Klassen und neue Klassendiskussion

Die Klassenlandschaft in Deutschland 2018

von Ralf Krämer
Dezember 2018

Die marxistische Klassentheorie stellt eine Verbindung her zwischen der Sozialstruktur einer Gesellschaft und den Produktionsverhältnissen, also der Struktur und Organisation des gesellschaftlichen Produktionsprozesses und den daraus resultierenden Einkommensformen und -verhältnisse, ihrer Dynamik und der Stellung der Menschen darin. Damit verbunden sind unterschiedliche und auch gegensätzliche Interessenlagen sowie Machtpositionen in Gesellschaft und Politik. Letztlich fragt marxistische Klassentheorie danach, welche Bewusstseinsstrukturen die Menschen in sozialen Klassenzusammenhängen entwickeln und wie sie sich organisieren, als soziale Großgruppen formieren und in gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen – Klassenkämpfen – und Veränderungsprozessen wirksam werden.

Klassenverhältnisse im Kapitalismus

Eine „klassische“ Definition stammt von Lenin: „Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der andern aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft.“[1] Die gesellschaftlich und politisch relevante Formierung der Klassen vollzieht sich im Rahmen der einzelnen Gesellschaften und Staaten, so wie auch die Weltwirtschaft ein System miteinander verflochtener Nationalökonomien ist, die sich auf jeweils sehr unterschiedlichem Niveau und mit unterschiedlicher Dynamik entwickeln.

In Deutschland haben wir es mit einer bürgerlichen Gesellschaft zu tun, die durch kapitalistische Produktionsweise beherrscht wird, also durch die Produktion von Waren – Gütern und Dienstleistungen für den Verkauf – zum Zweck der Erzielung von möglichst viel Profit. Dies bestimmt die Struktur und Entwicklungsdynamik der Gesellschaft. Kapitalistische Klassenverhältnisse beruhen auf der Konzentration des Eigentums an den wesentlichen Produktionsmitteln bei einer kleinen Minderheit der Gesellschaft einerseits, der „doppelten Freiheit“ der Lohnabhängigen andererseits. Diese sind einerseits persönlich rechtlich frei, andererseits frei von eigenen Produktionsmitteln und daher ökonomisch und sozial abhängig und gezwungen, zum Erwerb ihres Lebensunterhalts ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Das Kapital ist nicht nur ökonomisch, sondern auch gesellschaftlich die herrschende Macht. Andererseits wäre es falsch, die gesamte Gesellschaft als durch und durch nur kapitalistisch zu betrachten. Ein relevanter Teil der Erwerbstätigen arbeitet außerhalb des kapitalistischen Sektors und ein wesentlicher Teil der gesamten notwendigen Arbeit wird unbezahlt in privaten Haushalten erbracht.

In der kapitalistischen Produktion erzeugen die Lohnarbeitenden unter Kontrolle der Produktionsmitteleigentümer oder ihrer Funktionäre Mehrwert, der von den Eigentümern des Kapitals angeeignet und teils konsumiert, vor allem aber zur Vergrößerung ihres Kapitals eingesetzt wird. Diese mehrwert-produktiven Lohnarbeitenden bilden die ArbeiterInnenklasse im engeren Sinne; ein anderer Teil der Lohnabhängigen arbeitet außerhalb dieses Bereichs. Die kapitalistische Klasse ist die der privaten Eigentümer größerer, gemeinschaftlich genutzter Produktionsmittel, Immobilien oder großer Geldvermögen. Ihre Einkommen speisen sich aus verschiedenen Formen von Mehrwert, also letztlich aus der Ausbeutung fremder Arbeit. Kapitalistenklasse einerseits, LohnarbeiterInnenklasse andererseits – das ist die hauptsächliche sozial-ökonomische Klassenspaltung der kapitalistischen Gesellschaft. Dazwischen gibt es selbständige und lohnabhängige Mittelschichten, darunter eine Unterklasse von dauerhaft Ausgegrenzten. Aber auch die Hauptklassen selbst sind ausdifferenziert und fraktioniert. Die allermeisten Lohnabhängigen verbrauchen ihr Einkommen ganz überwiegend zum Lebensunterhalt (im weitesten Sinne) und haben wenig Möglichkeiten, größere Vermögen zu bilden. Dadurch wird die Ungleichheit der Verteilung der Einkommen, Vermögen, Lebenschancen und Macht beständig reproduziert und tendenziell verschärft.

