Veränderungen der internationalen Kräfteverhältnisse

Global Governance – Kräfteverschiebungen in der Krise

Juni 2009

Herr, die Noth ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd’ ich nun nicht los.

Goethe, Der Zauberlehrling

Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist auch zu einem Testfall für das geworden, was in den vergangenen Jahren unter dem Stichwort Global Governance heftig diskutiert wurde.[1] Governance – nicht zu verwechseln mit Government (Regierung) – bedeutet so viel wie steuern, lenken, regulieren, ohne dass dies in der institutionell, verfahrensmäßig und machtpolitisch klar definierten Form wie bei einem Staat geschieht. Denn Regieren ist im internationalen System nicht möglich, da es einen internationalen oder globalen Staat nicht gibt.

Da aber andererseits globale Problemlagen wie die Klimaerwärmung und die zunehmend transnational, also jenseits der Zugriffsmöglichkeiten des Nationalstaats, agierenden Unternehmen politischen Handlungsbedarf erzeugen, sollte mit dem Global Governance Konzept versucht werden, diese Probleme zu bearbeiten. Global Governance ist demnach der Versuch, durch formelle und verbindliche Abkommen, aber auch durch rechtlich nicht bindende Standardsetzung, Selbstverpflichtungen, Kooperations- und Dialogverfahren und multilaterale Netzwerke Regulierungseffekte zu erzielen. Institutionell getragen wird das System zum einen von den formellen Institutionen wie IWF, WTO, Weltbank, BIZ[2], OECD etc.[3], aber auch von den im UNO-System für ökonomische Fragen zuständigen Organisationen wie UNCTAD, UNDP oder ECOSOC.[4] Ergänzt werden die formellen Institutionen durch informelle Strukturen. Die prominentesten darunter sind die G8 und neuerdings die G20. Informell heißt, es gibt keine Statuten, keinen festen Sitz, keinen festen Vorsitz und die Beschlüsse haben Empfehlungscharakter – was nicht ausschließt, dass sie unter bestimmten Bedingungen durchaus beträchtliche Wirkungen haben können.[5] Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NROs) und die Lobby des Privatsektors sind ebenfalls Teil des Akteursfeldes von Global Governance, wobei der direkte Einfluss der NROs bisher sehr beschränkt ist.[6] Global Governance ist also ein Versuch, eine Art Ersatz für Staatlichkeit im internationalen System zu etablieren, wenn auch weit unterhalb der Schwelle von formaler Staatlichkeit.

Global Governance ist keine basisdemokratische Veranstaltung, sondern durchzogen von den machtpolitischen Hierarchien und Kräfteverhältnissen, wie sie in der Welt existieren. So sind z.B. die UN-Institutionen weitgehend marginalisiert worden, während die von den USA und ihren Verbündeten kontrollierten Einrichtungen wie G8, WTO, IWF und Weltbank einen eminenten Einfluss ausüben.

Wie die Krise jetzt deutlich zeigt, konnten die bestehenden Governance Strukturen die Krise und ihre globale Ausbreitung nicht verhindern. Einige wichtige Institutionen wie der IWF und die WTO haben im Gegenteil sogar zum Krisenprozess beigetragen. Die Politik der Liberalisierung und Deregulierung, die in den vergangenen drei Jahrzehnten weltweit durchgesetzt wurde, hat zugleich die Übertragungskanäle bzw. Ansteckungswege vervielfacht und die Widerstandskraft der einzelnen Volkswirtschaften gegen externe Schocks geschwächt. So sind auch die Schwellen- und Entwicklungsländer, die am System des Kasinokapitalismus nicht beteiligt waren, jetzt dennoch hart betroffen, zumal nur die wenigsten von ihnen über die Mittel verfügen, um mit massiven Konjunkturpaketen die Krisenfolgen abfedern zu können.

Aber auch beim Krisenmanagement spielen die Strukturen der Global Governance nur eine Nebenrolle. Jetzt rächt sich für ihre Protagonisten das, was von der Globalisierungskritik seit vielen Jahren als ein grundlegendes Problem der Globalisierung thematisiert wurde: der zunehmenden Transnationalisierung der Ökonomie, ihrer Entbettung aus dem regulatorischen Zugriff des Nationalstaats, steht nicht in gleichem Maße eine Transnationalisierung von Staatlichkeit gegenüber. Es ist eine tiefe Asymmetrie entstanden zwischen der Wirkungsmächtigkeit globalisierter Märkte und der Fähigkeit, diese politisch zu kontrollieren und zu steuern.

