Krise der Kommunalfinanzen

"Es ist nicht der Markt der versagt hat, sondern es ist der Staat"

Zur Kontinuität neoliberaler Hegemonie auf lokaler Ebene am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main

September 2010

Da sich gesellschaftliche Transformationsprozesse häufig im Zuge von Krisen durchsetzen, beschleunigen oder vollziehen, wird gegenwärtig sowohl ein mögliches Ende neoliberaler Regulationsformen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene kontrovers diskutiert, als auch die Frage problematisiert, ob die unternehmerische Stadt auf lokaler Ebene ihr eindeutiges Primat als Referenzpunkt städtischer Entwicklung verliert (Brenner/Peck/Theodore 2010; Soureli/Youn 2009). Obwohl es dafür ab Ende 2008 bis Mitte 2009 beispielsweise auf Ebene des Deutschen Städtetages einige Indizien gab (Schipper/Belina 2009), muss man nun feststellen, dass die neoliberale Stadt eher gestärkt aus der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise hervorgehen wird. Auf empirischer Basis einer Diskursanalyse der Debatten in der Stadtverordnetenversammlung (STVV) von Frankfurt am Main zwischen September 2008 und Mai 2010 soll im Folgenden die Frage beantwortet werden, warum die unternehmerische Stadt trotz der Krise über eine derartige Stabilität und hegemoniale Stellung verfügt. Die ungebrochene Zustimmung städtischer Eliten zur neoliberalen Stadt ergibt sich – so die These – daraus, dass es über ein breites Parteienspektrum hinweg gelingt, die Krise im Rahmen einer neoliberalen Rationalität zu deuten bzw. ihre Ursachen neoliberal zu erklären.

Mit dem Begriff des Neoliberalismus soll hier ein spezifisches Regierungsdenken sowie eine damit verbundene Regierungspraxis gekennzeichnet werden, welche sich durch eine spezifische Transformation von Staatlichkeit auszeichnen – und nicht etwa durch eine Schwächung des Staates. Im Gegensatz zum Liberalismus erscheinen im Neoliberalismus Markt und Wettbewerb erstens nicht als unmittelbar und natürlich gegeben, wenn der Staat sich aus der Ökonomie zurückzieht. Vielmehr werden sie als Steuerungsmechanismen verstanden, die nicht einfach ihren intrinsischen Gesetzmäßigkeiten überlassen bleiben dürfen, sondern beständig durch den Staat mittels indirekter Interventionen auf Ebene der Wirtschaftsordnung hergestellt und überwacht werden müssen. Da zweitens die Markt- und Wettbewerbslogik prinzipiell auf sämtliche Lebensbereiche – Universitäten, individuelle Lebensführung, Regierung von Städten etc. – übertragen werden soll, existiert kein Bereich des Nicht-ökonomischen mehr bzw. kein Bereich, der nicht in ökonomischen Termini zu fassen ist (Foucault 2004b, S. 171ff; Gertenbach 2008, S. 81f).

Relevant wird der Begriff im Folgenden auf zweierlei Weise: Zum einen zur Analyse des lokalen Diskurses politischer Eliten in Frankfurt bezüglich der Ursachen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise und zum anderen zur Beschreibung einer seit rund 20 Jahren zu beobachtenden Transformation lokaler Staatlichkeit, welche in der kritischen Stadtforschung als neoliberal, postfordistisch oder unternehmerisch bezeichnet wird (Harvey 1989; Heeg/Rosol 2007). Obgleich es sich hierbei um einen kriseninduzierten, widersprüchlichen und instabilen Prozess handelt, der soziale und räumliche Polarisierungstendenzen noch verschärft (Brenner 2004: 262ff; Peck/Tickell 2002), fußt die unternehmerische Stadt seitens städtischer Eliten bislang auf einem sehr hohen Maß an aktiver Zustimmung. Die unternehmerische Stadt basiert daher notwendig auch auf einer diskursiv konstruierten, quasi-natürlich erscheinenden Wissensordnung bzw. konkreter auf einer hegemonial gewordenen politischen Rationalität, nach der Städte ihrem Wesen nach als verdinglichte Wettbewerbseinheiten in einem globalen Raum der Konkurrenz erscheinen (Meyer zu Schwabedissen/Miggelbrink 2005).

Krise und Hegemonie der neoliberalen Stadt

Mit dem für die Bundesrepublik in dieser Größenordnung einmaligen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um fast 5% (2009) scheint im Sinne des regulationstheoretischen Krisenverständnisses die notwendige, materielle Bedingung für eine große, säkulare Krise der Regulation (Görg 1994; Hirsch 1994) gegeben zu sein. Auf kommunaler Ebene manifestiert sich die gegenwärtige Krise vor allem erstens in Form sinkender Steuereinnahmen und einer zunehmenden Verschuldung der kommunalen Haushalte und zweitens durch steigende Sozialausgaben sowie potenziell über eine Verschärfung der Situation am Arbeitsmarkt. Der Deutsche Städtetag beispielsweise erwartet für das Jahr 2010 ein kommunales Rekorddefizit von € 12,4 Milliarden und darüber hinaus bis zum Jahr 2013 zweistellige jährliche Defizite. Ursächlich hierfür sind vor allem die 2009 um 10% eingebrochenen kommunalen Steuereinnahmen (darunter insbesondere die um 17,4% gesunkenen Gewerbesteuereinnahmen) sowie – allerdings im geringeren Umfang – steigende Sozialausgaben. Die kurzfristigen Kassenkredite der Kommunen – als einigermaßen verlässlicher Indikator für die steigende Verschuldung der Städte – stiegen alleine im Jahr 2009 um € 4 Milliarden auf nie da gewesene € 33,8 Milliarden (Deutscher Städtetag 1/2010: 1f).

