Geschichte des Sozialismus

Abgewickelt und totgesiegt

Studie zum Ende der DDR-Geschichtswissenschaft

von Alexander Bahar
Dezember 2012

Mit dem juristischen Terminus „Abwicklung“ bezeichnet das am 1.1.1900 eingeführte Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) die Regelungsvorgänge, die nach der juristischen Liquidation einer Firma, eines Betriebes oder einer Kapitalgesellschaft anfallen: die Auflösungs- und Übereignungsprozesse, die Sammlung, Prüfung und Erledigung der gegenseitigen Verbindlichkeiten. Sie kann sowohl private wie juristische Personen, Vereinigungen, Organisationen, selbst Verwaltungsbezirke oder ganze Staaten betreffen. Eine Abwicklung setzt danach also stets eine juristische Liquidation voraus. In den Jahren nach der sogenannten Wende hingegen wurde mit „Abwicklung“ der Vorgang der juristischen oder faktischen Liquidierung selbst bezeichnet. Juristisch und faktisch liquidiert wurden nach 1989 neben den staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen der ehemaligen DDR auch deren wissenschaftliche Institutionen. Nach dem als Wiedervereinigung gefeierten Anschluss der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik an die im Systemkampf siegreiche BRD wurden diese einem historisch beispiellosen Konkursverfahren unterworfen. Den Vorgaben politischer Instanzen gemäß von westdeutschen Kommissionen „evaluiert“, stand am Ende in der Regel ihre Eliminierung oder bestenfalls die „Einpassung“ einzelner passgerecht gemachter Bruchstücke in den Wissenschaftsbetrieb der BRD.

Diesen für die deutsche Historiographie wenig rühmlichen Prozess hat Werner Röhr am Beispiel der DDR-Geschichtswissenschaft nun erstmals systematisch dokumentiert, analysiert und mit wertvollen geschichtsphilosophischen Betrachtungen kommentiert.[1] Der erste Band der zweibändigen Untersuchung über „Das Ende der Geschichtswissenschaft der DDR“ (Bd. 2. ist inzwischen ebenfalls erschienen) ist hier zu besprechen. Er ist in fünf Kapitel gegliedert (zuzüglich Vorwort, ausführlicher Einleitung und Nachwort). Kapitel 1 informiert ausführlich über die Forschungsorganisation der Geschichtswissenschaft in der DDR, deren zentrale historische Einrichtungen, ihre Forschungsfelder- und Ergebnisse sowie die übergeordneten Leitungsgremien. Kapitel 2 diskutiert die in der DDR-Geschichtswissenschaft wirkenden politischen Regulationsmechanismen. Die Reaktionen der Historiker auf die im Zuge der „Wende“ im Herbst 1989 einsetzenden Prozesse in der DDR dokumentiert Kapitel 3, während Kapitel 4 die Positionsveränderungen der BRD-Historikerzunft im Verhältnis zur DDR-Historiographie für denselben Zeitraum darstellt. Ausführlich werden in Kapitel 5 Evaluierung, Abwicklung sowie (ggf.) Neuausrichtung dieser Institutionen nachgezeichnet. In einem Nachwort umreißt der Autor schließlich die Folgen dieses Vorgangs für die Geschichtswissenschaft im „wiedervereinigten“ Deutschland. Im zweiten Band seines Opus magnum, der auch ein umfangreiches Register sowie Struktur- und Personalübersichten zu den behandelten Instituten und ihrer Abwicklung enthält, stellt Werner Röhr ausgewählte Forschungsergebnisse der DDR-Geschichtswissenschaft detailliert vor und unterzieht sie einer kritischen Analyse. Röhrs umfassende Untersuchung vereint Dokumentation, Chronologie, geschichtsphilosophische Überlegungen und politische Analyse.

Bereits nach kurzem Einlesen in das Buch wird klar: Der Autor ist mit seinem Forschungsgegenstand bestens vertraut. Und dieser Eindruck festigt und verstärkt sich noch bei der weiteren Lektüre. Der gesamte Band beeindruckt nicht nur durch einen gewaltigen, dabei akribisch aufgearbeiteten Materialfundus (das gilt in besonderer Weise für die sehr ausführlichen Kapitel 1 und 5), sondern auch durch analytische Schärfe und Differenziertheit des Urteils bei gleichzeitiger Parteilichkeit – für die Wissenschaft.

Seit 1981 Mitarbeiter am Institut für deutsche Geschichte (bis 1990 Zentralinstitut für Deutsche Geschichte), wurde Werner Röhr zugleich Zeuge und Opfer des Prozesses, den er in dem ersten Band seiner Untersuchung detailliert beschreibt und analysiert. Von Haus aus Philosoph und Historiker, wurde er 1981 wegen der Solidarisierung mit politisch gemaßregelten Kollegen aus der SED ausgeschlossen, aus dem Akademieinstitut für Philosophie geworfen und erhielt faktisch Berufsverbot. Röhr hat sich seit 1981 vor allem mit historischen Forschungen zur Okkupationspolitik der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg befasst und mehrere Bücher dazu veröffentlicht. Von 1994 an lehrte er für mehrere Jahre als Gastprofessor Geschichte der Philosophie an der Universität Zielona Góra (Polen).