Rückkehr des Nationalstaats

Gegenwärtig ist viel von der Rückkehr des Staates die Rede. Zwar war der Staat auch in Hochzeiten der Globalisierung weit davon entfernt, verschwunden zu sein; richtig aber ist, dass die neoliberale Marktgläubigkeit und ihr Anti-Etatismus dazu geführt hatten, dass staatliche Kontrolle der Wirtschaft, und hier an erster Stelle über die Finanzindustrie, über drei Jahrzehnte hinweg kontinuierlich abgebaut worden war. Jetzt, da der Finanzkapitalismus bankrott ist, muss der Staat als salvator of last resort den Karren aus dem Dreck ziehen, mit gigantischen Rettungspaketen für Banken und Automobilkonzerne, Konjunkturprogrammen, Verstaatlichungen und – wie im Fall der Hypo Real Estate – sogar durch Enteignung.

Allerdings, es ist nicht der Staat als solcher, der die Krise jetzt zu managen versucht, sondern es sind konkrete Nationalstaaten, d.h. der deutsche, der französische, der chinesische, der der USA etc. Jeder dieser Nationalstaaten mobilisiert seine Möglichkeiten und Ressourcen in einem Maße, wie man es sonst nur aus Kriegszeiten kennt, um einen Ausweg aus der Krise zu finden.

Demgegenüber standen die multilateralen Organisationen im Krisenmanagement und das ganze System von Global Governance bisher am Rand. Lediglich der IWF war mit Krediten an der Rettung Ungarns, der Ukraine, Lettlands und Islands vor einem Staatsbankrott beteiligt.

Das nationalstaatliche Krisenmanagement hat beträchtliche Mängel und Grenzen und es ist nicht ausgemacht, ob es, und wenn ja: in welchem Maße, es wirksam sein wird. Es ist daher unumgänglich, auch die multilaterale Kooperation maximal auszubauen. In unserem Kontext aber ist zunächst einmal von Belang, dass im Vergleich zu den multilateralen Institutionen die Nationalstaaten die institutionellen Zentren für die Bearbeitung der Krise sind. In der Globalisierungsdebatte der zurückliegenden Jahre wurde die grundlegende Tatsache, dass der Nationalstaat noch immer der dominierende Rahmen von Vergesellschaftung ist, unterschätzt. Aus der zutreffenden Beobachtung, dass der Nationalstaat im Zuge der Globalisierung an Steuerungs- und Problemlösungskapazität verliert, folgt nicht, dass er deshalb bereits völlig obsolet sei. Erst recht gilt dies für die großen und ökonomisch, militärisch etc. potenten Nationalstaaten, die – wie wir jetzt sehen - durchaus noch über beträchtliches Gestaltungspotential nach innen wie nach außen verfügen.

All dies sind Feststellungen, keine Werturteile darüber, ob der Nationalstaat gut oder schlecht, ob er zu überwinden oder zu bewahren ist. Und schon gar nicht haben diese Feststellungen mit Nationalismus, Patriotismus u.ä. Konstruktionen kollektiver Identitäten zu tun.

Wenn die Funktionseliten die Krise jetzt vorwiegend mit nationalstaatlichen Instrumenten zu lösen versuchen, dann tun auch sie dies nicht aus Nationalismus. Vielmehr ist die Tatsache, dass bisher allein der Nationalstaat über die institutionellen, verfahrensmäßigen und rechtlichen Instrumentarien verfügt, um solche Krisen zu bekämpfen der Grund dafür. Sie haben gar keine andere Wahl. Nobelpreisträger Joseph Stiglitz formuliert das Problem so: „Diese globale Krise verlangt nach einer globalen Reaktion. Leider jedoch liegen die Zuständigkeiten weiter auf der nationalen Ebene.“ (FTD, 17.4.2009). Metaphorisch gesprochen: wir haben einen Großbrand, die Feuerlöschzüge befinden sich alle in der Hand der Nationalstaaten. Allerdings sind sie auf dem technologischen Stand der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Der IWF hat vielleicht noch eine Handspritze, die anderen vielleicht gerade einmal Eimer. An dieser Grundkonstellation wird sich auch kurzfristig nichts ändern. Denn der Aufbau politischer Steuerungskapazitäten jenseits des Nationalstaates ist ein äußerst komplexer und langwieriger Prozess, vor allem wenn er demokratisch sein soll.