Lohnarbeit in Deutschland

2018 gibt es in Deutschland über 40 Millionen abhängig Beschäftigte, das ist historischer Höchststand (vgl. Tab. 1). Davon sind allerdings über fünf Millionen nur geringfügig Beschäftigte, in den letzten Jahren mit leicht abnehmender Tendenz. Über 32 Millionen sind sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Dazu kommen 1,8 Millionen BeamtInnen, RichterInnen und SoldatInnen. Etwa 1,9 Millionen Personen befinden sich in Berufsausbildung. Insgesamt arbeiten über 24 Millionen in Vollzeit und über 10 Millionen in nicht nur geringfügiger Teilzeit. Der Anteil dieser Teilzeitbeschäftigten an den Lohnarbeitenden steigt kontinuierlich an, seit 1991 von gut zehn auf gegenwärtig 26 Prozent. Die Vollzeitbeschäftigung ist von über 80 Prozent 1991 auf gut 60 Prozent der Personen gesunken, am Stundenvolumen auf 78 Prozent, hat sich aber in den letzten Jahren etwas stabilisiert und nimmt bei guter Wirtschaftslage absolut wieder zu. Die Zunahme atypischer und überdurchschnittlich häufig prekärer Beschäftigung (Nicht-Vollzeit, befristet oder Leiharbeit) erfolgte vor allem in den 1990er und 2000er Jahren, seit 2010 ist eine Stabilisierung zu verzeichnen. Ein durchgehender Trend ist die fortschreitende Flexibilisierung der Arbeitszeiten und die Ausweitung von Schicht- und Wochenendarbeit sowie die Zunahme von Nebenjobs und Mehrfachbeschäftigungen. Über die Hälfte der Beschäftigten macht zudem regelmäßig Überstunden.

Über 80 Prozent der abhängig Beschäftigten, etwa 33 Millionen, davon 29 Millionen sozialversicherungspflichtig, arbeiten bei den weit über drei Millionen privaten Unternehmen. Etwa 14 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte arbeiten in den knapp 15.000 Großunternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten oder 50 Millionen Euro Jahresumsatz, davon etwa zehn Millionen in Großbetrieben (viele größere Unternehmen haben mehrere Betriebe). Etwa je sechs Millionen sind in kleineren Unternehmen mit 9 bis 49 Beschäftigten und in mittleren von 50 bis 249 Beschäftigten tätig. Gut vier Millionen arbeiten in Kleinstunternehmen mit unter 10 Beschäftigten.

Tab. 1: Abhängig Beschäftigte in der BRD 2018 – Sozialstrukturdaten in Mio. Personen

Tabelle siehe PDF!

Nur noch weniger als ein Viertel der bei Unternehmen Beschäftigten arbeitet in der Industrie, davon über die Hälfte in Großbetrieben, weitere sieben Prozent in Bauwirtschaft, Ver- und Entsorgung. Etwa ein Viertel arbeitet in Handel, Verkehr und Gastgewerbe, überwiegend in Klein- und Kleinstbetrieben. Über ein Fünftel arbeitet im Gesundheits- und Sozialwesen, Erziehung und Unterricht oder Kultur und Erholung, ein Viertel in sonstigen privaten Dienstleistungsbereichen.

Etwa 4,7 Millionen Beschäftigte, also knapp ein Siebtel der nicht nur geringfügig Beschäftigten, arbeiten im öffentlichen Dienst, davon etwa ein Drittel in der allgemeinen Verwaltung, Sicherheitseinrichtungen usw. und zwei Drittel in Bereichen von Bildung und Wissenschaften, sozialstaatlichen Leistungen und Daseinsvorsorge. Weitere 1,2 Millionen arbeiten bei Einrichtungen und Unternehmen in überwiegend öffentlichem Eigentum in privater Rechtsform, also insgesamt knapp sechs Millionen bei öffentlichen Arbeitgebern. Etwa zweieinhalb Millionen Beschäftigte sind im so genannten „Dritten Sektor“ der nicht gewinnorientierten Unternehmen und Organisationen außerhalb des öffentlichen Sektors beschäftigt. Insgesamt ist damit etwa ein Viertel der Lohnarbeitenden nicht für kapitalistische Unternehmen tätig.

