Leo Panitch (1945 – 2020)

Eingestellt am 2.2.2021

02.02.2021
von Frank Deppe

Kurz vor Jahresende ging die Nachricht vom plötzlichen Tod Leo Panitchs am 19. Dezember 2020 durch die Welt und löste Bestürzung und Trauer aus. Er wurde Opfer des Corona-Virus, infizierte sich bei einer Untersuchung im Krankenhaus. Noch im Vorwort zum Socialist Register (SR) 2021, das sich mit Perspektiven jenseits des „digitalen Kapitalismus“ befasst, machte er (mit Greg Albo) auf die neuen Herausforderungen durch die Pandemie (im Kontext der systemischen Krise des globalen Kapitalismus) aufmerksam – auf den Widerspruch zwischen den Folgen der neoliberalen Austeritätspolitik (nicht nur im Gesundheitswesen) auf der einen und dem Zwang zur massiven Erhöhung der Staatsausgaben im Kampf gegen die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen auf der anderen Seite. Gleichzeitig greift die Corona-Krise sowohl in die globalen Wirtschaftsbeziehungen als auch in die Alltagserfahrungen der Lohabhängigen innerhalb und außerhalb der Arbeit ein.

Leo wuchs im Norden der kanadischen Stadt Winnipeg (Manitoba) in einem Arbeiterviertel mit einer reichen sozialistischen Kultur auf. Seine Eltern waren jüdische Migranten aus der Ukraine. Der Vater arbeitete in einer pelzverarbeitenden Fabrik; die Mutter ging nachts Putzen. Leo studierte zunächst an der University of Manitoba, ging aber 1967 nach London zur London School of Economics, wo er 1974 mit einer Arbeit zu dem Thema „Social Democracy and Industrial Militancy“, über das Verhältnis von Labour Party und Gewerkschaften promovierte. Der Betreuer seiner Arbeit war der berühmte marxistische Soziologe Ralph Miliband, der 1964 das Socialist Register gegründet hatte, das er seit 1985 dann gemeinsam mit Leo Panitch herausgab. Leo kehrte 1972 nach Canada zurück, übernahm 1984 an der York University von Toronto eine Professur für Politikwissenschaft und vergleichende Politische Ökonomie. 2018 wurde er als „distinguished research professor“ emeritiert. Seitdem war er in der ganzen Welt unterwegs, um in Vorträgen und auf Konferenzen seine Analysen des Zusammenhangs von kapitalistischer Krise und sozialistischen Perspektiven darzulegen und zu diskutieren. Gleichzeitig engagierte er sich für die Kampagnen von Bernie Sanders in den USA und von Jeremy Corbyn in Großbritannien. Mit den „jungen Wilden“ von Jacobin (in New York) arbeitete er eng zusammen.

Wir luden Leo vom Marxistischen Arbeitskreis (MAK) 1995 nach Marburg ein, um über seinen bemerkenswerten Artikel „Globalisation and the State“ (SR 1994) zu diskutieren. Darin begründete er das Konzept vom „American Empire“, das er 2012 mit seinem Freund Sam Gindin in dem vielfach ausgezeichneten Werk „The Making of Global Capitalism“ ausarbeitete. Die Studierenden waren begeistert von diesem international renommierten, marxistischen Theoretiker, der auch dadurch beeindruckte, dass er immer wieder – bei der Nennung prominenter Namen – den Kurzkommentar „Bullshit“ verwendete. Danach folgten zahlreiche Begegnungen in Marburg, New York und Toronto, bei denen wir uns über Fragen der Imperialismusanalyse und der sozialistischen Strategie – vor allem auch über Fragen einer linken Gewerkschaftspolitik – austauschten.1 Dazu erkundeten wir vor Ort die besten Jazzclubs. Leo war sehr bewegt, als der kommunistische Betriebsrat Willi Malkomes uns zu den Stätten der Frankfurter Arbeiterbewegung und des Gedenkens an die Opfer des Holocaust führte. Leo war – als Wissenschaftler und als Genosse – ein überzeugender und überaus sympathischer „organischer Intellektueller“ der Arbeiterklasse.

1 Vgl. das Interview mit Leo Panitch zum Thema „Neuer Imperialismus – neue Imperialismustheorie“ in Z. 52 (Dezember 2002), S. 77-87.