Für emanzipatorische Politik ergibt sich daraus eine Doppelstrategie: Zum einen gilt es, die vorhandenen Spielräume auf nationalstaatlicher Ebene auszuschöpfen. Darunter gibt es schließlich auch einige ausgesprochen interessante Instrumente, wie z.B. Artikel 14 des Grundgesetztes, in dem es in Absatz 3 heißt: „Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.“ Dieser Artikel war die Grundlage für das Enteignungsgesetz im Fall der Hypo Real Estate. Der folgende Artikel 15 lautet übrigens: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.“

An dieser Stelle wird auch ein anderer Grund dafür deutlich, dass es sinnvoll ist, die noch bestehenden nationalstaatlichen Spielräume für emanzipatorische Politik gründlich auszuschöpfen: ein funktionstüchtiges demokratisches System besteht bisher nur auf nationalstaatlicher Ebene. Ungeachtet ihrer Begrenzungen und trotz aller Tendenzen, demokratische Rechte einzuschränken, ist die parlamentarische Demokratie eine zivilisatorische Errungenschaft, die verteidigenswert und weiter auszubauen ist. Allerdings ist sie bisher an das Territorialprinzip des Nationalstaates gebunden. Ein demokratisches System jenseits des Nationalstaates existiert bisher nicht, wie nicht zuletzt die EU mit ihrem dramatischen Demokratiedefizit zeigt. Aus Demokratiegesichtspunkten sind supranationale, europäische oder multilaterale Formen von Staatlichkeit daher nicht per se Ausdruck eines emanzipatorischen Internationalismus. Es kommt darauf an, ob sie auch demokratisch sind.

Möglichkeiten demokratischer Einflussnahme über den Hebel des Nationalstaates sind auch bei der Entwicklung einer neuen internationalen Finanzarchitektur und einer Reform der Weltwirtschaft zu nutzen. Dabei können auch bestimmte Instrumente unilateral eingesetzt werden. Nicht alles muss multilateral gemacht werden. Zumal der Zwang zum Multilateralismus oder zur europäischen Regelung auch immer wieder strategisch missbraucht wird, um durchaus mögliche unilaterale Maßnahmen nicht ergreifen zu müsse. So besteht beispielsweise kein Grund, Hedge Funds, Private Equity Funds, Special Conduits u.a. Schattenbanken im Geltungsbereich des Grundgesetzes nicht zu verbieten. Gleiches gilt für riskante Derivate oder Geschäftsmodelle wie Leerverkäufe.[7] Viele dieser Dinge, wie Hedge Fonds und Leerverkäufe waren auch bis vor wenigen Jahren verboten, wurden aber vor allem durch die Schröder-Regierung im Namen der „Stärkung des Finanzplatzes Deutschland“ zugelassen.

Auch die negativen Auswirkungen von Steuerparadiesen und Offshore-Zentren lassen sich eindämmen, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist. Dass das Schweizer Bankgeheimnis jetzt angeknackst wurde, ist das Resultat von unilateralem Druck der USA. Wenn eine konsequente Regulierung und Bankenaufsicht dafür sorgt, dass die deutschen Institute incl. Auslandsfilialen ihren Geschäftsverkehr mit dem Ausland nur nach Standards eines zivilisierten Finanzwesens abwickeln können, wird das zwar nicht alle Probleme des internationalen Finanzsystems lösen, aber doch ein wichtiger Schritt sein. Darüber hinaus kann eine solche Politik Signalwirkung haben und multilateral politische Dynamik erzeugen. Gerade für ein relativ großes und ökonomisch gewichtiges Land wie die Bundesrepublik bestehen hier noch zahlreiche Möglichkeiten.