Über die Hälfte der Arbeitsplätze und knapp die Hälfte der Bevölkerung befinden sich in sehr zentralen städtischen Räumen, gut ein Fünftel der Arbeitsplätze, aber etwa ein Viertel der Bevölkerung dagegen in peripheren, abgelegenen Regionen, v.a. in Ostdeutschland. Von der „vertikalen“ Struktur her arbeiten etwa drei Prozent der Beschäftigten in Führungsfunktionen, etwa 13 Prozent als ganz überwiegend akademisch qualifizierte Experten. Nur die Vollzeitbeschäftigten betrachtet ist ihr Anteil etwa um die Hälfte höher und je nach Abgrenzung ergeben sich etwas abweichende Anteile. 55 Prozent sind Fachkräfte, 14 Prozent Spezialisten. Etwa 18 Prozent der Beschäftigten arbeiten als überwiegend Un- und Angelernte auf Helferniveau. Nach Berufen betrachtet zeigt die Tabelle 2 die Zusammensetzung des gesellschaftlichen Arbeitskörpers und seine voraussichtliche Entwicklung.

Alle Differenzierungen innerhalb der Lohnarbeit sind auch mit Unterschieden bei den üblicherweise erzielten Löhnen verbunden. [2] Grob gesagt wirken sich folgende, häufig miteinander verflochtene, Merkmale des Beschäftigungsverhältnisses oder Arbeitsplatzes negativ auf die Lohnhöhe aus:

- niedrigeres Anforderungsniveau der Tätigkeit und Stellung in der betrieblichen Hierarchie,

- Teilzeit und insbesondere geringfügige Beschäftigung, Befristung, Leiharbeit,

- relativ kurze Betriebszugehörigkeit,

- kleineres Unternehmen oder von kleineren Unternehmen geprägte Branchen,

- keine Tarifbindung,

- Lage in eher ländlichen Regionen oder in Ostdeutschland,

- hoher Frauenanteil in der Branche oder dem Berufsfeld.

Sektoral sind die Löhne in Land-und Forstwirtschaft, Bau, Verkehr und Logistik, Security und Hausdienste, Gastgewerbe und Einzelhandel besonders niedrig. Von den persönlichen Merkmalen her sind geringe formale Qualifikation, geringes Alter, Migrationshintergrund und weibliches Geschlecht mit durchschnittlich geringeren Löhnen verbunden. In den letzten Jahrzehnten hat die Spreizung der Löhne, also der Abstand zwischen hohen und niedrigen Löhnen, deutlich zugenommen.

Entnommen aus: BIBB-Report 3/2016. S. 8.

Reproduktionsarbeit und Geschlechterverhältnisse

Die gesellschaftlich in Erwerbsarbeit organisierte Produktion von Gütern und Dienstleistungen und die Aneignung der daraus resultierenden Einkommen bestimmt die sozialökonomische Dynamik und die Klassenlagen, ist aber nicht zu trennen von der unbezahlt überwiegend in den privaten Haushalten geleisteten gesellschaftlich notwendigen Arbeit und ihrer Verteilung. Auch dies gehört zu den Produktionsverhältnissen. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung ist eng verknüpft mit den Geschlechterverhältnissen. Insbesondere Erziehungs-, Betreuungs- und Pflegeaufgaben werden immer noch überwiegend den Frauen zugeordnet und durch sie geleistet. Ein relevanter Teil dieser „Care-Arbeit“ wird zudem auf migrantische Frauen abgewälzt. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen und insbesondere der Mütter ist (in den Ländern der alten BRD) in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Doch ein großer Teil insbesondere der Mütter ist nur in Teilzeit oder sogar nur geringfügig erwerbstätig. Nimmt man bezahlte und unbezahlte Arbeit zusammen, arbeiten Männer und Frauen etwa gleich lang, mit Kindern fast 60 Stunden die Woche, ohne Kinder knapp 50 Stunden. Doch die Frauen haben im Durchschnitt nur etwa halb so viel „eigenes Geld“ wie die Männer.