Auch die Stadt Frankfurt am Main ist unmittelbar von einem drastischen Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen betroffen. Im Vergleich zum Boomjahr 2007 brechen diese 2009 um ca. 40% von über € 1,6 Milliarden auf ca. € 1 Milliarde ein (Stadtkämmerei 2009: 27). Allerdings verfügt die Stadt über liquide Rücklagen in Höhe von ca. € 1 Milliarde, weshalb der Haushalt noch bis 2011 ohne nennenswerte Kürzungen ausgeglichen werden kann (Stadtkämmerer Becker in STVV 10.12.2009: 32). Auf dem Arbeitsmarkt schlägt die Krise – vor allem durch die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes seitens der Bundesregierung – bislang kaum durch. Die Arbeitslosenquote bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen der Stadt steigt zwar von September 2008 bis März 2009 von 7,7% auf 8,7%, sinkt dann aber wieder sukzessive auf 8,3% im März 2010 (Bundesagentur für Arbeit 2010a: 5). Gleiches gilt auch für die Zahl der von Kurzarbeit betroffenen Personen. Diese nimmt zwar ebenfalls zwischen September 2008 und März 2009 drastisch von 270 auf über 9.000 zu, reduziert sich allerdings bis Januar 2010 wieder auf nur noch 2.428 (Bundesagentur für Arbeit 2010b). Folgt man dagegen bisherigen Prognosen zum Leerstand auf dem Büroimmobilienmarkt, so könnte dieser 2010 einen neuen Rekord von 19,1% erreichen (Schwaldt 2010). Nachdem der Anteil leer stehender Büroflächen im Zuge der New Economy-Krise auf seinen bisherigen Höchstwert von 18,7% (2004) gesprungen war und dieser bis 2007 nur zögerlich auf immer noch bedenkliche 14,8% gesunken ist (Dörry 2009: 36, 60), stieg die Leerstandquote bis 2009 wieder auf 17,4% an (Schwaldt 2010). Inwiefern sich die negativen Prognosen bewahrheiten bzw. sich dieser Trend fortsetzen wird, bleibt abzuwarten. Die Krise ist, so kann man zusammenfassen, in Frankfurt angekommen, wenn auch nicht so dramatisch wie in anderen Kommunen.

Eine Krise der Hegemonie bzw. ein Bruch mit der unternehmerischen Stadt hängt allerdings davon ab, ob die Krise der Kapitalakkumulation auch zu einem Bröckeln des hegemonialen Konsenses führt und sich zu einer Krise der bestehenden lokalen Regulationsweise ausweitet. Empirisch lässt sich zuerst einmal die Annahme der Regulationstheorie bestätigen, dass in der Krise die „Stunde der hegemonialen Auseinandersetzung“ (Hirsch 1994: 209) schlägt. Ähnlich wie bei den Debatten auf der Hauptversammlung des 35. Deutschen Städtetags im Mai 2009 in Bochum (Schipper/Belina 2009) lässt sich auch bezogen auf die Stadt Frankfurt vor allem zwischen November 2008 und März 2009 eine temporäre Verunsicherung der städtischen Eliten sowie zudem eine intensive Diskussion sowohl der lokalen Folgen, als auch der globalen wie nationalen Ursachen der Krise beobachten.[1]

In der Stadtverordnetenversammlung erscheint die Krise als diskursives Ereignis zum ersten Mal am 25. September 2008 im Zuge der Debatte zum ‚Kommunalpolitischen Situationsbericht‘ (KSB) der Oberbürgermeisterin (STVV 25.09.2008), also zehn Tage nachdem die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz beantragt hatte. Während die Regierungsparteien CDU, Grüne und FDP[2] dies zu diesem Zeitpunkt noch als relativ unbedeutende Finanzkrise in den USA ohne nennenswerte Auswirkungen auf den Finanzplatz Frankfurt am Main abqualifizieren, spricht die Opposition (SPD, LINKE, Freie Wähler-BFF) in jeweils unterschiedlichen Varianten bereits von einer erheblichen Wirtschaftskrise mit schwerwiegenden Folgen oder sogar von einer radikalen Zeitenwende. Erst Anfang November und insbesondere im Rahmen des ‚Kommunalpolitischen Situationsberichts‘ vom 26. März 2009 thematisieren auch die Regierungsparteien die Krise explizit und bezeichnen diese nun ebenfalls beispielsweise als die „größte Finanz- und Wirtschaftskrise, die wir in der Welt seit den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts gesehen haben“ (Löwenstein, CDU in STVV 06.11.2008: 55). Um angesichts der neuen Bedrohung die Auswirkungen auf die Stadt Frankfurt möglichst zu begrenzen, wird aber an der bisherigen Regierungspraxis der unternehmerischen Stadt festgehalten und versucht, Optimismus und Vertrauen zu verbreiten, um als Wirtschaftsstandort gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Trotz einer temporären Verunsicherung erfährt die politische Rationalität der wettbewerbsorientierten, unternehmerischen Stadt im lokalen Diskurs spätestens ab Mitte 2009 eine ausgesprochen deutliche Kontinuität. Es kann sogar von einer Verschärfung gesprochen werden, da sowohl die Regierungskoalition als auch die oppositionelle SPD (allerdings etwas weniger intensiv) explizit wegen der Krise eine Stärkung der Identität als Wirtschaftsstandort und den Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit fordern. So betont die Oberbürgermeisterin Petra Roth im März 2009: „Wir handeln, um der Krise zu begegnen, und wir tun dies auch im Interesse der Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der Stadt Frankfurt am Main, im Wettbewerb mit anderen internationalen Städten. […] Es liegt also an uns, was wir daraus machen“ (OB Roth, CDU in STVV 26.03.2009: 41). Ähnlich verlangt auch der Fraktionsvorsitzender der SPD Klaus Oesterling einen Ausbau des standortpolitischen Engagements: „Wie groß muss die Krise noch werden, damit Sie als Oberbürgermeisterin handeln und in dieser Stadt ein schlagkräftiges Wirtschaftsdezernat bilden?“ (Oesterling, SPD in STVV 26.03.2009: 56).