Warum ein Buch, das sich ausschließlich der Abwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft widmet? Werner Röhr gibt darauf eine klare Antwort: „Wohl keine andere Wissenschaftsdisziplin, auch nicht die unmittelbar ,staatsnahe’ Rechtswissenschaft, wurde bei der Zerschlagung des Wissenschaftssystems so umfassend und mit so grundsätzlichem Beseitigungsfuror behandelt wie die Geschichtswissenschaft. Dabei ging es in erster Linie darum, die Hochschullehrer zu entfernen.“ (9) Und dieser Prozess geht weiter, denn: „Seit der Abwicklung wird die politische und publizistische Verteufelung dieser Wissenschaft […] fortgesetzt. Beide Prozesse verweisen auf den Grund: Sie sollen helfen, die DDR weiter zu ‚delegitimieren‘, wobei unter­stellt wird, der DDR damit ihre historische Rechtfertigung nehmen zu können.“ (9) Von allen Wissenschaftsdisziplinen haben sich laut Röhr „westdeutsche Historiker am meisten als Fachexperten des Anschlusses, als Begründer, Helfer und Radikalisierer der Aktivitäten des Bundesinnenministeriums und des Wissenschaftsministeriums angeboten. Sie haben ihrer Wissenschaftsdisziplin damit einen Bärendienst erwiesen.“ (11)

Bruch mit der Tradition des idealistischen Historismus

Kenntnisreich und detailliert zeichnet Röhr das Bild einer um Emanzipation bemühten DDR-Historiographie, zu deren „wissenschaftlichen Ausgangspunkten […] ihr Bruch mit der tradierten deutschen Geschichtswissenschaft als Geisteswissenschaft“ (3) gehörte, wie er in Deutschland seit der Reichseinigung von 1871 vorgeherrscht hatte. Die Historiographie sollte sich zur Gesellschaftswissenschaft wandeln, was „einen Bruch mit dem historischen Idealismus“ bedeutete, „der die authentische Wirkungsmacht der Ideen und Auffassungen in den favorisierten Haupt- und Staatsaktionen der herrschenden Klasse gegeben sah.“ (3) Die Abwendung vom idealistischen Historismus bedeutete nach Röhr „mehr als das Herunterholen der Geschichte vom bürgerlichen Ideenhimmel auf den Boden irdischen Lebens. Er erforderte, sich forschend jenen Klassen und Schichten sowie jenen Bedingungen und Ereignissen zuzuwenden, die die bisherige Historiographie als nicht geschichtswürdig ignoriert oder mißachtet hatte.“ Damit verloren zugleich jene Gegenstände, die vorher vor allem als geschichtswürdig gegolten hatte, ihre Präferenz: Haupt-, Hof- und Staatsaktionen, Diplomatie-, Militär- oder Geistesgeschichte.

Die Geschichte der bisher von der Zunft der deutschen Historiker nicht für geschichtswürdig erachteten Volksmassen zu untersuchen und zu schreiben, wurde für die aus der Emigration kommenden wie auch für die in der DDR ausgebildeten Historiker zur besonderen Verpflichtung. Ausgehend von der Marxschen Erkenntnis der Widersprüche als Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung rückten die Klassengegensätze und ihre Austragung in den Klassenkämpfen sowie deren Höhepunkte in den Revolutionen in den Focus der Forschung. „Nie zuvor“, schreibt Werner Röhr, „waren diese Kämpfe durch deutsche Historiker so gewürdigt worden wie in der DDR.“ (4) Das betraf sowohl den Widerstand der Bauern von seinen passiven Formen bis zum Bauernkrieg, die kommunale Bewegung und die Bürgerkämpfe in den Städten als auch die Herausbildung und Entwicklung der Arbeiterbewegung. Hinzu kam als zweiter bevorzugter Gegenstand die Erforschung der „historischen sozialökonomischen Wurzeln des deutschen imperialistischen Weltherrschaftsstrebens sowie dessen Ausdrucksformen und Wirkungen im ersten Weltkrieg, im Faschismus und im Zweiten Weltkrieg.“ (5)

Für einen in der alten Bundesrepublik ausgebildeten Historiker ist Röhrs Darstellung ganz besonders erhellend, vermittelt sie dem Leser doch nicht nur einen umfassenden Überblick über die Bandbreite und die Tiefe der in der DDR betriebenen Forschungen (über die sowohl in den Mainstream-Medien als auch an bundesdeutschen Universitäten bis heute wenig Erhellendes zu erfahren ist). Er muss auch (staunend) zur Kenntnis nehmen, dass die Rahmenbedingungen, unter denen Forscher in der DDR arbeiteten, in nicht wenigen Punkten erheblich besser waren als in der alten und erst recht in der neuen BRD.