Etwa 47 Prozent der Erwerbstätigen und 48 Prozent der Lohnarbeitenden sind Frauen. Doch die geschlechtsspezifischen Unterschiede sind größer als diese Zahlen zeigen. Bei den Männern sind nach der Ausbildung über 85 Prozent erwerbstätig, und zwar zu über 90 Prozent in Vollzeit, bis die Quote bei den Älteren wieder absinkt. Das gilt fast unabhängig von Haushaltskonstellation und Kinderzahl. Bei den erwachsenen Frauen sind um die drei Viertel erwerbstätig, davon allerdings nur etwa die Hälfte in Vollzeit. Frauen mit Kindern sind überwiegend in Teilzeit oder sogar nur geringfügig beschäftigt, und bei Kindern unter drei Jahren sowie drei und mehr Kindern überwiegend nicht erwerbstätig (was hier nicht arbeits- bzw. erwerbslos bedeutet; sie leben überwiegend in Paarhaushalten). Alleinerziehende (ganz überwiegend Frauen) sind überwiegend in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt und zudem zu einem hohen Anteil erwerbslos, fast ein Drittel sind von Armut bedroht.

Im Zuge der Feminisierung der Erwerbsarbeit ist mittlerweile auch für nahezu alle jungen Frauen wie für die Männer die biografische Perspektive die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Damit ist auch ein größerer Bevölkerungsanteil als früher unmittelbar und nicht nur vermittelt über den Haushaltszusammenhang in Klassenverhältnisse einbezogen. Allerdings ist die Vollzeitbeschäftigung von Frauen in Paarhaushalten gegenüber 1991 sogar zurückgegangen. Die Standardkonstellation bei Paarhaushalten mit Kindern hat sich von Nichterwerbstätigkeit der Frau zu Teilzeitarbeit der Frau verschoben. Nur weniger als jede fünfte Mutter mit minderjährigen Kindern ist in Vollzeit erwerbstätig, während die Männer unverändert Vollzeit arbeiten und nur bei wenigen Prozent der Eltern allein oder überwiegend die Frau erwerbstätig ist. Zugespitzt könnte man sagen: Die Frauenfrage ist in sozialökonomischer Hinsicht heute im Kern eine Mütterfrage.

Die Klasse der Lohnabhängigen

Zur Klasse der Lohnabhängigen gehören vermittelt über den Haushaltszusammenhang oder die sozialen Sicherungssysteme auch die einkommensmäßig abhängigen Familienangehörigen (überwiegend Kinder), sowie die große Mehrheit der etwa 21 Millionen SozialversicherungsrentnerInnen (von denen ein kleiner, aber zunehmender Teil auch noch, meist geringfügig, erwerbstätig ist) und der 1,6 Millionen BezieherInnen von Beamtenversorgung, sowie die unfreiwillig Erwerbslosen. Das sind knapp 2,5 Millionen registrierte Arbeitslose sowie etwa eine Million „stille Reserve“ (mittlerweile überwiegend in Maßnahmen), und Personen, die wegen Erziehungs- und Pflegeaufgaben oder Arbeitsunfähigkeit nicht erwerbstätig sein können. Zur lohnabhängigen Klasse in diesem weitesten Sinne gehören an die 90 Prozent, zur ArbeiterInnenklasse (inklusive Nichterwerbstätige) etwa drei Viertel der Bevölkerung. Wie sich die Menschen selbst verstehen ist allerdings eine andere Frage.