Zu erklären ist also, warum trotz der ökonomischen Krise die hegemonialen Konsense nicht bröckeln und die bestehende lokale Regulationsweise nicht aus den Fugen gerät. Dazu soll im Folgenden analysiert werden, wie die Krise als soziales Phänomen im lokalen Diskurs konstruiert wird und welche Deutungsmuster den jeweils causal stories – insbesondere bezogen auf das Verhältnis von Markt und Staat – zugrunde liegen. Konkret lautet die Frage, inwiefern es gelingt die Krise neoliberal zu erklären. Denn nur so kann das Festhalten am Konzept der unternehmerischen Stadt erklärt werden.

Neoliberale Erklärungsmuster der Krise

Betrachtet man nur die Aussagen der vier die lokale Politik in Frankfurt dominierenden Parteien (CDU, SPD, Grüne, FDP), so lassen sich drei Kategorien von Erklärungsmustern zu den Krisenursachen identifizieren. Bemerkenswerterweise verbleiben diese allesamt innerhalb einer neoliberalen Rationalität.[3] Allen drei ist gemeinsam, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht als eine relative Einheit betrachtet, sondern in die antagonistischen Pole Staat und Markt aufgeteilt wird. Der Markt repräsentiert dabei jeweils alles Positive und erscheint als unfehlbarer, effizienter Steuerungsmechanismus, der aber ganz im Sinne neoliberaler Rationalität vom Staat durch indirekte Interventionen auf der Ebene der Wirtschaftsordnung umhegt und umsorgt werden muss. Da dazu auch die Regulation der Finanzmärkte gehöre, habe also der Staat angesichts der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise versagt und trüge demnach auch die alleinige Verantwortung. Allerdings unterscheiden sich bei den drei Kriseninterpretationen die Ursachen, die zum Versagen des Staates geführt haben.

Der pragmatische Neoliberalismus – Die Krise als naturhaftes Schicksal und technokratisches Problem

Dem dominanten Erklärungsmuster zufolge ist die Krise nicht gesellschaftlich, politisch, ökonomisch oder psychologisch zu erklären, sondern als quasi-naturhaftes Schicksal zu verstehen. Eingenommen wird diese Position von der Oberbürgermeisterin Petra Roth sowie Teilen der CDU und Teilen der Grünen. Sowohl Deutschland im Allgemeinen als auch die Stadt Frankfurt im Speziellen erscheinen hier als Opfer eines katastrophenartigen (Natur-)Prozesses. So stünde man beispielsweise nun vor einem „dunklen Abgrund“ (Roth, CDU 13.01.2009) oder habe „den dunklen Wolken, die sich aus der globalen Krise jetzt auch über Deutschland und Frankfurt auftürmen“ (Roth, CDU in STVV 26.03.2009: 39) bzw. einem auf die Erde zurasenden „Meteorit in einer relativ großen Größenordnung“ (CDU-Politiker, Interview 5) zu begegnen. Grundtenor dieser Sprecherposition ist, dass die Krise als Unglück über die Menschen gekommen sei, also nichts und niemand dafür verantwortlich wäre, sondern man nun pragmatisch mit der veränderten Situation umzugehen habe. Da zudem die Politik gegenwärtig auf nationaler wie globaler Ebene die richtigen Lehren aus der Katastrophe ergreife, indem sie sinnvolle Regulations- und Kontrollmechanismen für internationale Finanzmärkte entwickele, erscheint die Krise als schon bald überwindbares Ereignis. Folglich wären auch keine tiefgreifenden gesellschaftlichen oder ökonomischen Veränderungen zu erwarten.

Das Verständnis der Krise als (Natur-)Katastrophe sowie der unumstößliche Glaube an die zukünftig verbesserte Regulation der Finanzmärkte basieren auf spezifischen Repräsentationen von Gesellschaft, Staat und Politik. Weder die Politik noch die Gesellschaft werden als ein Feld gesehen, auf dem sich grundlegende Interessensgegensätze gegenüber stehen, sondern beide erscheinen als abstrakte, prinzipiell harmonische Einheiten, welche durch ein allgemeines, wissenschaftlich zu identifizierendes Gesamtinteresse geprägt sind. Beispielsweise entwirft ein CDU-Politiker „die Politik“ als eine Einheit, welche „sich redlich“ bemühe „vernünftige und tragende“ Konzepte „zum Wohle […] der Menschen“ (Interview 5) zu entwickeln. Folglich haben auch nicht etwa gesellschaftliche Kräfteverhältnisse eine Deregulierung der Finanzmärkte durchgesetzt und damit die Krise induziert, sondern die Politik als abstraktes Ganzes sei einem gesamtgesellschaftlichen, „unreflektierten Glauben an die eierlegende Wollmichsau“ bzw. an ein „Perpetomobile“ (ebd.) gefolgt, indem man sich der Vorstellung hingegeben habe, dass Geld sich einfach so vermehren lasse. Dieser Glaube habe zwar zu einer Vernachlässigung der Realwirtschaft und zu spekulativen Exzessen geführt, allerdings wäre er im wohlmeinenden Interesse der Allgemeinheit vertreten worden. Demzufolge ist auch die Krise nicht etwa als Effekt von partikularen Interessen, Ideologien oder ökonomischen Widersprüchen zu verstehen, sondern als Staatsversagen. Versagt habe der Staat aber nicht aus böser Absicht, sondern aufgrund sachlich falscher Annahmen und aufgrund der strukturellen Unmöglichkeit, zukünftigen Regelungsbedarf im Vorhinein zu antizipieren. Ökonomische Innovationen und Dynamiken trügen grundsätzlich das Potenzial einer spekulativen Blase in sich, wovor auch der Staat nicht a priori mittels Setzung von Regelungen schützen könne. In Analogie zum „Brandschutz“ (ebd.) vermöge staatliches Handeln immer nur im Nachhinein als Reaktion auf eine neue Situation falsche Einschätzungen zu revidieren und die richtigen Lehren aus der entstandenen Katastrophe zu ziehen. Da nun erst a posteriori deutlich werde, dass die Finanzmärkte nicht vernünftig umsorgt worden sind, ist weder irgendeinem strukturellen Mechanismus noch konkreten Personen Schuld an der Krise zuzuweisen. Zudem dürfe man bezüglich der Regulation der Finanzmärkte nun nicht ins andere Extrem einer übermäßigen Regulierung verfallen: „Da bin ich auch wieder bei der Frage wie viel Staat, dann letztlich auch wie viel Regulierung. Auch da müssen wir schauen, dass wir jetzt wieder nicht ins andere Extrem … […] Also insofern einen Weg zu finden, der dem Rechnung trägt, dass ich den Menschen auch Luft lassen muss, zum Handeln, zum Ideen haben, zum Arbeiten. Aber schauen muss, dass dies eben auch noch einen überschaubaren Rahmen und einen verstehbaren Rahmen auch hergibt und diese Verstehbarkeit dadurch unterfüttert ist“ (ebd.). Ganz im Sinne einer neoliberalen Rationalität des Regierens kann der Staat also nicht nur zu viel Regieren, indem direkt in den Markt interveniert und dadurch die Freiheit des Einzelnen unnötig eingeschränkt wird, sondern auch zu wenig, indem durch eine fehlende regulatorische Einhegung der Marktmechanismus in seiner positiven Funktion beschädigt wird.

