Europa – Geschichtliche Wendepunkte

Antikommunismus war die Triebkraft

Zu den Hintergründen des Münchener Abkommens von 1938

September 2008

Der 70. Jahrestag des Münchener Abkommens vom 29.9.1938 bietet Gelegenheit, hinter der bekannten Faktizität dieses einschneidenden Ereignisses für die europäische Entwicklung die tiefer liegenden Ursachen ins Blickfeld zu rücken. Auch als Lehre für unsere Zeit! Hinter der skrupellosen Zerstückelung der CSR, die am 29.9.1938 in München beschlossen und ab dem 1.10.1938 realisiert wurde, ohne dass der betroffene Staat bei den Verhandlungen anwesend sein durfte, verbargen sich ganz andere Motivationen. Das gilt vor allem für den Repräsentanten Großbritanniens, Premier N. Chamberlain, und für den französischen Ministerpräsidenten E. Daladier. Beide kapitulierten vor den Erpressungen Hitlers, der vom italienischen Diktator B. Mussolini unterstützt wurde. Oder zielte diese Preisgabe des letzten demokratischen Bollwerks in Mitteleuropa durch die Westmächte zu Gunsten des faschistischen Deutschland auf etwas ganz anderes?

Diesem völkerrechtswidrigen Abkommen zu Lasten eines Dritten ist eine aufschlussreiche Vorgeschichte eigen. Und eine tragische Folgeentwicklung mit ungleich mehr Menschenopfern und Zerstörungen als der Einmarsch deutscher Truppen in den Vielvölkerstaat CSR. Bekanntlich wüteten SS und Gestapo nach diesem Einmarsch ins „Sudetenland“ und die Hitler-Anhänger in der Henlein-Partei der CSR übten Rache an den deutschen Antifaschisten in den deutsch-besiedelten Regionen der CSR.

Instrumentalisierung „Volksdeutscher“ zwecks Expansion

Wer Hitlers Buch „Mein Kampf“ von 1925 gelesen hatte, wusste, dass sein Eroberungsziel primär in Osteuropa lag: „Wollte man in Europa Grund und Boden, dann konnte dies … nur auf Kosten Russlands geschehen“. Ferner: „So wird das deutsche Volk seine Zukunft nur als Weltmacht vertreten können.“ Auch über die Instrumente zur Erreichung dieser Ziele ließ Hitler keine Zweifel: „Nur die Gewalt eines siegreichen Schwertes“ könne den notwendigen Lebensraum für das deutsche Volk sichern.[1] Die permanente Friedensdemagogie stand nur scheinbar im Widerspruch zur Kriegsorientierung: sie blieb für das NS-System unverzichtbar. Sowohl das Ausland als auch das nach den Schrecken und Opfern des Ersten Weltkrieges einen soliden Frieden ersehnende deutsche Volk galt es über die tatsächlichen Ziele zu täuschen. Materielle und ideologische Kriegsvorbereitungen und Friedensheuchelei dienten dem gleichen Zweck.[2] Jedweden potenziellen Widerstand im Keim zu ersticken war das Ziel dieser Doppelstrategie.

In europäischen Staaten, vor allem jedoch bei Diplomaten, wusste man, dass schon im deutschen Kaiserreich der „Verein für das Deutschtum im Ausland“ (VDA) deutsche Minderheiten in den (meist) an Deutschland angrenzenden Staaten, die „Volksdeutschen“, für Ziele der Berliner Politik zu instrumentalisieren trachtete. Das in Europa verstreute „Germanentum“ sollte zu einer „Gemeinschaft des Blutes“ bzw. zu einem „Einheitsblock des Deutschtums in Mitteleuropa“ zusammengefasst werden mit dem Ziel eines „großdeutschen Weltreiches“.[3] 100 Millionen Deutsche, davon 66 Millionen in Deutschland und Österreich, der Rest in Böhmen/Mähren, Polen, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien, Frankreich, Italien, der Schweiz, in Luxemburg, aber auch in Osteuropa, würden vereint im neuen „deutschen Volksstaat“ das „Imperium Germanicum“ schaffen als Sprungbrett für größere Ziele. Mit Berufung auf das „Selbstbestimmungsrecht“ der Deutschen in den genannten Staaten wollte man eine Revision der Grenzen in Europa durchsetzen.[4]