Mittlerweile hat etwa ein Viertel der Lohnabhängigen einen Migrationshintergrund, mit weiter steigender Tendenz wegen anhaltender Einwanderung und einem weit überdurchschnittlichen Anteil der Kinder, die einen Migrationshintergrund haben. Diese Lohnabhängigen arbeiten in überdurchschnittlichem Maße in den weniger qualifizierten und schlechter bezahlten Bereichen und stellen dort vielfach die, teils überwiegende, Mehrheit. Sie sind besonders häufig atypisch und prekär beschäftigt, von Erwerbslosigkeit betroffen und von Armut bedroht. Migration erfüllt heute in hohem Maße die klassischen Funktionen der industriellen Reservearmee.

Es gibt in der marxistischen Diskussion unterschiedliche Auffassungen, wie relevant welche Differenzierungen innerhalb der Lohnabhängigen sind, insbesondere inwieweit auch Beschäftigte nichtkapitalistischer Arbeitgeber und außerhalb der unmittelbaren kapitalistischen Produktion zur ArbeiterInnenklasse zu zählen sind, und welche Bereiche das wären. M.E. ist das entscheidende Merkmal, das in Verbindung mit der begrenzten Höhe der damit verbundenen Einkommen die sozialökonomische Lage prägt, die Lohnabhängigkeit als solche, der Warencharakter der Arbeitskraft. Daraus ergeben sich gemeinsame Interessen: möglichst hohe Löhne und begrenzte und sozial geregelte Arbeitszeiten, gute und gesunde Arbeitsbedingungen und Kommunikationsmöglichkeiten, Mitbestimmungsrechte, soziale Absicherung, soziale Infrastruktur, gute Bildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten. Diese Interessen müssen zum einen gegenüber den „Arbeitgebern“, zum anderen aber auch politisch gegenüber dem Staat vertreten werden. Ob und in welchem Maße die Beschäftigten diese Interessen aber auch praktisch gemeinsam organisieren und vertreten, in Gewerkschaften als den unmittelbaren Klassenorganisationen, ist stark von weiteren gesellschaftlichen und historischen sowie individuellen Bedingungen abhängig. Noch mehr gilt das für die Frage nach ihrer politischen Ausrichtung und Organisierung.

Die allermeisten Lohnabhängigen verbrauchen ihr Einkommen ganz überwiegend zum Lebensunterhalt (im weitesten Sinne) und haben wenig Möglichkeiten, größere Vermögen zu bilden. Dadurch wird die Ungleichheit der Verteilung der Einkommen, Vermögen, Lebenschancen und Macht beständig reproduziert und tendenziell verschärft.

Mittelschichten und Selbstständige

Ein Teil der Lohnabhängigen, um die 15 Prozent, hebt sich von der breiten Mehrheit durch Leitungs- oder besonders hochqualifizierte Tätigkeiten sowie weit überdurchschnittliche Einkommen ab und kann als lohnabhängige Mittelschicht betrachtet werden. Dies betrifft erhebliche, aber kleiner werdende Teile des insgesamt größer werdenden Bereichs der akademisch qualifizierten wissenschaftlich-technischen und sozial-kulturellen „Intelligenz“. Wie diese sich gesellschaftlich und interessenpolitisch einordnen, ob sie sich in Gewerkschaften oder eher ständisch organisieren, ist noch stärker als bei der Mehrheit der Lohnabhängigen eine Frage der persönlichen Entscheidung, von historisch-sozialen, ideologischen und biografischen Bedingungen geprägt und umkämpft.