Das Erklärungsmuster, welches die Krise als schicksalhaftes Ereignis konstruiert, basiert also auf einer neoliberalen Rationalität des Regierens, weil Markt und Wettbewerb per se als unfehlbare Steuerungsmechanismen erscheinen, welche vom fehlbaren Staat durch regulative Rahmenbedingungen in Analogie zum Brandschutz umsorgt werden müssen. Neben einer Optimierung der regulativen Einhegung der Finanzmärkte, gilt es daher weiterhin den Standort Deutschland respektive den Wirtschaftsstandort Frankfurt zu stärken, um erfolgreich aus der Krise hervorzugehen.

Neoliberalismus aus Überzeugung – „Es ist nicht der Markt der versagt hat, sondern es ist der Staat“

Das Erklärungsmuster, wonach explizit nicht der Markt, sondern der Staat per se versagt habe, erscheint im lokalen Diskurs erst relativ spät ab Anfang November 2008. Vertreten wird diese Argumentationsstruktur von überzeugten und sich mehr oder weniger offen bekennenden Neoliberalen bzw. von Vertretern der sozialen Marktwirtschaft im Sinne des Freiburger Ordoliberalismus. Konkret besetzen die FDP, Teile der CDU sowie Teile der Grünen diese Sprecherposition.

Zur Begründung, warum der Staat und nicht der Markt versagt habe und somit der Staat für die Krise verantwortlich sei, lassen sich fünf Argumentationen identifizieren. Erstens habe der Staat durch ordnungspolitische Fehler nicht zu wenig, sondern teilweise zu viel und vor allem falsch reguliert, und zweitens habe die staatliche Bankenaufsicht durch fehlende Kontrollen versagt. Drittens wären es außerdem nicht privatwirtschaftliche Banken, sondern vor allem von Politikern geleitete Staatsbanken gewesen, die sich verspekuliert hätten. Exemplarisch bringt der CDU-Politiker Michael zu Löwenstein diese drei Ursachenkonstellationen auf den Punkt: „Diese Finanzkrise hat es gegeben, weil die staatliche Regulierung versagt hat. Das Wirtschaftssystem, das unseren Wohlstand und die Grundlagen für die Möglichkeit sozialer Gerechtigkeit geschaffen hat, ist die soziale Marktwirtschaft, nicht ein Laissez-faire-Liberalismus. Jedenfalls war es in Deutschland wahrscheinlich nicht zu wenig Regulierung, sondern die falsche. Wenn jemand wissen möchte, wie extensive Regulierung aussieht, der braucht nur das geltende Kreditwesengesetz und die dazu erlassenen Verordnungen zu lesen, ein dicker Schinken. Ganz schlecht wird einem von so viel Regulierung. Dass diese überregulierten Banken Milliarden von ihren Anlagegeldern in Nebengesellschaften außerhalb der Bilanz hochriskant angelegt haben und auch noch stolz von den tollen Renditen geschwärmt haben, die man dort verdienen kann, hat unsere Bankenaufsicht übersehen. Wenn da einer sagt, die Verstaatlichung der Banken sei das Mittel dagegen, dürfen Sie dreimal raten, wer die Oberspekulierer in diesem Geschäft waren. […] Das hat nichts mit der parteipolitischen Richtung zu tun, sondern damit, dass die Politik in einer Bank nichts verloren hat, egal welche Politik“ (Löwenstein, CDU in STVV 06.11.2008: 57). Zudem hätten viertens direkte staatliche Interventionen beispielsweise auf dem US-amerikanischen Immobilienmarkt falsche Anreize gesetzt und so wirtschaftliche Ungleichgewichte erzeugt: „Die Finanzkrise ist keine Krise der Marktwirtschaft oder des Kapitalismus […]. Wer so etwas behauptet, verwechselt Ursache und Wirkung. Ausgangspunkt der Finanzkrise waren staatliche Eingriffe im amerikanischen Immobilienmarkt. Es war jahrzehntelang das erklärte Ziel der Politik in den USA, auch Bürgerinnen und Bürgern mit geringer Bonität zu Wohneigentum zu verhelfen“ (Rinn, FDP in der STVV 06.11.2008: 76). Schließlich habe fünftens die US-Notenbank durch niedrige Leitzinsen und eine Politik des billigen Geldes Kapital in den Immobilienmarkt gepumpt, um das Regierungsprogramm „Haus für jedermann“ (ebd.: 77) umzusetzen, und dadurch massenhaft faule Kredite und letztendlich die Spekulationsblase induziert.