In dem 1918 gegründeten Vielvölkerstaat CSR, zu dessen 14 Millionen Einwohnern ca. 3 Millionen Deutsche gehörten, wollten diese Bestrebungen nicht gelingen. Weder die Deutsche Sozialdemokratische Arbeiter-Partei (DSAP) noch die deutsche Christlichsoziale Partei und der Bund deutscher Landwirte, schon gar nicht die in der KPC wirkenden Deutschen erwiesen sich als vom VDA ansprechbar; sie standen loyal zur demokratisch-parlamentarischen CSR. Dies galt, selbst wenn die Arbeiterparteien über die bürgerliche Demokratie hinausreichende Ziele anstrebten. Allein die beiden kleinen nationalistischen bzw. faschistischen Parteien ohne politischen Einfluss blieben Partner des VDA.

Das änderte sich erst nach 1933, als mit der Gründung der „Sudentendeutschen Heimatfront“, die 1934 in die „Sudetendeutsche Partei“ (SdP) umgewandelt wurde, eine relativ breite Basis für die Einflussnahme des VDA entstand[5]. Mehrere Faktoren begünstigten einen raschen Mitgliederzuwachs der SdP mit ihrem „Führer“ K. Henlein. Elend und Arbeitslosigkeit in den deutsch besiedelten Gebieten der CSR spielten auch nach Abklingen der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932 eine Rolle im Unterschied zur Lage in den tschechisch bewohnten Gebieten. Das lag daran, dass die deutsche Wirtschaft in Böhmen und Mähren schon in der verblichenen KuK-Monarchie stark exportorientiert war und dass der Export nicht ansprang, auch weil nach 1933 die Nachfrage aus Deutschland charakteristischerweise stagnierte. Zudem war der Maschinenpark der deutschen Unternehmen veraltet. Der Goebbelssche Rundfunk, der in der CSR gut zu hören war, lastete das Elend der Deutschen in der CSR der Prager Regierung an und transformierte das wirtschaftliche und soziale Problem in ein nationales. Der Hass gegen die „minderwertige Rasse“ wurde geschürt: ein „Herrenvolk“ wie die Deutschen dürfe sich nicht diesen „Tschuschen“ unterordnen. Die Germanen hätten zu gebieten, die anderen zu gehorchen.

Das faschistische Deutschland ließ es sich auch etwas kosten, die SdP zu stärken durch Finanzierung ihrer Aktionen und ihrer Werbung: 1 Mill. RM zahlte man der SdP, dazu kamen 15.000 Kc von deutschen Unternehmern in der CSR. 500.000 RM erhielt die Zeitung der SdP aus Berlin. Die IG Farben spendete im Sommer 1938 glatte 100.000 RM für die Aufständischen der SdP.[6] Nicht erfasst wurden die Finanzhilfen von örtlichen Stellen der NSDAP.

Deutsche Fabrikanten und Handwerker der CSR entließen alle, die nicht sofort Mitglied der SdP wurden; viele Antifaschisten verloren dadurch ihren Arbeitsplatz – Erpressung zu Gunsten einer faschistischen Partei!