Auf der anderen Seite entspricht die soziale Lage eines großen Teils der Solo-Selbstständigen, das sind insgesamt etwa 2,5 Millionen Personen bzw. knapp sechs Prozent der Erwerbstätigen, weitgehend der der ArbeiterInnenklasse. Die soziale Unsicherheit ist meist noch größer und die Mehrheit der Solo-Selbstständigen verdient weniger als den mittleren Lohn abhängig Beschäftigter. Nach Anstieg in den 2000er Jahren ist ihre Zahl im Zuge der verbesserten Arbeitsmarktlage in den letzten Jahren leicht gesunken. In den kommenden Jahrzehnten dürfte ihre Zahl im Zuge des weiteren Outsourcing bisher angestellt verrichteter Informationsarbeit und der Ausweitung über digitale Plattformen vermittelter Arbeit ansteigen; das sollte aber quantitativ auch nicht überschätzt werden. Ein großer Teil der hier Tätigen macht das als Nebenjob. In Hauptbeschäftigung als Crowdworker selbstständig tätig dürften bisher vielleicht 50.000, also kaum mehr als 0,1 Prozent der Erwerbstätigen sein. Weit relevanter ist die Ausweitung internetvermittelter Arbeit und indirekter bzw. vermeintlicher Selbststeuerung der abhängig Arbeitenden bei fortbestehendem Lohnarbeitstatus. Die meisten Solo-Selbstständige haben aus ihrer sozialen Lage heraus in vieler Hinsicht ähnliche Interessen wie die Lohnarbeitenden und können diese auch gemeinsam mit diesen in Gewerkschaften organisieren und vertreten, tun das bisher allerdings in geringem Maße.

Die Mehrheit der anderen Selbstständigen bzw. Kleinunternehmer beschäftigt zwar Lohnarbeitende, ihr Einkommen beruht aber überwiegend auf ihrer eigenen Arbeit, seien es FreiberuflerInnen, Selbstständige in der Landwirtschaft oder im Handwerk, im Handel, der Gastronomie oder anderen kleineren Dienstleistungsunternehmen. Das sind etwa eineinhalb Millionen Personen plus etwa 150.000 mithelfender Familienangehöriger, etwa dreieinhalb Prozent der Erwerbstätigen. Sie sind nicht als Kapitalisten zu betrachten, sondern bilden die selbstständige Mittelschicht oder Mittelklasse; eine klassische marxistische Bezeichnung für diese Mittelschichten war „Kleinbürgertum“. M.E. ist die genaue Bezeichnung nachrangig, es kommt darauf an, die damit gemeinte soziale Realität zu begreifen. Die soziale Stellung und Haltung dieser Teile der Bevölkerung ist besonders widersprüchlich. Einerseits wollen sie die Lohnkosten in ihren Betrieben niedrig halten und sich sozial nach unten abgrenzen. Anderseits ist das Einkommen der meisten von ihnen nicht höher als das gut verdienender Lohnabhängiger und sie stehen in vielfältigen sozialen Kontakten mit Personen aus der ArbeiterInnenklasse, oft auch im familiären Umfeld. Zudem stehen sie oft unter akut oder latent existenzbedrohendem Konkurrenzdruck der größeren kapitalistischen Unternehmen.

Die kapitalistische Klasse

Auch die kapitalistische Klasse ist hoch differenziert nach den überwiegenden Formen und den Sektoren, denen ihre Einkommen entstammen, ob sie unternehmerisch oder nur vermögensverwaltend und spekulativ oder gar nicht aktiv sind, und insbesondere auch nach der Größe ihrer Vermögen und damit ihrer Einkommen. Ein kleiner Teil der Kapitalistenklasse bildet die Gruppe der Superreichen, die großkapitalistische Oligarchie, die auch über besonders große persönliche Macht und Zugänge zur politischen Führung verfügen.

Es gibt praktisch keine Datenquellen, die klare und differenzierte Informationen über die Strukturmerkmale der Kapitalistenklasse vermitteln. Etwa 250.000 private Unternehmen haben zehn oder mehr Beschäftigte[3] und 2 Millionen oder mehr Umsatz. Anders als bei den kleineren Unternehmen handelt es sich mehrheitlich um Kapitalgesellschaften (GmbH oder AG). Etwa zwei Drittel der Umsätze und über die Hälfte der Wertschöpfung aller Unternehmen werden durch knapp 15.000 Großunternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten oder 50 Millionen Euro Jahresumsatz erbracht. Die großen Gesellschaften haben in der Regel eine größere Zahl von Eigentümern größerer Anteile. Auch angestellte Geschäftsführer, Vorstandsmitglieder und führende Manager großer Unternehmen, deren sehr hohe Einkommen nur formell als Lohn, vom sozialen Inhalt her aber als ihnen übertragene Anteile am Mehrwert zu betrachten sind, gehören zur kapitalistischen Klasse. In vielen GmbHs gibt es zudem geschäftsführende Gesellschafter und in vielen AGs haben Vorstandsmitglieder auch erhebliche Aktienpakete. Viele Kapitalisten haben relevante Anteile an mehreren Gesellschaften. Dazu kommen die Eigentümer großer Immobilienvermögen und Finanzvermögen.