Zentrales Element der Argumentation ist also, dass nicht der Markt versagt habe oder etwa nicht effizient funktionieren würde, sondern der Staat. Der Markt fungiere vielmehr als Motor der Geschichte, weil er in seiner Wirkung überaus positive Anreizstrukturen hervorbringe und somit überhaupt erst Menschen zu Anstrengungen antreibe. Das eigentliche Problem ist daher (wie beim pragmatischen Neoliberalismus auch), dass der Markt nicht autonom seinen intrinsischen Gesetzmäßigkeiten überlassen werden darf, sondern der Staat die Verantwortung trägt, den Markt richtig zu regulieren und entsprechend zu kontrollieren. Richtige Regulierung heißt in diesem Sinne konkret, dass nicht gegen Marktkräfte interveniert, sondern dass vor allem dafür Sorge getragen wird, dass immer irgendjemand als konkretes Individuum für ökonomisches Handeln haftet bzw. das Risiko für wirtschaftliche Transaktionen trägt. Letzteres sei durch Finanzinnovationen und neuen Techniken bei der Verbriefung von Krediten aufgehoben worden, wofür der Staat letztlich die Verantwortung trüge (CDU Politiker, Interview 10).

Warum konnte es aber zu einem derartigen Staatsversagen kommen? Diesbezüglich lassen sich zwei differente, aber sich dennoch durchaus ergänzende Vorstellungen über die Funktionsweise des Staates identifizieren, wobei sich vor allem die zweite deutlich vom pragmatischen Neoliberalismus unterscheidet. Zum einen erscheint der Staat – ähnlich wie im vorherigen Erklärungsmuster auch – als ein abstraktes Wesen, das als handelndes Subjekt über eine autonome Handlungskompetenz verfügt. Der Markt stellt demnach auf der einen Seite den positiven, effizienten, unfehlbaren und letztendlich allem überlegenen Steuerungsmechanismus dar, welcher aber auf der anderen Seite durch den Staat als unabhängigen, selbständigen Akteur reglementiert werden muss. Während dem Markt dabei Unfehlbarkeit und alles Positive zugeschrieben werden, verkörpert der Staat eine problematische, fehlbare Entität, die stets Gefahr läuft, sich entweder übermäßig Steuerungskompetenzen anzumaßen oder aber zu wenig zu regulieren. So postuliert etwa ein Politiker der Grünen: „Man lernt. Es [die Krise, S. Sch.] wird eine Bestätigung sein, dass der freie Markt oder der Markt, nicht der freie, aber dass der Markt gut ist. Wenn er reguliert ist, dann ist er stark. Aber man muss aufpassen“ (Interview 8). Die Regulierung der Finanzmärkte sei nicht staatlicherseits abgebaut, sondern es seien auf dem Feld des Marktes ohne Hilfe oder Einfluss des Staates neue Finanzprodukte entwickelt worden. Diese wären wiederum an sich nicht problematisch (oder etwa Ausdruck einer Überakkumulationskrise), sondern seitens des Staates nicht aus „Böswilligkeit“ (Politiker der Grünen, Interview 8), aber aus falscher Risikoabschätzung ungenügend reguliert worden. Demzufolge seien nicht benennbare Interessen oder Ideologien, sondern der bislang vorherrschende sachlich zwar falsche, aber unparteiische Glaube des Staates, „dass man alle Finanzprodukte unkontrolliert auf den Markt“ (ebd.) bringen könne, ursächlich für die derzeitige Wirtschaftskrise. Dafür könne man im Nachhinein letztendlich niemanden als konkrete Person verantwortlich machen. Stattdessen gelte es nun, die Fehler zu korrigieren, die internationalen Finanzmärkte nach klaren, transparenten Regeln zu regulieren und die Bankenaufsicht zu optimieren. Allerdings sind sämtliche darüber hinausgehende direkte Staatsinterventionen aus zwei Gründen entschieden zu bekämpfen. Zum einen erzeugten derartige falsche Interventionen, wie etwa in Form der von der SPD auf Bundesebene geforderten Börsenumsatzsteuer, nicht nur künstliche Wettbewerbsnachteile für den Standort Deutschland bzw. Frankfurt, sondern wären als staatliche Instrumente vor allem auch gar nicht in der Lage, angesichts internationaler, elektronischer Kapitalströme Finanzmärkte direkt zu steuern (Löwenstein, CDU in STVV 26.03.2009: 52). Die Begrenzung der Staatstätigkeit wäre zum anderen alternativlos, weil tendenziell jeder direkte Staatsinterventionismus langfristig in einer Planwirtschaft nach Muster der DDR münde: „Die Alternative zur sozialen Marktwirtschaft wäre die Planwirtschaft. Die hat in der Vergangenheit bekanntermaßen immer über kurz oder lang in den Staatsbankrott geführt. Der Staat ist nicht der bessere Banker. […] Allerdings funktioniert auch die Marktwirtschaft nur mit klaren Regeln“ (Rinn, FDP in STVV 06.11.2008: 77). Ähnlich wie die Freiburger Schule des Ordoliberalismus hinter jeglichem Wachstum der Staatsmacht durch ökonomische Interventionen letztendlich die Gefahr des Totalitarismus sah (Foucault 2004: 152ff), wird nun ein Automatismus bzw. eine unmittelbare Entwicklungslinie von direkten Interventionen des Staates in den Wirtschaftsprozess – beispielsweise in Form von kommunalen Beschäftigungsprogrammen, welche als „kommunistisches Wahlprogramm“ (Löwenstein, CDU in STVV 10.09.2009: 97) bezeichnet werden – zur staatlichen Planwirtschaft der DDR gezogen.