Bei der Auswahl ihrer Forschungsgegenstände waren die DDR-Historiker durchaus parteilich, konstatiert Röhr. Doch ihre Parteilichkeit etwa für die unterdrückten Volksmassen, für fortschrittliche Bewegungen und Ideen etc. habe das Bemühen um objektive Forschung und rückhaltlose Aufklärung keineswegs ausgeschlossen. Ganz im Gegenteil: die DDR-Geschichtswissenschaft trug bedeutend zur Erforschung des Faschismus und der beiden Weltkriege bei, sie verfügte über das einzige deutsche Institut für Wirtschaftsgeschichte sowie über ein Institut für Universal- und Kulturgeschichte der Neuzeit, das ebenfalls in der BRD seinesgleichen suchte und sucht. Die – sozial- und regionalgeschichtlich ausdifferenzierten – Untersuchungen zum Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus setzten wissenschaftliche Standards. Vergleichbares gab es in der alten Bundesrepublik nicht. Das gilt nicht minder für die Revolutions- und die Lateinamerikageschichte in Leipzig. Was das große Gebiet der Geschichte der Arbeiterbewegung angeht, so wurde dieses bei allen zu beklagenden Mängeln und selbst auferlegten Lücken überhaupt erst in der Breite erschlossen. Soweit die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft hier überhaupt wissenschaftlich aktiv wurde, dann jeweils mit großer Verzögerung und in der Regel als Reaktion auf die Pionierleistungen der ostdeutschen Kollegen. Auch in einigen traditionellen Standardbereichen wie der Alten Geschichte und der Klassischen Archäologie sowie aus der wilhelminischen Zeit übernommenen Editionen versuchte man, Begonnenes fortzusetzen und Standards zu halten, hatte aber entsprechend den begrenzten Möglichkeiten des kleinen Landes häufig Prioritäten zu setzen.

Ihre besten Leistungen erbrachten DDR-Historiker laut Röhr in der Regel dort, wo sie versuchten, die Marxsche Auffassung von Geschichtsmaterialismus als Maxime eigener Forschungen kritisch umzusetzen. Die DDR-Geschichtswissenschaft habe hingegen dort deutlich an Niveau und Wissenschaftlichkeit verloren, wo sie Dialektik und Materialismus zugunsten teleologischer Annahmen und apologetischer Zwecke aufgab.

Röhr lässt keinen Zweifel daran, dass dies viel zu oft geschah. So sei etwa der Anspruch, die Sozialgeschichte der Klassen zu schreiben, insgesamt zu gering eingelöst worden. An die Stelle der Haupt- und Staatsaktionen sei funktional auf einer anderen Ebene die Geschichte der Parteibeschlüsse und -aktionen getreten. Unter der Flagge eines programmatischen Bekenntnisses zum Geschichtsmaterialismus habe selbst dessen partielle oder völlige Desavouierung präsentiert werden können. Trotz jener Defizite der Historiographie, die den geringen Ressourcen des Landes geschuldet waren und trotz jener, die politischer oder wissenschaftlicher Ignoranz oder Dogmatisierung entsprangen, fällt Röhrs Bilanz insgesamt positiv aus. So sei das internationale Niveau zahlreicher Arbeiten von Agrar-, Montan-, Stadt- oder Wirtschaftshistorikern nie ernsthaft angezweifelt worden, auch seien DDR-Historiker weltweit geschätzt und anerkannt gewesen.

Weiße Flecken, Erkenntnisverbote und Resultatsvorgaben

Wer nach der Lektüre des ersten Kapitels geneigt sein mag, dem Autor Voreingenommenheit oder partielle Kritiklosigkeit gegenüber der DDR-Geschichtswissenschaft zu unterstellen, weil er deren Spitzenleistungen, ihr durch vielseitige Kooperation und Vernetzung belegtes internationales Renommee immer wieder betont, der wird im zweiten Kapitel gründlich eines Besseren belehrt. Nachträgliche Idealisierung der DDR-Historiographie ist in der Tat das Letzte, das sich dem Autor vorwerfen ließe. Werner Röhr kennt die von ihm untersuchten Forschungseinrichtungen und deren Funktionsweise zu genau, als dass er für deren Schwächen und Mängel blind wäre. Wogegen er sich wehrt, ist die pauschale Herabwürdigung und Disqualifizierung, die darauf abzielt, die von der DDR-Historiographie erbrachten und auch international anerkannten wissenschaftlichen Leistungen nachträglich in toto zu delegitimieren. Stattdessen plädiert Röhr dafür, deren Ergebnisse jeweils am selbst gesetzten Anspruch zu messen. Dabei gelangt er zu einer durchaus differenzierten Beurteilung der Leistungen dieser Geschichtswissenschaft.

Zu den parteipolitisch-bürokratischen Regulierungsmechanismen, die in die Historiographie der DDR hineinwirkten, gehörten nach Röhr neben der gezielten Förderung bestimmter Themenfelder, die für die Geschichte der eigenen Bewegung oder des eigenen Staates als relevant angesehen oder für die historische Legitimation der Geschichtskonzeption wie der eigenen Politik für wichtig erachtet wurden, auch deren Gegenteil: „weiße Flecken“, sprich die punktuell „produzierte Unwissenheit“ bzw. Tabuisierung ganzer Forschungsfelder. „Zu solchen ‚weißen Flecken‘ wurden jahrzehntelang die Massenverbrechen des Stalinregimes und die Biographien ihrer Opfer. Der Sache nach ging es meist um ein Erkenntnisverbot für politische Entscheidungen, deren Opfer und Folgen, die den verkündeten Zielen der führenden Partei kraß widersprachen. […] In der Unterordnung unter Vorgaben, die ein Erkenntnisverbot begründeten, gaben Historiker ihre eigene Professionalität preis“ (221) urteilt Röhr.

