ist eine repräsentative Online-Befragung von 1.090 Bewohnern des Ruhrgebiets im Alter ab 18 Jahren vom Mai 2016.

[4] Willkommenskultur im „Stresstest“. Einstellungen in der Bevölkerung 2017 und Entwicklungen und Trends seit 2011/2012. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage (Kantar Emnid), Bertelsmann Stiftung, April 2017; Petra-Angela Ahrens, Skepsis und Zuversicht. Wie blickt Deutschland auf Flüchtlinge? Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Hannover 2017.

[5] Klaus Dörre, Sophie Bose, John Lütten, Jakob Köster, Arbeiterbewegung von rechts? Motive und Grenzen einer imaginären Revolte. Download: https://doi.org/10.1007/s11609-018-0352-z

[6] Siehe: aufstehen-gegen-rassismus.de; (https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/.../ 180627_erklaerung.pdf); www.unruhestiften.de¸ www.welcome-united.org.

[7] Ingar Solty, Solidarität und Heimat, in: Blätter f. deutsche u. internationale Politik, H.8/2018, S. 97 ff.

[8] „Anti-Rassismus und eine versteckte Agenda“. Interview mit Hans-Jürgen Urban, in: www.freitag.de/autoren/der-freitag/anti-rassismus-und-eine-versteckte-agenda.

[9] Hierzu grundsätzlich: Wulf D. Hund, Rassismus und Antirassismus, Köln 2018, insbes. S. 16ff. („Rassismus als soziales Verhältnis“).

[10] Linke Alternativen für ein solidarisches Europa. Der Text erscheint in: Walter Baier/Bernhard Müller (Hrsg.), Integration – Desintegration– Nationalismus. transform! Jahrbuch, Hamburg 2018.

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