Die zweite Variante hebt sich deutlich vom Staatsverständnis des pragmatischen Neoliberalismus ab. Der Staat – bzw. streng genommen „die Politik“ – erscheint nämlich hier nicht nur als abstraktes, handelndes Wesen, sondern alternativ ebenso auch als ein Feld bzw. als politischer Markt, auf dem im Sinne von Public-Choice-Theorien Eigennutzen maximierende politische Akteure ihre politischen Programme anbieten, die wiederum von Wählern entsprechend ihrer Präferenzen nachgefragt werden. Der Staat stellt demnach ein politisches Feld dar, das in Analogie zum Markt von unmittelbarem, individuellem Eigennutzen bestimmt wird. Der Eigennutzen von politische Konzepte anbietenden Akteuren übersetzt sich dabei in das Ziel der Maximierung von Wählerstimmen bzw. in den Wunsch, wiedergewählt zu werden. Politische Programme, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, Interessen oder politische Überzeugen und Werte spielen folglich bei der politischen Entscheidungsfindung keine oder höchstens eine untergeordnete Rolle. Bezogen auf die Finanzkrise hätten daher sowohl Georg Bush jun. als auch Bill Clinton unter dem Druck der Wiederwahl Einfluss auf den amerikanischen Immobilienmarkt genommen, um möglichst vielen amerikanischen Wählern mit niedriger Bonität den „amerikanischen Traum“ vom eigenen Haus zu ermöglichen (Politiker der Grünen, Interview 8; FDP-Politikerin, Interview 9). Als Konsequenz bedeutet dies, dass stets die Gefahr bzw. der Anreiz besteht, dass politische Akteure zur Maximierung ihres (politischen) Eigennutzens der „Volksmeinung hinterherlaufen“ (CDU-Politiker, Interview 10), um Wahlen zu gewinnen, und sich dadurch eine sachlich falsche, unvernünftige Politik durchsetzt. Der Wähler wird somit nicht etwa als mündiger Souverän aufgefasst, sondern vielmehr als ein beständiges Risiko gesehen, der eine irrationale und sachlich falsche Entscheidungsfindung zu induzieren droht. Komplementär dazu wird Politik als ein postdemokratisches Feld konzipiert, auf dem sich nicht (grundlegende) gesellschaftliche Konflikte ausdrücken, sondern das als Ort der öffentlichen Diskussion und Entscheidungsfindung idealer Weise maßgeblich von Technokraten und Experten beherrscht werden sollte.

Bestimmendes, ontologisches Fundament dieses Erklärungsmusters und damit auch Grundlage für das Verhältnisse von Staat und Markt ist ein spezielles Menschenbild. Demnach sei der „typische Manager“ genauso wie „der Rest der Menschheit auch“ von Natur aus „selbstsüchtig, geizig und egoistisch“ (CDU-Politiker, Interview 10) bzw. die „Raffkies“ (Leitender Angestellter der Wirtschaftsförderung, Interview 3) statistisch stets in der Mehrzahl.[4] Schuld an der Krise wären deswegen keineswegs die Banker, sondern wenn überhaupt dann wären „wir es alle“, weil wir alle „im Grunde genommen […] renditeorientiert“ (Politiker der Grünen, Interview 8) seien. Es wird eine ahistorische, anthropologische Wesenseigenschaft des Menschen konstruiert, die unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen das individuelle Handeln determiniert. Der menschliche Egoismus wird aber nicht nur als ahistorische, nicht gesellschaftliche Konstante behauptet, sondern zugleich auch als durchaus erwünschte Eigenschaft akzentuiert und keineswegs moralisch abqualifiziert, weil schließlich, vermittelt über die unsichtbare Hand des Marktes, letztendlich alle vom individuellen Eigennutzen profitieren würden.

Der kritischer Neoliberalismus – Die Krise als Effekt ‚neoliberaler‘ Ideologie und einer Schwächung des Staates

Ausgangspunkt zur Erklärung der Krise als Effekt ‚neoliberaler‘ Ideologie, die vor allem von der SPD eingenommen wird, ist die Feststellung, dass die Krise durch einen unregulierten Markt und mangelnde staatliche Kontrolle der Finanzmärkte ausgelöst wurde. Grundlegend erscheinen im Rahmen dieses Erklärungsmusters weder Markt und Kapitalismus, noch internationale Finanzmärkte an sich als problematisch. Als Ursache für die Entkopplung der Finanzmärkte bzw. für das ‚Außer-Kontrolle-geraten’ des Kapitalismus und für fehlende staatliche Kontrollmechanismen wird vielmehr erstens eine gesellschaftliche Grundstimmung bzw. ein allgemeiner Trend und zweitens eine ‚neoliberale‘ Ideologie identifiziert, deren Protagonisten konsequent den unregulierten und unkontrollierten Markt sowie den Rückzug des Staates gepredigt hätten. Verantwortlich gemacht für letzteres werden die als Individuen benennbaren Hauptvertreter des ‚Neoliberalismus‘, welche nun statt „neoliberale Fensterreden“ zu halten, endlich „wirtschaftspolitisch zur Vernunft kommen“ (Oesterling, SPD in STVV 25.09.2008: 47) sollten: „Lieber Kollege Frank, Sie sind innerhalb der Frankfurter CDU […] der Hauptexponent einer bestimmten politischen Richtung […], die in den letzten Jahren einen konsequent neoliberalen Kurs immer befürwortet hat. Sie waren diejenigen […], die für den Rückzug des Staates plädiert haben. Sie waren diejenigen, die immer in Ihren Reden die ungebundene Marktwirtschaft in diesem Hause und auf dem CDU-Parteitag propagiert haben. Was ist jetzt daraus geworden? Es ist der Staat – nichts gegen die Marktwirtschaft oder den Kapitalismus –, der jetzt den Kapitalismus vor einem Bankrott rettet. […] Hunderte von Milliarden von Steuergeldern müssen jetzt aufgebracht werden, um die Fehler zu reparieren, die ein unregulierter Markt produziert hat. Hier hat es an der Kontrolle gefehlt – […]. Und es hat deshalb an der Kontrolle gefehlt, weil es diese ideologische Position von der ungesteuerten und unkontrollierten Wirkung des Marktes gegeben hat. Der Markt ist wichtig, aber er bedarf der Risikobegrenzung durch den Staat. […] Hier müssen wir Rahmenbedingungen setzen, und das ist die Aufgabe, vor der wir stehen“ (ebd.: 46).