Diese von Berlin gesteuerte und von den SdP-Mitgliedern willfährig mitvollzogenen Praxis trug bald Früchte: bei den Wahlen 1936 erreichte die SdP von 66 Mandaten für Deutsche im Prager 300-Sitze-Parlament 44. Sie löste damit die DSAP als bisher stärkste deutsche Partei in der CSR ab. Provokationen gegen Staatsorgane der CSR und vor allem gegen deutsche Antifaschisten in der CSR nahmen deutlich zu. Volkshäuser und Veranstaltungen der deutschen Antifa in der CSR griff man immer häufiger an. Die bezahlten Schläger der SdP benutzten zunächst „nur“ Schlagringe, später Pistolen. Ein reger Waffenschmuggel durch die dicht bewaldeten Grenzgebirge versorgte die SdP mit immer mehr Mordgerät. Die Gendarmerie der CSR vermochte mangels ausreichender Kapazitäten diese Praxis der SdP nicht zu unterbinden.[7]

Alle Aktionen der SdP entsprachen weitgehend den Plänen, wie sie der VDA erarbeitete und wie sie nach 1933 aktualisiert wurden. Gewiss gab es in diesem Rahmen auch eigenständige situationsbezogene Aktionen der SdP-Aktivisten.

Der „Fall Grün“ zur Zerschlagung der CSR

Die nach dem 8.5.1945 aufgefundenen NS-Dokumente belegen, dass Hitler bereits am 5.11.1937 vor ausgewählten Politikern und Generalen verkündete, dass er die CSR mit deutschen Truppen angreifen wolle; lediglich der günstigste Zeitpunkt für diese Aktion wäre später festzulegen.[8] Nach der deutschen Generalskrise[9] besprach Hitler mit General Keitel den Plan zur Besetzung der CSR; am 30.5.1938 – wenige Wochen nach der Okkupation des klerikalfaschistischen Österreich[10] – erklärte er seinen „unabänderlichen Beschluss, in absehbarer Zeit die CSR durch eine militärische Aktion zu zerschlagen“.[11]

Der konkretisierte Plan für die geplante Aggression hieß „Fall Grün“. Er gliederte sich in drei Teile:

1. Mit 39 Divisionen an der Grenze der CSR wollte man die Tschechen einschüchtern und dem westlichen Ausland unverhohlen Kriegsbereitschaft demonstrieren.

2. Ein massiver Psychokrieg mittels Presse und Rundfunk bzw. durch Flugschriften sollte die Tschechen weiter entmutigen; dem Ausland verkündete man, dass den Deutschen in der CSR das Selbstbestimmungsrecht vorenthalten würde. Die Verbündeten der CSR wollte man von einer Hilfe abschrecken.

3. Hauptinstrument war die „Fünfte Kolonne“, die SdP, die den Vielvölkerstaat innenpolitisch zu unpopulären Maßnahmen oder in die Handlungsunfähigkeit zu treiben hatte. Hitler Argumente für den vorbereiteten Einmarsch zu liefern, blieb das Ziel all dieser Aktionen: Alles sollte so aussehen, als ob eine „Hilfe von außen“ unabwendbar sei. [12]

Diese Aufgabe erfüllte die „Henlein-Front“, wie sie von Antifaschisten benannt wurde, wirklich bestens! Henlein hatte in einem Gespräch mit Hitler bereits 1937 vorgeschlagen, „die Einverleibung des böhmischen, mährischen und tschechisch-schlesischen Raumes in das Reich“ zu verwirklichen. Am 18.3.1938 vereinbarten Henlein und sein Stellvertreter Frank mit Hitler, an die Regierung der CSR vor allem solche Forderungen zu stellen, die sie nicht erfüllen konnte ohne sich selbst preiszugeben. Ziel dieser Taktik war es, die Prager Regierung im Ausland als ständigen Verweigerer vernünftiger Forderungen darzustellen.[13]

Die in eine Hysterie getriebenen Anhänger Hitlers und Henleins wussten offenbar nicht, wofür man sie missbrauchte. Sie folgten – oft blindlings – den Anweisungen der Parteispitze. Obwohl man sie dazu trieb, ständig als Provokateure und Angreifer aufzutreten, gaben sie von sich, was sie vom Goebbelsschen Rundfunk und von den Propagandisten der SdP hörten: „Die Tschechen unterdrücken uns; wir müssen uns wehren!“ „Die deutschen Sozis und Kommunisten in der CSR stecken mit den Tschechen unter einer Decke. Diese Verräter sind genau so zu bekämpfen wie die Tschechen!“ – Tatsächlich klatschten viele begeistert Beifall, wenn die Schläger der SdP tschechische Staatsorgane oder Volkshäuser und Aufmärsche der Antifaschisten der CSR attackierten. Viele nahmen selbst an solchen Aktionen teil.

Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich wuchs die Euphorie der SdP-Anhänger, zumal nach der Ausrufung Groß-Deutschlands am 13.3.1938 alle bürgerlichen Parteien und Verbände in die SdP eintraten. „Wir werden als nächste befreit!“ – „Mit den Tschechen können wir nicht mehr zusammenleben!“ – „Führer, hol uns heim ins Reich!“ Es waren eingehämmerte Parolen, die im Norden, im Westen und im Süden der westlichen Länder der CSR überall zur gleichen Zeit auftauchten!

Am 24.4.1938 nahm Henlein den Karlsbader Parteitag der SdP zum Anlass, „die Unantastbarkeit der deutsch-besiedelten Regionen in der CSR“ zu fordern. „Nur deutsche Beamte im deutschen Gebiet“, ergänzte er. Dazu „volle Freiheit des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und zur deutschen Weltanschauung“. Und: „Orientierung der Prager Politik an der Berlins!“[14] Das lief auf den Abzug der Staatsorgane der CSR aus dem „Sudetenland“ hinaus, auf die Akzeptanz der faschistischen Weltanschauung und auf Verzicht auf bisherige Bündnisse, z. B. mit der UdSSR und Frankreich, die in dieser Lage helfen konnten.

Im Sommer 1938 führte der zunehmende bewaffnete Terror von SdP-Aktivisten zu einer Bürgerkriegssituation. Der „Freiwillige Schutzdienst“ der SdP ermordete 110 deutsche und tschechische Antifaschisten; mehr als 2.000 Antifaschisten verschleppte man über die Grenze. Nur etwa die Hälfte tauchte nach 1945 wieder auf.[15]

Am 9.9.1938 begann der von Hitler und der SdP-Führung abgesprochene bewaffnete „Aufstand der Sudetendeutschen“. Hitler benötigte ihn mit Menschenopfern, um damit seine Ziele begründen zu können. Während des Parteitages der NSDAP vom 5. bis 9.9.1938 versprach Hitler demonstrativ Hilfe: „Die gequälten Kreaturen in der CSR … sind weder wehrlos noch verlassen!“ Prag verhängte am 13.9.1938 das Standrecht. Der Aufstand wurde niedergeschlagen. Henlein floh mit der SdP-Führung über die Grenze – und viele Anhänger mit ihm. Der Versuch, die CSR von innen her zu zerstören, war gescheitert. Nun standen ca. 30.000 „Freischärler“ bewaffnet an der Grenze und überfielen in der Nacht in den Grenzdörfern deutsche Antifaschisten. Immerhin erhielt Hitler einige Voraussetzungen für seine Forderung „Abtretung des Sudetengebietes an das Deutsche Reich“; der „Fall Grün“ funktionierte.[16]

Während Prag seine Sicherheitsorgane bis zum 13.9.1938 zurückhielt, um den Faschisten keine Anlässe für ihre Hetze zu geben, leisteten vor allem zivile Antifaschisten massiven Widerstand. Die politische Frontstellung zeigte also nicht hier Tschechen, dort Deutsche, sondern: hier Faschisten, dort deutsche und tschechische Antifaschisten. Die Minderheit deutscher Antifaschisten in der CSR behauptete sich bis zum Schluss gegen eine quantitative Überlegenheit der oft von Berlin aus direkt gesteuerten Henlein-Anhänger.[17]

Das Zurückweichen der Westmächte hatte System!