Eine andere Form der parteipolitisch-bürokratischen Regulierung stellten nach Röhr klare Resultatsvorgaben durch die SED-Führung dar: Vorgaben der ZK-Abteilungen der SED für historische Forschungen betrafen in erster Linie die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, die Geschichte der KPD in der Weimarer Republik und jene der SED nach 1946. Röhr nennt als bekanntes Beispiel dafür die Kontroverse um den Charakter der deutschen Novemberrevolution. Walter Ulbricht, damals Erster Sekretär der SED, zwang Historiker, die diese Revolution als deutsche Parallele zur russischen Oktoberrevolution begriffen, zur Korrektur. Die Novemberrevolution durfte nach Ulbricht keine „sozialistische“ Revolution gewesen sein, weil die sozialistische Zielstellung keine ausreichende Massenunterstützung gefunden hatte und ohne Erfolg blieb. „Doch der eigentliche Hintergrund“, schreibt Röhr, „war der Stalinsche Anspruch auf alleinige Ursprünglichkeit. Die praktische Konsequenz dieses aus der Not des Ausbleibens der Weltrevolution geborenen Anspruchs war eine Politik der praktischen Verhinderung weiterer sozialistischer Revolutionen in der Welt.“ (222)

Röhr spricht von einem „Sacrificium intellektualis“, das den DDR-Historikern abverlangt wurde. Geschuldet war dies der spezifischen historischen Situation der ehemaligen DDR. Für deren staatliche Konstituierung war das Bündnis der deutschen Kommunisten und Antifaschisten mit der Sowjetunion grundlegend. Es war folglich auch der Existenzrahmen für die Herausbildung und Entwicklung der Geschichtswissenschaft. Damit habe die Geschichtswissenschaft der DDR aber auch „die für den Stalinismus kennzeichnende Beziehung der damaligen Kommunistischen Partei der Sowjetunion zur Wissenschaft in wesentlichen Zügen“ übernommen. (232)

Röhr nennt einige dieser für die Geschichtsschreibung spezifischen Züge („Sünden“, die weder ein originäres Produkt des Stalinismus noch dessen Monopol seien, wie er betont): Degradierung und Prostitution gesellschaftstheoretischen Denkens; verhinderte Aufdeckung und Aufklärung von Sachverhalten und des Schicksals von Personen, die im Widerspruch zur aktuellen Politik oder zur Person des Despoten standen (allen voran Trotzkis), bis hin zur physischen Vernichtung bestimmter Zeugnisse und Zeugen; Forschungsverbote für historische Ereignisse oder Entscheidungen, die aktuellen politischen Interessen und Zwecken zu widersprechen schienen; Modifizierung von Teilwahrheiten nach tagespolitischen Erfordernissen und nachträgliches Umschreiben historischer Abläufe, Biographien und Entscheidungen für aktuelle politische Zwecke; Theoriefeindlichkeit, da jedes taktische Moment in den Rang einer Gesetzmäßigkeit erhoben wurde; eine katechetische Simplifizierung der Geschichtsprozesse und die Behandlung dieser Simplifizierungen bzw. Irrtümer und Dummheiten Stalins als politische Norm der Geschichtsschreibung; eine teleologische Betrachtung der Geschichte vom Resultat her; Hagiographie und Legendenproduktion; systematische Verfälschung der Parteigeschichte und Erhebung der Fälschungen zur Norm der Geschichtsschreibung (etwa im „Kurzen Lehrgang“ Stalins). (232)

Eigenständiges marxistisches Denken galt laut Röhr in der DDR spätestens seit der Niederschlagung der Konterrevolution in Ungarn im Herbst 1956 als „gnoseologischer Frevel“ und wurde kriminalisiert. Die bis dahin entwickelte Kritik am „Stalinismus“ wurde von da an von der politischen Führung unter Ulbricht zurückgewiesen und zurückgenommen, in diesem Kontext, insbesondere an der Leipziger Universität, entwickeltes marxistisches Denken als staatsfeindlich und „konterrevolutionär“ gerichtlich abgeurteilt. „Worin bestand der gnoseologische Frevel dieser Wissenschaftler?“, fragt Röhr. Die Antwort ist unmissverständlich: „Sie nahmen den Marxismus wissenschaftlich und politisch ernst.“ (238)