Andererseits ist unter Bedingungen der Globalisierung die Erosion nationalstaatlicher Handlungsfähigkeit im internationalen System natürlich eine Tatsache. Deshalb ist der Ausbau multilateraler Koordination notwendig. Kurzum: soviel nationalstaatlich wie nötig, so viel multilateral wie möglich.

EU im Krisenmanagement marginalisiert

Die Marginalisierung der multilateralen Organisationen in der Krise gilt auch für die supranationale Institution EU. Auch die Gemeinschaft ist nicht in der Lage, bei der Bewältigung der Krise in nennenswerter Weise mitzuwirken. Selbst wenn, wie in Vorbereitung des Londoner G20 Gipfels, eine „gemeinsame Position der EU“ formuliert wurde, dann war diese ein Konsens unter den drei größten Mitgliedsstaaten – zutreffend als leadership, als Führung kommentiert – für dessen Zustandekommen es keiner europäischen Institutionen bedurft hätte. Die EU-Kommission, die avancierteste Repräsentanz europäischer Supranationalität, spielte dabei auf den internationalen Konferenzen nur als Staffage eine Rolle.

Die Marginalisierung der EU ist kein Zufall. Die Kompetenzen für die Regulierung und Aufsicht der Finanzmärkte liegt, anders als z.B. in der Agrar- oder Handelspolitik – bei den Nationalstaaten. Das lag durchaus auf der Linie der Liberalisierung und Deregulierung, wie sie in der Lissabon-Strategie verfolgt wird. Und es liegt im Interesse der Finanzindustrie, die von der Regulierungsarbitrage, d.h. den unterschiedlichen Standards in den Mitgliedsländern profitiert. Ein typisches Beispiel dafür ist die Pleite der Sächsischen Landesbank. Kurz vor deren Kollaps hatte eine Prüfung der deutschen Aufsichtsbehörde BAFin stattgefunden. Auch die Bundesbank prüfte die Bücher der Sachsen. Außerdem hatte eine Revision durch die internationale Rechnungsprüfungsgesellschaft Price Waterhouse Cooper stattgefunden sowie eine Sonderprüfung durch die Prüfungs- und Beratungsfirma KPMG gegeben (FAZ Net 6.1.2009). Niemand hatte ein Problem gefunden – einfach deshalb, weil die Bank eine hochspekulative Tochter in Irland unterhielt, die sie aber rechtlich der deutschen Aufsicht nicht melden musste. Und daher hat die deutsche Aufsicht nicht in Irland geprüft.

Daran wird sich in absehbarer Zukunft nichts grundlegend ändern. Eine Studie, die die EU Kommission in Auftrag gegeben hatte, der sog. de Larosière Report, kommt im März 2009 zu dem Ergebnis, dass eine Regulierung und erst recht Aufsicht auf EU-Ebene politisch unrealistisch sei, und schlägt deshalb vor, sich mit einer Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsländern zu bescheiden.[8]

Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die britische Regierung bis heute versucht, der Londoner City eine strengere Regulierung und Aufsicht zu ersparen, um die „Attraktivität des Finanzstandorts London“ nicht zu gefährden. Fast 10 Prozent des britischen BIP werden direkt von der Londoner City erwirtschaftet. Mit den Branchen, die indirekt davon profitieren, von Immobilien über Gastronomie bis zu Luxusgüterbranche kommt das Doppelte zusammen.

Aber nicht nur Großbritannien hat Interesse daran, so viel wie möglich vom Kasinokapitalismus zu retten. Auch in Irland, Österreich, den Niederlanden, Luxemburg oder der Tschechische Republik gibt es aus unterschiedlichen Motiven Widerstand gegen eine europäischer Regulierung, sei es, dass ein Land stark vom der Finanzindustrie abhängig ist, sei es, dass der Glaube an die Selbstregulierungsfähigkeit des Marktes trotz des Crash ungebrochen ist.