Vordergründig erweckten die Westmächte, vor allem der britische Premier N. Chamberlain, den Eindruck, als ginge es primär darum, die Kriegsdrohung Hitlers abzuwenden. Bekanntlich drohte letzterer, er werde mit Krieg durchsetzen, das „Sudetenland“ an das Reich zu binden, falls man es nicht freiwillig an das Reich abtrete.[18] Chamberlain war überzeugt, dass weder die UdSSR noch Frankreich wegen der CSR einen Krieg riskieren würden.[19] Zu dieser Zeit war den Westmächten bekannt, dass deutsche Generale gegen Hitlers Kriegspolitik sich verschworen, weil sie sowohl die internationalen Kräfteverhältnisse als auch die Kriegsfähigkeit Deutschlands anders beurteilten als Hitler.[20] Der deutsche Generalstabschef Beck hatte seine abweichende Position in einer Denkschrift fixiert und nahm seinen Abschied, weil er die Verantwortung für Hitlers Kurs nicht übernehmen wollte.[21] Zwar löste der „Führer“ die Generalskrise sehr schnell. Die Westmächte nutzten diese Gelegenheit jedoch nicht. Interessierte sie eine Schwächung Hitlers nicht? Und warum?

Schon vorher war zu erkennen, wie gering die Bereitschaft der Westmächte war, auf Verstöße faschistischer Staaten gegen das Völkerrecht angemessen zu reagieren. Das war so, als Mussolinis Truppen 1936 in Abessinien eindrangen und als Hitler permanent gegen den Versailler Vertrag verstieß, vor allem beim Einmarsch deutscher Truppen 1936 ins entmilitarisierte Rheinland. Welche Gründe dominierten bei diesem Verhalten?

Es lag nicht nur daran, dass die Westmächte auf Kriege nicht vorbereitet waren und dass sie mit innenpolitischen Problemen konfrontiert blieben. Auch die erste diplomatische Anerkennung des faschistischen Deutschlands durch den Vatikan am 30.7.1933 bot nicht den Anlass. Man wusste, dass man in Deutschland nach dem 30.1.1933 Juden und Antifaschisten terrorisierte und ermordete! Warum keine Wirtschaftsblockade, die die bekannte Orientierung Hitlers und seiner Helfer im Finanzkapital und in der Generalität blockiert und verzögert hätte? Warum keine internationale Isolierung Hitler-Deutschlands, um gegen dessen Aggressivität nach innen und außen Zeichen zu setzen?

Ein Bericht über den Besuch des britischen Lords Halifax bei Hitler, der im Auftrag Chamberlains erfolgte, gibt Aufschluss: Halifax erklärte im Namen der britischen Regierung, „dass der Führer nicht nur in Deutschland Großes geleistet habe, sondern dass er auch durch die Vernichtung des Kommunismus im eigenen Land diesem den Weg nach Europa versperrt habe und dass daher mit Recht Deutschland als Bollwerk gegen den Bolschewismus angesehen werden kann“.[22]

Was Halifax bei Hitler erklärte, entsprach tatsächlich den Interessen vieler, die wirtschaftlich und politisch im Westen herrschten. Die Forderungen der Arbeiterbewegungen nach Sozialisierung der Großindustrie blieben in Deutschland unter Hitler gegenstandslos. Vor allem die kapitalistische Weltwirtschaftskrise und vorher der Erste Weltkrieg mit dem bekannten Elend machten solche Forderungen nach Entprivatisierung der Wirtschaft bei den Massen populär. Sollte man in dieser Situation dem deutschen „Bollwerk gegen den Bolschewismus“ nicht entgegenkommen und die CSR preisgeben, zumindest die deutsch besiedelten Gebiete derselben?