Keine „Herrschaftswissenschaft“

Dem Vorwurf der BRD-Historiker, die Geschichtswissenschaft der DDR sei eine „Herrschaftswissenschaft“ gewesen, habe also vor allem dazu gedient, die Herrschaft der Staatspartei SED zu legitimieren und diese zu beraten, widerspricht Röhr vor diesem Hintergrund scharf. Diese praktisch als „Hexenhammer“ fungierende Stigmatisierung sei syntaktisch (Herrschaftswissenschaft = Wissenschaft von der Herrschaft) so inkorrekt, wie sie semantisch falsch sei. Der Vorwurf der „Herrschaftswissenschaft“ sage über Wissenschaftlichkeit oder deren Verletzung unmittelbar nichts aus, „aber er enthebt seine Autoren der Notwendigkeit wissenschaftlicher Kritik an Prämissen, Verfahren und Resultaten der gebrandmarkten Historiographie – und schließt jede wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr aus.“ (227) Weder sei die DDR-Geschichtswissenschaft politisch souverän gegenüber den Herrschaftsbedürfnissen gewesen, noch hätten die Herrschenden selbst das geringste Bedürfnis gehabt, sich bei ihren Entscheidungen von Wissenschaftlern dieser Disziplin beraten zu lassen: „Der Glaube der Führung an ihre eigene Weisheit und Unfehlbarkeit ließ sie wirkliche Beratung für überflüssig halten.“ (230) Als Konsequenz aus der fehlenden Inanspruchnahme und Wirksamkeit der Geschichtswissenschaft als „Herrschaftswissenschaft“ folgert Röhr, „daß jene historische Legitimation, die diese Wissenschaftsdisziplin für die regierende Staatspartei zu erbringen vermochte, in erster Linie eine sekundäre, eine nachträgliche Rechtfertigung von Entscheidungen darstellte, die wesentlich ohne ihre Mitwirkung, genauer gesagt unter Ausschluss ihrer Mitwirkung, zustande gekommen waren.“ (230) Der wissenschaftliche Beitrag der DDR-Historiographie zur Politikberatung oder zur Strategiebildung der politischen Führungskaste sei daher „getrost mit Null anzusetzen“ (228). Auch der verwandte, ebenfalls von bundesdeutschen Historikern erhobene Vorwurf, die DDR-Historiographie habe sich durch die „umfassende Instrumentalisierung für die Politik der SED“ selbst disqualifiziert (Hermann Weber), ist nach Röhr „schlichtweg falsch“ und gehe am Problem vorbei. „Ideologische Voreingenommenheit“ habe Weber gehindert, die Problemstellung zu begreifen, „wie denn eine den Regeln wissenschaftlicher Methodik entsprechende Arbeit zugleich Legitimationsideologie sein konnte“. (240) Zweifellos sei die Unter­ordnung der Geschichtswissenschaft unter jeweilige politische Bedürfnisse der Staatspartei nicht nach wissenschaftlichen, sondern nach politischen Kriterien erfolgt. Diese hätten im politischen Bedarfsfall auch die verkündeten wissenschaftlichen Maßstäbe sowie die aus der Marxschen Theorie abgeleiteten inhaltlichen Prioritäten und Maßstäbe, die sich marxistische Historiker selbst gesetzt hatten, außer Kraft gesetzt. Die seien zwar bis zu ihrem Untergang von den sozialistischen Staatsparteien nie verleugnet worden, „doch sie waren nicht der wirkliche Maßstab für Förderung oder Ausschluß. Sie konnten auch zur bloßen Fassade herabgewürdigt werden.“ (238)

Die von Röhr vorgenommene strikte Trennung von „politischem Legitimationsanspruch“ und „autonomem Wissenschaftsanspruch“ mag spitzfindig erscheinen, macht aber den Blick auf das eigentliche Problem frei: „Eine Wissenschaftsdisziplin für disqualifiziert zu erklären, weil ihre Forschungsergebnisse auch politische Legitimationsfunktion erfüllen“, geht in der Tat am Kern der Sache vorbei. Um Wissenschaft erfolgreich instrumentalisieren zu können, müsse Wissenschaft vorausgesetzt sein. „Das wirkliche Erkenntnisproblem hinsichtlich der Unterordnung der Geschichtswissenschaft unter die politische Führung der Staatspartei“ bestehe doch gerade darin zu erklären, schreibt Röhr, „daß die Historiker nicht durch Legendenbildung, sondern auch und gerade durch wissenschaftlich unzweifelhafte Ergebnisse legitimatorisch wirken konnten und meist auch wollten. Diese ideologische Funktionsweise ist aufzuklären, nicht aber vorauszusetzen, daß wissenschaftliche Verfahren und Ergebnisse per se daraus ausgeschlossen seien.“ (239f.)

Evaluation und Liquidation

Relativ knapp geraten ist die Darstellung der Reaktionen ostdeutscher Historiker auf die „Rückwende 1989/90“ und die kapitalistische Restauration (Kapitel 3). Diese bewegten sich Röhr zufolge zwischen „Selbstpreisgabe“ und eilfertiger Anpassungsbereitschaft einerseits und den Versuchen zu „selbstbewusster Erneuerung“ andererseits, wobei letztlich alle Ansätze eigenständiger Erneuerung der Geschichtswissenschaft mehr oder minder gewaltsam abgebrochen, administrativ unterdrückt oder sogar verboten wurden. Eigenständiger Erneuerung stand nicht nur die Blockadepolitik der Siegermacht BRD entgegen, sondern auch die Passivität und mehr noch der „Umsattlungseifer“ (Wolfgang Ruge) einer großen Zahl von Historikern der DDR. Letzerer verband „die ‚Entdeckung‘ der eigenen ‚Instrumentalisierung‘ durch die SED mit einer demonstrativen Abwendung von der eigenen Vergangenheit“ (244). Nur wenigen DDR-Historikern wie Wolfgang Ruge sei es gelungen, „eine schonungslose Selbstkritik zu üben, ohne ihre DDR-Identität zu verleugnen“ (244). „Gegenüber einer Flut des politischen Opportunismus und des voraus­eilenden Gehorsams gegenüber West-Historikern, die den politischen Sieg im Wettkampf der Systeme als eigene Leistung und als Beweisgrund eigener wissenschaftlicher Überlegenheit, ja Unfehlbarkeit verkauften“, fasst Röhr zusammen, habe es „jede selbstbestimmte Erneuerung äußerst schwer“ gehabt. (250)