Neben den ‚neoliberalen‘ Ideologen sei auch eine allgemeine Grundstimmung für die Deregulierung der Finanzmärkte, die Schwächung des Staates und damit auch für die gegenwärtige Krise verantwortlich. In dieser Sicht schwanke die langfristige politische Entwicklung quasi-automatisch in Form zyklischer Abfolgen und fast schon historischer Gesetzmäßigkeit zwischen mehrjährigen Trends „linker“ Regulierung (wie z.B. der New Deal unter Roosevelt) und mehrjährigen Trends „rechter“ Deregulierung (wie z.B. unter Thatcher und Reagan). Die verstärkte Tendenz in die ‚neoliberale‘ Richtung seit Anfang der 1990er Jahre wäre zudem durch den Zusammenbruch des Ostblocks verstärkt worden, weil der Staat dadurch irrtümlicherweise im Gegensatz zum freien Markt als „prinzipiell böse“ (SPD-Politiker, Interview 7) angesehen wurde. Wenn es aber gelänge staatlicherseits die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen und sich von einem übermäßigen Trend zur Deregulierung abzugrenzen, sei auch ein krisenfreier Kapitalismus in Form einer staatlich eingebetteten Marktwirtschaft prinzipiell möglich. Darüber hinaus verkörpere ein derartiger Kapitalismus des Dritten Weges die einzig erstrebenswerte und letztlich alternativlose Gesellschaftsform zwischen staatlicher Planwirtschaft auf der einen und einem vollkommen unregulierten Laissez-faire-Kapitalismus auf der anderen Seite. So formuliert beispielsweise ein führender SPD-Politiker: „Also es geht glaube ich nicht darum, die Marktwirtschaft außer Kraft zu setzen, […]. Also die staatliche Planwirtschaft ist ja aus guten Gründen zusammengebrochen und es kann nicht sein, dass der Staat jetzt die einzelnen Produkte vorschreibt, die einzelnen Produkte generiert, aber er muss halt Rahmenbedingungen setzten. Und so wie er halt Abgasnormen setzt, muss er glaube ich auch für den Finanzsektor eben Beschränkungen setzen“ (ebd.).

Auch in diesem Erklärungsmuster ist das Menschenbild bestimmend. Beispielsweise postuliert ein führender SPD-Politiker, dass Krisen nicht völlig verhinderbar seien, „weil die Menschen […] sich in den letzten 2000 Jahren nicht geändert [haben, und diese] sich auch in den nächsten 2000 Jahren wahrscheinlich nicht so strukturell ändern“ (Interview 7) werden. Ontologisch wird der Mensch als ein ahistorisches und unsoziales Wesen gesehen, das qua natürlicher Ausstattung – und nicht etwa als Subjekt, welches durch gesellschaftliche Verhältnisse hergestellt wird – zur Gier neigt. Diese wird wiederum als die unveränderbare Triebfeder begriffen, die potenziell zu ökonomischen Exzessen führe. In letzter Instanz ist das argumentative Fundament zur Erklärung von Finanzkrisen also – unter der ceteris paribus Annahme fehlender staatlicher Regulierung – die als anthropologische und natürliche Konstante definierte menschliche Neigung zu Egoismus und Gier. Beide übersetzen sich dabei – im Gegensatz zum Menschenbild überzeugter Neoliberaler – nicht etwa automatisch in perfekt funktionierende Märkte, weil die einzelnen Individuen nicht zu rationaler Erwartungsbildung neigen. Vielmehr folgen sie in ihrem wirtschaftlichen Verhalten der Theorie der adaptiven Erwartungen, projizieren also bestehende Trends ungebrochen in die Zukunft und unterliegen zudem speziell in Boomphasen einem Herdentrieb bzw. einer „kollektiven Psychose“; was sowohl historisch bezüglich der Großen Tulpenmanie im 17. Jahrhundert als auch aktuell beim Investmentbanking zu einem Tanz ums „Goldene Kalb“ (ebd.) geführt habe. Gelänge es mittels staatlicher Regulierung und Bankenaufsicht derartige Prozesse zu verhindern, wäre auch ein stabiler, krisenfreier Kapitalismus denkbar.

Bemerkenswerterweise zeigt sich, dass das Erklärungsmuster, welches die Krise als Ausdruck und Folge ‚neoliberaler‘ Ideologie versteht, selbst als neoliberale Krisendeutung bezeichnet werden muss. Kritisiert wird nämlich ausschließlich ein vollkommen unregulierter Markt, sprich kein Neoliberalismus, sondern ein klassischer Laissez-faire Liberalismus.[5] Ausdrücklich nicht kritisiert werden weder das finanzmarktdominierte Akkumulationsregime noch der Markt- und Wettbewerbsmechanismus als solcher oder dessen Resultate, beispielsweise in Form von materieller Ungleichheit. Trotz aller anti-neoliberalen Rhetorik wird die Krise auch in dieser Variante paradoxerweise nicht nur neoliberal erklärt, sondern es werden zur Krisenbewältigung auch konsequent neoliberale Strategien abgeleitet. Markt und Wettbewerb sollen weiterhin als die zentralen und legitimen Steuerungsmechanismen fungieren, die der Staat nicht durch direkte Interventionen in den Wirtschaftsprozess stören darf. Allerdings muss der Staat die richtigen Rahmenbedingungen in Analogie zu Abgasnormen setzen, damit Markt und Wettbewerb ihre wohlbringenden Eigengesetzlichkeiten entfalten können und nicht durch Monopole oder, wie im Falle der Finanzmärkte, durch bspw. eine Sozialisierung der Verluste in ihren Funktionen beschädigt oder aufgehoben werden. Der Markt dürfe also nicht als autonome Sphäre seiner intrinsischen Gesetzmäßigkeit überlassen bleiben, sondern müsse beständig überwacht und aktiv umsorgt werden, was z.B. eine funktionierende Bankenaufsicht und die Regulierung von Finanzgeschäften impliziert.