Vor diesem Hintergrund wird das eigenartige Taktieren Chamberlains am 15.9.1938 in Berchtesgaden und am 22./23.9.1938 in Bad Godesberg bei seinen Gesprächen mit Hitler über die CSR verständlich. Trotz aller Brüskierungen durch Hitler näherte sich der britische Premier der faschistischen Position immer weiter an.[23] Die strategische Haltung der im Westen Herrschenden macht auch verständlich, dass der von Chamberlain vorher in die CSR entsandte Vermittler, Lord Runciman, primär das Geschäft der SdP besorgte und nicht das der CSR, von seiner Ignoranz gegenüber den deutschen Antifaschisten in der CSR ganz abgesehen.[24]

Während Hitler und Mussolini vor der Konferenz in München am 29./30.9.1938 ihr Vorgehen koordinierten, wollte Chamberlain von niemand behindert werden, eine rasche Übereinkunft mit Hitler zu erreichen[25]. Ergebnis: Vom 1. bis 10.10.1938 sollte die Besetzung des „Sudetenlandes“ durch deutsche Truppen erfolgen. Auf diese Weise kam das Münchener Abkommen zustande, mit dem man Hitler das Tor für eine Expansion nach Osteuropa öffnete.

Für Chamberlain schien es wichtig, am 30.9.1938 eine gemeinsame Vereinbarung mit Hitler zu erreichen, die die Versicherung enthielt, dass „beide Völker niemals wieder Krieg miteinander führen“.[26] Das konnte Hitler auch als Freibrief für weitere Expansionen ohne Eingreifen Großbritanniens verstehen. Andere verstanden es auch so.

Die CSR verlor nun ein Viertel ihrer Einwohner und ein Fünftel ihres Territoriums mit reichen Bodenschätzen, einer hochentwickelten Industrie und einer qualifizierten Arbeiterschaft. – Entgegen seinem Versprechen ließ Hitler am 15.3.1939 die Rest-CSR okkupieren, in ein Protektorat verwandeln und in der Slowakei einen von Deutschland abhängigen Staat errichten.[27]

Etwa 400.000 deutsche Antifaschisten der CSR lieferten die Westmächte den NS-Schergen aus, soweit sie nicht emigrierten. Etwa 80.000 höchst kampfbereite Antifaschisten lernten die KZs kennen – oder leisteten im illegalen Kampf anhaltenden Widerstand. Sie sprachen vom „Münchener Verrat!“[28]

Eine Alternative zu dieser Kapitulation war möglich

Zu den schärfsten Kritikern der Preisgabe des letzten demokratischen Bollwerks in Mitteleuropa an das Faschisten-Deutschland und damit auch der Politik Chamberlains gehörte der spätere britische Premier W. Churchill. Seine Argumente: Eine gemeinsame Erklärung Großbritanniens, Frankreichs und der UdSSR hätten ausgereicht, um Hitler in die Schranken zu weisen! Konstruktive Angebote der UdSSR wurden übergangen und man behandelte diese Großmacht mit „Verachtung“, was in der Einstellung Stalins zweifellos tiefe Spuren hinterlassen würde; Chamberlain hätte darauf bestehen müssen, die UdSSR zu solchen Verhandlungen hinzuzuziehen.[29] Churchill rechnete Chamberlain die negative Bilanz vor, die ein ständiges Zurückweichen vor Deutschland brachte. „Der Schlüssel zu einer Großallianz (gegen NS-Deutschland, der Verf.) lag in einer Verständigung mit Russland.“[30] Churchill erklärte sich zwar als Gegner des Kommunismus, er verfügte jedoch über ein plausibles strategisches Konzept. Er schloss nicht aus, dass Deutschland, wenn man es nicht rechtzeitig isolierte und schwächte, auch die Westmächte angreifen könne. Deshalb erwog er bereits 1938 eine „Großallianz“ mit der UdSSR. Hinsichtlich des nach dem deutschen Überfall auf Polen beginnenden Zweiten Weltkriegs notierte Churchill: „Nie hätte sich ein Krieg leichter verhindern lassen als dieser.“[31] Er meinte die „Groß-Allianz“.