Die sich „von der Kooperation zur Disqualifizierung“ wandelnde Haltung westdeutscher Historiker sowie des Verbandes der Historiker Deutschlands (VHD) und seines damaligen Vorsitzenden Wolfgang Mommsen zur DDR-Historiographie von Herbst 1989 bis zum Herbst 1990 rekonstruiert Werner Röhr im 4. Kapitel seiner Studie. In Abhängigkeit von den Entscheidungen der Kohl-Regierung auf dem Wege zur Abwicklung der DDR, so Röhr, veränderte sich die Haltung dieses Verbandes in schneller Folge. War noch im Herbst 1989 eine Intensivierung der Kooperation mit den DDR-Kollegen auf Augenhöhe zu konstatieren, so zeichnete sich ab den Märzwahlen 1990 eine zunehmende Bevormundung ab – bis hin zur „Alleinvertretungsanmaßung“ des VHD auf dem Weltkongress der Historiker in Madrid im Sommer 1990, als die VHD-Vertreter sich vehement der Wiederwahl eines DDR-Historikers in das höchste Gremium der internationalen Historikerassoziation widersetzten. Damit war der VHD wieder bei seiner Position aus der Zeit des Kalten Krieges angelangt, als er auf seinem Verbandstag in Trier 1958 marxistischen Historikern aus der DDR das Wort verboten hatte. Wenige Tage vor der staatlichen Vereinigung auf dem Bochumer Kongress im September 1990, das zum Tribunal gegen die ehemaligen Kollegen aus der DDR geriet, hatte der VHD mit der Forderung nach Abwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft eine letzte Positionsänderung vollzogen. „Die unumgängliche grundlegende Neuorientierung der Geschichtswissenschaft in den fünf neu entstehenden Bundesländern“ wurde nun als Verbandsaufgabe formuliert.

In den Augen der westdeutschen Verbandsfunktionäre bestand die besondere Perfidie der DDR-Historiker darin, „einen Staat legitimiert zu haben, der in ihren Augen niemals legitim war.“ Dabei machten die Funktionäre des VHD gar nicht erst den Versuch, zwischen den DDR-Historikern zu differenzieren. Das ging soweit, dass etwa Hans-Ulrich Wehler allen Historikern der DDR durch die Bank intellektuelle Redlichkeit absprach.

Nach derartigen Stellungnahmen verwundert es kaum, dass sich einige Vertreter der westdeutschen Historikerzunft im Umgang mit den ostdeutschen Kollegen als die schlimmsten Inquisitoren gebärdeten, wie Werner Röhr in Kapitel 5 detailliert darlegt. Das umfangreiche Kapitel dokumentiert anhand der zwei wichtigsten Gruppen von Instituten, wie sich die Abwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft, vorgenommen durch die Wissenschaftsministerien der im Herbst in Ostdeutschland gebildeten neuen Landesregierungen, vollzog. Die Beschaffung der Informationen dazu erwies sich als schwierig, weil Röhr die Einsichtnahme in die schriftlichen Zeugnisse der „Neuordnung“ an den Universitäten und Akademien unter Verweis auf das bundesdeutsche Archivgesetz und seine Fristenregelungen wiederholt verweigert wurde. Dem Autor blieb daher nichts anderes übrig, als diese Lücken, so weit als möglich, durch die Jahre währende Recherche nach verstreut vorhandenen schriftlichen Unterlagen sowie durch Gespräche mit Beteiligten bzw. Betroffenen zu schließen. Es sei zu betonen, urteilt Röhr, „dass manche Kollegen aus den alten Ländern um Analyse, Differenzierung und Urteil bemüht blieben, dass entgegen der Ausgrenzung Einzelpersonen wie ganze Institute an der Kooperation festhielten und dass gegen die Schäden der Abwicklung Kollegen wie Institutionen vereinzelt Hilfe leisteten.“ „Doch Verbandspolitik“, fügt er hinzu, „war das nicht.“ (10)