Auch die Kommission selbst ist ideologisch tief im neoliberalen Denken verhaftet. Insbesondere der für die Finanzindustrie zuständige Kommissar Charlie McGreevy (Binnenmarkt und Dienstleistungen) tritt in die Fußstapfen seines ultraliberalen Vorgängers Frits Bolkenstein und geriert sich geradezu als Schutzheiliger des Kasinos. So hatte er sich gegen einen Bericht des europäischen Parlaments gestellt, in dem die Regulierung von Hedge Funds und Private Equity Funds gefordert wird[9], und eine europäische Richtlinie entworfen, die sich auf Selbstverpflichtungen der Fonds Manager beschränkte. Auch sein jüngster Entwurf einer Richtlinie zur Deckelung von Managergehältern ist so formuliert, als ob er von den Betroffenen selbst geschrieben worden wäre (FTD, 14.4.2009).

In dem durch die Krise hervorgerufenen Differenzierungsprozess unter den Funktionseliten gehört die Kommission zu jener Strömung, die noch am stärksten den alten Dogmen des Neoliberalismus verhaftet ist.

G20 – der neue Star am Firmament der Global Governance

Die Krise hat ein Gremium an die Spitze der Global Governance-Strukturen gespült, das zwar schon nach der Asienkrise entstanden war,[10] aber bis vor kurzem im Schatten der G8 stand: die Gruppe der 20 (G20). Ihr gehören neben der G8 an: Argentinien, Australien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Mexiko, Saudi Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei und die EU.[11]

Das erste Treffen der G20 auf Ebene der Staatschefs fand am 15. November 2008 in Washington statt. Der Gipfel war die Abschiedsvorstellung der Bush-Administration und trug noch stark deren Handschrift. Dennoch reflektiert allein die Tatsache, dass dieser Gipfel stattfand, tektonische Verschiebungen im internationalen System. Mit dem ökonomischen und machtpolitischen Aufstieg Chinas, Indiens und anderer Schwellenländer und der relativen Schwächung der USA und, abgestuft, der anderen Krisenländer des Kasinokapitalismus war die bisherige Vorrangstellung der G8 nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die G8 wird zwar noch eine Weile existieren, vor allem, weil kleinere Mächte wie Italien in diesem Rahmen sich wichtiger fühlen können als in der G20, aber bereits jetzt hat die G8 seine vormalige Stellung eingebüßt.

Allerdings gilt grundsätzlich auch für die G20, dass es sich um ein informelles Gremium handelt, ohne rechtlichen Status. Seine Beschlüsse haben Empfehlungscharakter. Deshalb müssen sie nicht wirkungslos sein. Da die großen Mächte, vorneweg die USA, auch in den formellen Institutionen wie IWF und Weltbank das Sagen haben, können sie durchaus dafür sorgen, dass Gipfelbeschlüsse dort auch praktisch umgesetzt werden. Ob aber China, Indien oder die anderen Mitgliedsländer den Gipfelempfehlungen folgen, bleibt ihnen überlassen. Insofern gilt für Reichweite und Grenzen der G20 das, was im Abschnitt über die Rolle der Nationalstaaten formuliert wurde. Auch die G20 ist eine komplementäre Struktur zu den dahinter stehenden großen Mächten.

Die G20 vertreten zwei Drittel der Weltbevölkerung[12] und die wichtigsten Ökonomien der Weltwirtschaft. Alle Kontinente sind vertreten und mit Indonesien auch das größte islamische Land. Insofern sind die G20 ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zur G8 und emanzipatorische Politik kann das auch als Erfolg, an dem sie teilhat, verbuchen. Daher führt ein nur konfrontativer Umgang mit den G20 in die Sackgasse. Die geringe Beteiligung an den Protestaktionen gegen den Londoner Gipfel am 2. April 2009 dürfte ein Indiz dafür sein. [13]

Allerdings weist die G20 noch immer ein beträchtliches Demokratiedefizit auf. Das fängt damit an, dass die Zusammensetzung von den G8, also von oben nach unten, bestimmt wurde. Darüber hinaus fehlen eine Repräsentanz der armen Länder und eine (völker)rechtliche Legitimation.