Insgesamt landen wir letztlich etwa beim reichsten Prozent der Bevölkerung, das im Kern die Kapitalistenklasse ausmacht. Das sind in etwa die Vermögensmillionäre (ganz überwiegend Männer), die weit über ein Drittel des gesamten Nettovermögens und 90 Prozent des Betriebsvermögens besitzen. Die reichsten 0,1 Prozent, sozusagen die oberen Zigtausend, mit Vermögen im mindestens zweistelligen Millionenbereich, besitzen fast ein Viertel des Nettovermögens und drei Viertel des Betriebsvermögens. Das reichste Prozent der Haushalte (400.000) bzw. der Bevölkerung (820.000) hatte 2015 ein monatliches Bruttoäquivalenzeinkommen (je Person gewichtet nach OECD-Skala) von über 13.000 Euro, durchschnittlich 32.000 Euro, ein Zehntel aller privaten Haushaltseinkommen. Davon waren durchschnittlich zwei Drittel Gewinne und Kapitaleinkommen, ein Drittel Arbeitnehmerentgelt. Bei den TOP-0,1-Prozent waren es durchschnittlich über 140.000 Euro im Monat, davon fast 120.000 Euro Gewinne und Kapitaleinkommen. Der Reichtumszuwachs durch die erheblichen nicht ausgeschütteten Gewinne und nichtrealisierten Wertzuwächse der Unternehmen und anderen Vermögen in ihrem Besitz ist dabei nicht einberechnet.

28.000 Unternehmen außerhalb der Finanzsektors, die 20 Prozent der Bruttowertschöpfung erzielten, gehörten 2015 mehrheitlich zu einer Muttergesellschaft mit Sitz im Ausland. Davon hatten zwei Drittel eine Muttergesellschaft aus Europa, knapp ein Viertel aus Nordamerika, sieben Prozent aus Asien. Besonders hoch ist der Anteil mit über 40 Prozent der Beschäftigten in der Industrie (Verarbeitendes Gewerbe) und 20 Prozent im Handel (inkl. KFZ). Die DAX-30-Unternehmen sind sogar mehrheitlich in ausländischer Hand. Auf der anderen Seite besitzen deutsche Unternehmen und Anleger massiv zunehmende Auslandsvermögen in gigantischem Umfang. Der Saldo, also das Nettoauslandsvermögen Deutschlands, und der Bestand an Direktinvestitionen in ausländische Untenehmen, beträgt mittlerweile jeweils um die zwei Billionen Euro.

Fast zwei Drittel der DAX-Aktien sind mittlerweile im Besitz von Finanzfonds, Banken und Versicherungen, die wiederum untereinander stark verflochten und zu einem großen Teil aus dem Ausland kontrolliert werden. 2009/10 lag der Anteil des Finanzkapitals an den TOP-200-Unternehmen in Deutschland bei 42 Prozent (in den USA bei fast 85 Prozent). Die meisten besonders großen Fonds sind US-basiert, die bedeutendsten Blackrock und Vanguard-Group. Das ändert aber nichts daran, dass die Unternehmen mit Sitz oder Mehrheit der Anteilseigner in Deutschland „die deutsche Wirtschaft“ bilden, deren Interessenvertretung ein zentrales Anliegen des deutschen Staates ist.

[1] W. I. Lenin, Die Große Initiative, in: Werke Bd. 29, S. 410.

[2] Auf Zahlenangaben wird hier aus Platzgründen verzichtet, vgl. dazu die Verdienststrukturerhebung 2014, downloadbar bei destatis.de.

[3] Hier wird angenommen, dass die Beschäftigung von zehn Lohnabhängigen genügend Mehrwert abwirft, um von einem kapitalistischen Unternehmen und Unternehmer zu sprechen.