Mit seinen Empfehlungen, alle vier historischen Institute der Akademie der Wissensschaften aufzulösen, folgte der Wissenschaftsrat, so Röhr, „faktisch […] der Forderung des Verbandes der Historiker Deutschlands vom September 1990“ (303). Die vom Wissenschaftsrat verantwortete und durchgeführte „Evaluierungsfarce“ endete denn auch mit deren Auflösung. Die Auflösungsempfehlungen folgten, wie Röhr darlegt, der vorgegebenen politischen Aufgabe und hatten in keinem Fall irgendetwas mit der differenzierten und meist sehr positiven Evaluierung der wissenschaftlichen Leistungen der Institute zu tun. Im Gegenteil: „Die Arbeitsgruppen ‚Geisteswissenschaften‘ bzw. ‚Wirtschafts- und Sozialwissenschaften‘ empfahlen nämlich ausgerechnet jene Institute aufzulösen, die sie selbst für die leistungsfähigsten hielten.“ (304) Maßgebend für das Urteil der Evaluatoren war laut Röhr „allein das Kriterium der ‚Einpassung‘, und das diktierte den Ausschluß […] einer besseren oder auch nur unliebsamen Konkurrenz.“ (304) Die politisch gewollte „Überstülpung der bundesdeutschen Strukturen auch und gerade dann, wenn diese zuvor von denselben Gutachtern grundsätzlich kritisiert worden waren“, habe es eben eingeschlossen, auch jene Institute zu schließen, „für die es in der BRD kein Pendant gab“. (303) „Sie wurden nicht geschlossen, weil sie nicht leistungsfähig, sondern weil sie für die BRD-Wissenschaftsstruktur zu leistungsfähig waren.“ (305) Während die Akademieinstitute pauschal aufgelöst wurden, blieben die universitären Geschichtsinstitute formal bestehen, wurden aber als „in Gründung“ behandelt, d.h. entsprechend einer neuen Lehrstuhlstruktur wurden neue, vor allem westdeutsche Professoren berufen und die alten entlassen. Die Initiative, Regulierung und Kontrolle dieser Abwicklung, bei der politischen Säuberung des Personals und bei den Entlassungen übernahmen die Wissenschaftsministerien der neu gebildeten Länder. Der Haupthebel, mit dem Massenentlassungen erzwungen wurden, war dabei die Kürzung der Finanzmittel. Oft fanden die damit beauftragten Kommissionen die wissenschaftlichen Institutionen der DDR seien überbesetzt – was gemessen an dem vorangegangenen Abbau von Kapazitäten in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Bundesrepublik – sicher der Fall war.

Bei der Abwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft ging es, fasst Röhr zusammen, „nicht um deren Beurteilung, sondern um die wissenschaftliche, politische und moralische Disqualifizierung der DDR-Historiker durch ihre Konkurrenten und um ihren faktischen Ausschluß aus der Wissenschaft. Entsprechend dieser Zwecksetzung hielten die Vertreter des westdeutschen Fachverbandes, welche sich zu Anklägern, Richtern und Vollstreckern aufschwangen, um anschließend die geräumten Pfründen zu übernehmen, es für überflüssig, sich um elementare Voraussetzungen einer Urteilsbildung auch nur zu bemühen.“ (8) Stattdessen blieben sie, so Röhr, „lieber auf der Ebene vorgefaßter oder manipulierter Meinungen“, „eine dem Gegenstand angemessene Beurteilung“ hielten sie „nicht nur für überflüssig, sondern für den Zweck der Abwicklung auch für schädlich.“ (8)

Nach dem Kahlschlag totgesiegt

Eine ernüchternde Bilanz zieht Werner Röhr im Nachwort des Buches, das sich mit den Auswirkungen der rigiden Abwicklung der DDR-Geschichtswissenschaft auf die bundesdeutsche Historiographie auseinandersetzt. Habe diese in den 1970er und 1980er Jahren durch die Integration der Sozialgeschichtsforschung (Bielefelder Schule) und die beginnende kritische Sicht auf die Expansionspolitik des deutschen Imperialismus („Fischer-Kontroverse“ ab 1959 um die Hauptverantwortung des kaiserlichen Deutschlands für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs) sowie den „Historikerstreit“ von 1986/87 an Profil gewonnen hatte, sieht er sie nach 1990 einer Re-Nationalisierung ausgesetzt, die einhergeht mit einem Geschichtsrevisionismus, dessen „ideologischer Hauptnenner“ die erneuerte Totalitarismusdoktrin wurde (481). Mit dem wissenschaftlichen Kahlschlag in der DDR habe sich die westdeutsche Geschichtswissenschaft gewissermaßen totgesiegt und ihre „Unterordnung unter medial geformte Herrschaftsbedürfnisse“ (484) praktisch vollzogen. Deren eigene Vertreter hätten den Aufklärungsanspruch, von dem ihre sozialgeschichtliche Richtung seit den 1960er Jahren lebte, zugunsten einer Unterordnung unter Herrschaftsinteressen aufgegeben. Die neubundesdeutsche Geschichtswissenschaft sei damit genau zu dem geworden, was ihre Vertreter der ostdeutschen Historiographie vorgeworfen hatten, bloße Herrschafts„wissenschaft“, was Röhr beispielhaft an der Darstellung der faschistischen Diktatur als sozialrevolutionäre Variante eines säkularen Modernisierungsprozesses“ (477) durch Historiker wie R. Zitelmann, der florierenden „Vertreibungsforschung“ (485) sowie am erneuten Aufblühen der „Militärgeschichte (im engeren Sinn als Schlachtengeschichte), Diplomatie- und Geistesgeschichte“ (475) belegt. „Je dringlicher die Geschichtswissenschaft der nationalen Sinnstiftung zu dienen hat“, so Röhrs zutreffende Analyse, „desto mehr muß sie ihre Kritik gegenüber der deutschen Vergangenheit reduzieren.“ (475). Als einen Kronzeugen dieser Entwicklung zitiert Werner Röhr den Direktor des Instituts für Zeithistorische Forschungen Potsdam, Martin Sabrow, der die gegenwärtige Geschichtspolitik als „ein ganzes Netz von Formelkompromissen“ bezeichnete, „die in ähnlichen Aushandlungsprozessen zwischen Politik und Wissenschaften“ (man könnte ergänzen: und den Mainstream-Medien) „entstanden wie weiland historische Grundlagenwerke in der DDR“.