Viele westliche Politiker erkannten nicht, dass die politische Grenze nicht zwischen Kapitalismus und Kommunismus verlief, sondern zwischen den liberalen und sozialistischen Nachkommen der Aufklärung und ihren Gegnern! Die Grenze zwischen pro- und antifaschistischen Kräften spaltete die Gesellschaften.[32]

Zwei kapitalistische Strategien standen gegeneinander: die antikommunistische von Chamberlain und anderen; diese dominierte zunächst. Die gegenteilige orientierte sich an der (von Roosevelt später verkündeten) Erkenntnis, dass der „Hauptfeind der Menschheit“ der Faschismus sei! Gegen den faschistischen Anspruch auf Weltherrschaft wäre das Bündnis mit der UdSSR zweckmäßig. Selbst wenn man deren System nicht billige: Sie verfolge außenpolitisch eine Politik der Friedlichen Koexistenz. Tatsächlich hatte die UdSSR seit 1933 konkrete Vorschläge für ein kollektives Sicherheitssystem in Europa unterbreitet[33]; die Westmächte lehnten zumeist ab.

Die Führung der UdSSR warnte am 10.3.1939 während des Parteitages der KPdSU die Westmächte, „dass dieses große und gefährliche Spiel … für sie mit einem Fiasko enden könnte“.[34]

Die dem Münchener Abkommen verspätet folgenden Verhandlungen der Westmächte mit der UdSSR befriedigten deren Sicherheitsbedürfnisse angesichts der faschistischen Aggressivität nicht.[35] Deshalb schloss die UdSSR nach intensiven Verhandlungen am 21.8.1939 einen Nichtangriffsvertrag mit Deutschland.[36] Churchill notierte: „Vom Standpunkt der Sowjetregierung aus muss gesagt werden, dass es für sie lebenswichtig war, das Aufmarschgebiet der deutschen Armeen so weit wie möglich im Westen zu halten, damit die Russen mehr Zeit gewinnen konnten, ihre Streitkräfte aus allen Teilen des ungeheuren Reiches zusammenzuziehen. Wenn ihre Politik kaltblütig war, so war sie jedoch damals in höchstem Maße realistisch.“[37] Das Versagen der Diplomatie der Westmächte erkannte Churchill als Ursache des sowjetisch-deutschen Vertrags. Wie bekannt begann am 1.9.1939 mit dem Angriff auf Polen der Zweite Weltkrieg. Das Münchener Abkommen hatte den Weg dafür freigemacht!

Das Umdenken der Repräsentanten der antikommunistischen Strategie begann erst, als Deutschland ab 1940 Dänemark und Norwegen, danach Belgien, Luxemburg, Holland und Frankreich okkupierte. Deutsche Luftangriffe auf die britische Insel häuften sich. Der Bankrott der antikommunistischen Strategie war offensichtlich. Nun zeigte sich, wie realistisch und perspektivisch die Vorschläge der UdSSR für kollektive Sicherheit waren.

Es war ein langer Weg, bis man am 7.12.1941 die „Anti-Hitler-Koalition“ aus der Taufe hob.[38] Europa wären viele Opfer und Zerstörungen erspart geblieben. Das Münchener Abkommen hätte es nie gegeben, wenn man rechtzeitig auf die Vorschläge der UdSSR eingegangen wäre! Der deutsche Faschismus wäre ohne Krieg zu überwinden gewesen! Alles Lehren für unsere Zeit: Antikommunismus ist stets die falsche Strategie. Der Hauptfeind der Menschheit ist der (neue) Faschismus!

[1] Zitiert nach W. Maser, Hitlers Mein Kampf, München 1966, S. 149 ff.

[2] Vgl. A. Weißbecker, in: R. Kühnl (Hrsg.), Sie reden vom Frieden und rüsten zum Krieg, Köln 1986, S. 137 ff.

[3] Vgl. W. Goldenach/H. R. Mirnow, Deutschland erwache!, Berlin 1994, S. 73 ff.

[4] Ebenda, S. 76, S. 96, S. 104 und S. 111.