Gewinner und Verlierer

Der rasante Aufstieg der G20 zeigt, dass eine Rekonfiguration des internationalen Systems im Gange ist. Dabei gibt es Gewinner und Verlierer. Der erste Verlierer ist die G8. Die Gruppe verliert ihre zentrale Stellung im System der Global Governance. Sie wird sicher noch einige Zeit weiter bestehen. Nicht zuletzt deshalb, weil einige der zweitrangigen Mitglieder wie Italien oder Kanada in einer kleineren Gruppe über relativ mehr Gewicht verfügen als in der G20, wo sie neben den Schwergewichten in den Hintergrund geraten. Längerfristig dürfte die G8 aber immer bedeutungsloser werden.

Zu den Gewinnern des Umbruchs gehören dagegen der IWF und die Weltbank. Der Fonds war den letzten Jahren in eine ernsthafte Krise geraten. Die zurückliegenden Boomjahre der Schwellenländer, an denen auch ehemalige Schuldner des IWF wie Argentinien und Brasilien teilhatten, hatte es diesen erlaubt, ihre Schulden zurückzuzahlen. Da IWF-Kredite in den letzten zwei Jahrzehnten immer mit Auflagen zu neoliberalen Strukturanpassungen verbunden waren, strebten die Schuldner danach, sich von der wirtschafts- und ordnungspolitischen Bevormundung zu lösen, zumal der IWF an der direkten Leine der USA lag.[14] Die Krise des IWF ging so weit, dass in den letzten Jahren sogar Entlassungen ins Auge gefasst werden mussten.

Bereits vor dem G20 Gipfel in London am 2.April 2009 hatte der IWF Ungarn, Ukraine, Lettland, Pakistan und Island durch Milliardenkredite vor dem Bankrott gerettet. In London wurde beschlossen, noch einmal 1,1 Billionen US-Dollar als Kredite für Schwellen- und Entwicklungsländer zur Verfügung zu stellen. 100 Milliarden davon, das entspricht etwa der gleichen Summe, die weltweit für Entwicklungshilfe fließt, sollen über die Weltbank an Low Income Countries gehen. Die 1,1 Billionen sind nichts anderes als ein globales Konjunkturprogramm für jene Länder, die selbst nicht genügend eigene Mittel haben, um die Folgen der Krise abzufedern.

Allerdings deuten sich gleichzeitig zwei weitere Veränderungen an, die das Profil des IWF (und der Weltbank) mehr als nur kosmetisch verändern könnten, wenn sie denn auch in die Praxis umgesetzt würden:

· Die Londoner Empfehlungen des G20 sehen vor, dass die Mittel für antizyklische Politik ausgegeben werden sollen. Das wäre eine klare Wende gegenüber der orthodoxen Strukturanpassungspolitik, denn diese hat ganz im Gegensatz dazu immer eine restriktive Fiskalpolitik vorgeschrieben. Außerdem soll ein Teil der Mittel in die sozialen Netze fließen.[15] Im Bericht der Arbeitsgruppe zur Reform der Weltbank heißt es, dass die Mittel auch zur Stützung der Ausgaben für Bereiche „wie Gesundheit, Bildung, Ernährung und soziale Sicherungsnetze“ eingesetzt werden sollen.[16] Sicher ist es noch zu früh, von einer eindeutigen Abkehr vom alten Denken zu sprechen, denn schließlich muss sich in der Praxis erweisen, ob es sich um mehr als neue Rhetorik handelt. Immerhin aber sieht das Rettungspaket für die Ukraine vor, die Sozialausgaben um 0,8 Prozent des BIP zu erhöhen, „um verwundbare Gruppen zu schützen”.[17]

· In London wurden Stimmrechtsveränderungen diskutiert, die den Schwellen- und Entwicklungsländern größere Mitsprache in den multilateralen Finanzinstitutionen geben sollen: „Wir werden ihr Mandat, ihre Aufgabenbereiche und ihre Entscheidungsstrukturen reformieren, um den Veränderungen in der Weltwirtschaft und den neuen Herausforderungen der Globalisierung Rechnung zu tragen, und dabei müssen Schwellen- und Entwicklungsländer einschließlich der ärmsten eine lautere Stimme und größere Repräsentanz haben.[18]

Offenbar macht es sich bereits bemerkbar, wenn in der G20 die Industrieländer nicht mehr unter sich sind. Das ist noch kein Bruch mit der Dominanz der USA und ihrer Verbündeten. Aber wenn sich bestätigen sollte, was Obama sagte, dass London nur der Anfang eines Prozesses war, und wenn die positiven Ansätze weitergetrieben werden, dann könnte der Gipfel durchaus einen Paradigmenwechsel hin zu einem post-neoliberalen Kapitalismus angekündigt haben.