Kritisch sei hier anzumerken, dass der von Werner Röhr zumindest Teilen der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft zugestandene Aufklärungsanspruch bereits lange vor der „Wende“ schweren Schaden gelitten hatte, sich die Tendenz zur Re-Nationalisierung und apologetischen Geschichtsschreibung bereits in den späten 1970er und verstärkt in den 1980er Jahren abzuzeichnen begann. In seiner Wirksamkeit als Schrittmacher der Anpassung, insbesondere in den historischen, Sozial- und Geisteswissenschaften der BRD, nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang der 1972 unter dem Bundeskanzler und SPD-Säulenheiligen Willy Brandt eingeführte Radikalenerlass, der in den Folgejahren zu geschätzten 10.000 Berufsverbotsfällen führte. Die Liquidation insbesondere der Geschichtswissenschaft der DDR mit daraus resultierenden unzähligen „de facto“-Berufsverboten muss in diesem historischen Kontext gesehen werden. Das von Werner Röhr umfassend dokumentierte und analysierte Konkursverfahren, dem die DDR-Historiographie seit 1990 unterworfen wurde, baute auf die bundesdeutsche Berufsverbotspraxis der Brandt-Ära auf und ist deren logische Fortsetzung und Steigerung ins Monströse.

Hätte eine Erneuerung eine Chance gehabt?

Es ist eine offene – und letztlich vielleicht müßige – Frage, ob eine Erneuerung der DDR-Geschichtswissenschaft (im marxistischen Geist) im Falle einer „Wiedervereinigung“ auf Augenhöhe möglich gewesen wäre. Thomas Kuczynski, ebenfalls ein „Abgewickelter“, hat Werner Röhr in einer Rezension in „Ossietzky“ vorgehalten, ein Blick auf die analogen Vorgänge in Osteuropa hätte dem Autor gezeigt, „daß die durch den ,Anschluß‘ obsolet gewordenen Ansätze zu einer geschichtswissenschaftlichen Erneuerung in der DDR vermutlich über kurz oder lang zu ähnlichen Resultaten wie dort geführt hätten. […] Diejenigen Historiker […], die angesichts ‚jäher politischer Wendungen‘ schon früher ihre Wendigkeit unter Beweis gestellt hatten, vollzogen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ihre eigene Wende und wandten sich einer vaterländisch-nationalistisch dominierten Geschichtsschreibung zu. Den meisten DDR-Historikern jedoch hat die Abwicklung eine analoge Wende verwehrt.“

Kuczynskis objektivem Befund ist nicht zu widersprechen. Tatsächlich stellt sich die Frage: Hätte es unter der nicht geringen Zahl an gut ausgebildeten DDR-Historikern ein ausreichendes Potenzial an Willigen für eine selbstkritische marxistische Erneuerung ihrer Wissenschaft gegeben, die auch das Rückgrat gehabt hätten, ihre Positionen in dem so ganz im Kielwasser des „Anschluss“-Taumels der Kohl-Politik schwimmenden bundesdeutschen Wissenschaftsbetrieb offensiv zu vertreten. Das gilt wohl kaum für jene ehemaligen DDR-Professoren, die sich nach der Wende wunderten, dass sie von denselben Westakademikern, die sie in der Honecker-Zeit auf Kongressen hofiert hatten, nun wie ein Nichts behandelt wurden. Ihnen stehen Historiker-Persönlichkeiten wie (die von Werner Röhr memorierten) Wolfgang Ruge, Manfred Kossok und Helmut Bleiber gegenüber. Immerhin ist nicht auszuschließen, dass die, nennen wir sie einmal: nonkonformistische DDR-Historikergarde zum Stachel im Fleisch einer – in diesem Fall – gesamtdeutschen Geschichtswissenschaft mit möglicher Vorbildfunktion für die Studierenden hätte avancieren können. Genau derartiges aber galt es ja aus Sicht der Abwickler zu verhindern.

[1] Werner Röhr: Abwicklung. Das Ende der Geschichtswissenschaft der DDR. Band 1. Analyse einer Zerstörung. Edition Organon, Berlin 2011, 519 Seiten, 30,90 Euro; Band 2. Analyse ausgewählter Forschungen. Übersichten – Register. Edition Organon, Berlin 2012, 30,90 Euro.

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