[5] Vgl. W. L. Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, Köln 1961, S. 340 ff.

[6] Nach R. Zilkenat, Rundbrief 1+2/08, AG Rechtsextremismus/Antifaschismus; Berlin, S. 27 ff. Dokumentation Kampf – Widerstand – Verfolgung, Stuttgart 1973, S. 173.

[7] Dokumentation, a.a.O., S. 192. L. Knorr, Gegen Hitler und Henlein, Köln 2008.

[8] Das Urteil von Nürnberg (dtv-Dokumente), München 1961, S. 50.

[9] Vgl. L. Besymenski, Generale ohne Maske, Berlin 1963, S. 96 ff. und S. 119 ff.

[10] Vgl. J. Heydecker/J. Leeb, Der Nürnberger Prozess, Köln 1961, S. 53.

[11] Das Urteil von Nürnberg , a.a.O., S. 52.

[12] J. Heydecker, a.a.O., S. 209 f. L. Besymenski, a.a.O., S. 119 f.; W. L. Shirer, a.a.O., S. 339 f.

[13] Das Urteil von Nürnberg , a.a.O., S. 51.

[14] Vgl. W. Röhr, Verschwiegene Tatsachen, in: Osteuropa im Wandel, Berlin 1999, S. 226.

[15] Ebenda.

[16] Ebenda.

[17] Seligergemeinde, Weg – Leistung – Schicksal, Stuttgart 1972; L. Knorr, Hitlers Plan und Henleins Partei, Frankfurt/M. 2007.

[18] Vgl. W. L. Shirer, a.a.O., S. 342 ff.

[19] Ebenda, S. 356.

[20] Vgl. L. Besymenski, a.a.O., S. 105.; W. L. Shirer, a.a.O., S. 247 und 395.

[21] Vgl. W. Foerster, Ein General kämpft gegen den Krieg, München 1952. L. Besymenski, a.a.O., S. 120/121.

[22] L. Besymenski, a.a.O., S. 96.

[23] Vgl. W. L. Shirer, a.a.O., S. 369 ff.

[24] Vgl. L. Besymenski, a.a.O., S. 125 und S. 191.

[25] Vgl. W. L. Shirer, a.a.O., S. 387.

[26] Ebenda, S. 389.

[27] Ebenda, S. 389.

[28] Seligergemeinde, a.a.O.; L. Knorr, Gegen Hitler und Henlein, Köln 2008.

[29] Vgl. W. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Bern 1954, S. 122/123.

[30] Ebenda, S. 134/135.

[31] Ebenda, S. 10.

[32] Vgl. E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München 1995, S. 186. Hobsbawms Aussage bezieht sich auf die Zeit von 1933 bis 1945: Faschismus an der Macht. Ansonsten gilt der epochale Widerspruch zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Im gegenwärtigen Kampf gegen den Neofaschismus ist die Feststellung Hobsbawms immer noch aktuell.

[33] Vgl. E. Laboor, Dokumentation Sechs Jahrzehnte Kampf um Frieden und Sicherheit in Europa, Berlin 1977, S. 67 ff.; Autorenkollektiv, Der Zweite Weltkrieg, Berlin/Köln 1985, S. 21 ff.

[34] Autorenkollektiv, a.a.O., S. 42.

[35] Ebenda, S. 41. W. L. Shirer, a.a.O., S. 455 ff.

[36] W. L. Shirer, a.a.O., S. 480. W. Churchill, a.a.O., S. 146 ff.

[37] Vgl. W. Churchill, a.a.O., S. 146. Es ist hier nicht der Ort, diesen Vertrag zu kommentieren. Nur als Glied auf dem Weg zur Anti-Hitler-Koalition hat er hier seine Bedeutung. Hitler brach diesen Vertrag am 21.6.1941; doch das ist ein spezielles Thema.

[38] Vgl. W. Churchill, a.a.O., S. 415 und 435 ff. V. Issraelian, Die Anti-Hitler-Koalition, Moskau 1975.