Im Gegensatz zu den Bretton Woods Institutionen gehört die UNO zu den Verlierern der Umbrüche. Die Tatsache, dass China, Indien und die anderen Schwellenländer nun Mitglied der G20 sind, kann dazu führen, dass die UNO noch weiter marginalisiert wird und eine Arbeitsteilung entsteht, bei der die G20 als Club der Großen und Mächtigen die wichtigen Themen bearbeitet, während die UNO zur Interessensvertretung der armen Länder herabsinkt.

Allerdings ist gegenwärtig noch nicht erkennbar, ob sich dieser Trend tatsächlich durchsetzt. Die Haltung von China, Indien etc. ist in dieser Frage undurchsichtig und möglicherweise auch noch überhaupt nicht festgelegt. Die Schwellenländer hätten durchaus die Möglichkeit, eine Doppelstrategie zu verfolgen, d.h. sowohl in der G20 mitzuarbeiten und parallel dazu die UNO zu stärken.

Die UNO selbst hat die Gefahr erkannt und versucht, sich gegen eine weitere Marginalisierung zu stemmen. So wurde eine Kommission unter Vorsitz von Joseph Stiglitz eingesetzt, die Vorschläge zur Lösung der Finanzkrise erarbeitet hat, die in einigen Punkten über das hinausgehen, was die G20 bisher beschlossen hat. So schlägt die Stiglitz-Kommission z.B. internationale Steuern vor, u.a. auf Finanzdienstleistungen[19], und empfiehlt die Schaffung einer neuen Reservewährung, die den Dollar ablösen soll. Dieser Vorschlag war vor dem G20-Gipfel in London auch von China überraschend öffentlich in die Debatte geworfen worden. Insofern ist er auch unter realpolitischen Gesichtspunkten ernst zu nehmen. Das dramatische Handelsbilanzdefizit der USA gegenüber China und spiegelbildlich ein entsprechender Überschuss verklammert beide Volkswirtschaften in einer ökonomischen Überlebens- und Untergangsgemeinschaft, die eine gemeinsame Problembearbeitung erzwingt. Zugleich verleiht dies China auch durch diesen Faktor noch einmal zusätzlichen Einfluss auf die zukünftige Politik der USA. Insofern gibt es heute de facto auch noch so etwas wie eine informelle G2 im internationalen System, die über beträchtlichen Einfluss auf die Weltpolitik verfügt. Da China bis heute immer wieder betont, dass es sich als Entwicklungsland betrachtet, ist also nicht auszuschließen, dass es die o.g. Doppelstrategie verfolgt.

Die Ergebnisse der Stiglitz-Kommission sollen in eine sog. High Level Konferenz einfließen, die die UNO vom 1.-3. Juni 2009 in New York durchführt. High Level bedeutet, dass man sich eine Teilnahme möglichst aller Staatschefs erhofft. Damit soll ein gewisses Gegengewicht gegen die G20 entstehen. Ob dies gelingt, war bei Abfassung dieses Artikels noch nicht absehbar. Unabhängig davon sollte emanzipatorische Politik versuchen, zu einer Stärkung der UNO beizutragen, ohne allerdings die gleiche Konfrontationspolitik gegenüber der G20 zu verfolgen, wie sie für die G8 durchaus angebracht war. Stattdessen sollte man darauf hinarbeiten, die G20 durch eine Vertretung der armen Länder zu erweitern und im UNO-System zu verankern und zu legitimieren. Eine solche Strategie ist am ehesten geeignet, die Verfestigung einer Parallelstruktur zu verhindern, bei der die UNO nur verlieren kann.

Die Krise hat also auch beträchtlichen Einfluss auf das internationale System. Es entsteht ein neue Konfiguration von Global Governance. Wenn es richtig ist, dass wir es mit einer Krise historischen Ausmaßes zu tun haben, dann kann dies auch nicht verwundern, denn in Zeiten dramatischer Umbruchzeiten wurden auch im internationalen System in der Vergangenheit die Karten immer neu gemischt. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Die Zukunft ist auch auf diesem Gebiet offen wie selten.

[1] Ausführliche zu Global Governance s. Brand/Brunnengräber et al. (2000): Global Governance. Alternative zur neoliberalen Globalisierung. Münster.

[2] Die BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) mit Sitz in Basel ist der Zusammenschluss der Zentralbanken der Industrieländer. Sie hat internationale Regeln zur Bankenregulierung erlassen, die sog. Baseler Abkommen. Insbesondere das jüngste Abkommen, Basel II, hat sich mit seiner Tendenz zur Selbstregulierung der Banken und der Reduzierung des Risikomanagements auf Mikroebene in den generellen Deregulierungs-Trend eingefügt.

[3] Wir beschränken uns hier auf die wirtschaftspolitischen Strukturen. Andere, wie sicherheitspolitische Institutionen (UN-Sicherheitsrat, NATO) etc. werden ausgeblendet.

[4] Wirtschafts- und Sozialrat. Ursprünglich sollte dem ECOSOC der gleiche Status wie dem Sicherheitsrat zukommen, was aber schon von Anfang an vom Westen verhindert wurde.

[5] So z.B. die Beschlüsse der G7 zum Umgang mit der Schuldenkrise der Entwicklungsländer.

[6] Was nicht ausschließt, dass sie in Kombination mit der Herstellung von Öffentlichkeit und der Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen dazu beitragen, die diskursiven Kräfteverhältnisse zu verändern.

[7] Leerverkäufe sind Spekulationen auf fallende Kurse von Vermögenswerten.

[8] The High Level Group on Financial Supervision in the EU chaired by Jacques de Larosière. Report, Brussels, 25 February 2009.

[9] Draft Report with recommendations to the Commission on Hedge funds and private equity (2007/2238(INI)). Committee on Economic and Monetary Affairs. Rapporteur: Poul Nyrup Rasmussen. Brussels 18.4.2008.

[10] Die G20 war von den G7 ursprünglich als „Dialogforum“ für Finanzpolitiker konzipiert. Die Industrieländer wollten auf diesem Weg ihre finanzpolitischen Ordnungsvorstellungen den Schwellenländern nahe bringen.

[11] Beim jüngsten Gipfel wurden unter der Hand die Niederlande und Spanien in die Gruppe hineingenommen.

[12] Wenn man davon absieht, dass die Repräsentativität von Regierungen wie die Saudi Arabiens oder Chinas mangels freier Wahlen relativiert werden kann.

[13] In London, einem Ballungsgebiet von über 10 Millionen Menschen, waren zur zentralen Gipfeldemonstration gerade mal 35.000 Menschen gekommen. In der Bundesrepublik hatten zwei Demonstrationen in Berlin und Frankfurt zusammen 30.000 mobilisiert.

[14] Viele Kritiker der Bretton Woods Institutionen haben immer deren Autonomie überschätzt. Die Einschätzung des Beraters langjährigen Beraters der US-Regierung, Zbigniew Brzezinski, dürfte zumindest bis zur gegenwärtigen Krise realistisch gewesen sein: „Offiziell vertreten der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank globale Interessen und tragen weltweit Verantwortung. In Wirklichkeit werden sie jedoch von den USA dominiert, die sie mit der Konferenz von Bretton Woods im Jahre 1944 aus der Taufe hoben.“ Brzezinski, Zbigniew (1999): Die einzige Weltmacht, Berlin. S. 49.

[15] DECLARATION ON DELIVERING RESOURCES THROUGH THE INTERNATIONAL FINANCIAL INSTITUTIONS – LONDON, 2 APRIL 2009.

[16] G-20 Working Group 4. The World Bank and other Multilateral Development Banks. Final Report March 2009. S. 9.

[17] IMF Survey online November 10, 2008. IMF LENDING. Helping Ukraine Avoid a Hard Landing

[18] London Summit – Leaders’ Statement 2 April 2009. S.5

[19] Dies würde die alte Forderung der globalisierungskritischen Bewegung für eine Devisentransaktionssteuer (Tobin Tax) umfassen, aber darüber hinausgehen.