Als Grund für dieses auf den ersten Blick paradoxe Missverständnis lassen sich zwei Aspekte hervorheben. Erstens beruht die offensichtliche Begriffsverwirrung darauf, dass die Bedeutung des Begriffs Neoliberalismus äußerst unscharf und kaum fixiert ist. Neben der Verwendung als analytische Kategorie in Abgrenzung zum Liberalismus, wird er auch als politischer Kampfbegriff verwendet. Dies führt augenscheinlich dazu, dass sich auch neoliberale Erklärungsmuster zur Krise erstaunlicherweise in Form einer Kritik am ‚Neoliberalismus‘ darstellen lassen. Zweitens basiert dieses Erklärungsmuster – wie die beiden vorherigen auch – auf einem recht simplen und analytisch problematischen Verständnis von Staat und Markt. Beide werden als getrennte und entgegengesetzte Pole begriffen, wobei der Staat die zentrale Aufgabe hat, die Funktionsfähigkeit des Marktes durch die Setzung von einhegenden Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Dass aber der Staat als Garant von Privateigentum und persönlicher Freiheit beständig im Markt präsent ist und beide in einem Wechselverhältnis co-konstitutiv aufeinander bezogen sind, erscheint somit hier verkehrt als quantifizierbares, antagonistisches Verhältnis, wobei eine Stärkung des einen die Schwächung des anderen bedeutet. Die Deregulierung der Finanzmärkte wird daher nicht als ein durch einen starken Staat durchgesetztes und staatlich überhaupt erst ermöglichtes Programm diskutiert, sondern als Schwächung des Staates thematisiert. Dies gelingt, indem die Bewertung der Staatstätigkeit ausschließlich anhand ihres quantitativen Umfanges erfolgt, die qualitative Transformation des Staates also einseitig als quantitative Schwächung interpretiert wird. Unter Abstraktion sowohl vom sozialen Charakter als auch von der Qualität der Staatstätigkeit wird der Staat so per se zum positiven Pol der Risikobegrenzung und zum Garant gesellschaftlicher Stabilität.

Fazit

Zwar schlägt im Zuge der gegenwärtigen Krise tatsächlich die „Stunde der hegemonialen Auseinandersetzung“ (Hirsch 1994: 209), allerdings bleibt die unternehmerische Stadt nach einer kurzen Phase der Verunsicherung dennoch zentraler Referenzpunkt lokalen Regierens. Erklären lässt sich die ungebrochene aktive Zustimmung der Frankfurter politischen Eliten zu diesem Konzept dadurch, dass es über ein breites politisches Spektrum hinweg gelingt, die Krise mit Hilfe neoliberaler Erklärungsmuster zu deuten und dementsprechend Sinn bezüglich des ‚richtigen‘ Regierens der Stadt zu stiften und eine Verstörung bislang hegemonialer Rationalitäten zu verhindern. Dies wiederum mag viel damit zu tun zu haben, dass Akteure in lokaler Politik und Verwaltung durch jahrelange diskursive Anrufungen sowie durch betriebswirtschaftliche Steuerungsmodelle nach Maßgabe von NPM (vgl. Lebuhn in diesem Heft) sich als Manager des Unternehmens Stadt sehen.

Literatur

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[1] Empirische Grundlage der folgenden Ausführungen sind die wortprotokollierten, monatlichen Debatten der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung (STVV) zwischen September 2008 und Mai 2010 sowie elf Experteninterviews, welche im Sommer 2009 mit Politikern und leitenden Verwaltungsangestellten geführt worden sind.

[2] Offiziell wird die Stadt Frankfurt seit 2006 aus einer Koalition von CDU und Grünen regiert, wobei aber die FDP beispielsweise in Form von Magistratsposten an der Regierungsverantwortung beteiligt wird.

[3] Neben den Erklärungsmustern zur Krise, welche einer neoliberalen Rationalität verhaftet bleiben, lassen sich auch eine Reihe alternativer Deutungen identifizieren. Als die zwei noch einflussreichsten stechen darunter der kapitalismuskritische Keynesianismus (LINKE) sowie der rechtskonservative Idealismus (BFF, Republikaner)hervor. Beiden gelingt es aber (bislang) nicht die Hegemonie der unternehmerischen Stadt – sei es in emanzipatorischer oder reaktionärer Perspektive – zu erschüttern oder soziale Auseinandersetzungen anzuleiten.

[4] „Es ist immer am besten, das an sich selbst auszutesten. Egal was. Hebt man den 500€ Schein hoch und gibt ihn gleich zurück oder denkt man, blöd dass er ihn verloren hat; gut für mich oder so. Das muss jeder für sich entscheiden, aber statistisch kommt eben raus, dass jeder erst mal an sich denkt, so“ (Leitender Angestellter der Wirtschaftsförderung, Interview 3).

[5] Im Gegensatz zum Neoliberalismus weist der Liberalismus dem Staat tatsächlich nur die Funktion des Nachtwächters zu, indem die Staatstätigkeit ausschließlich die persönliche Freiheit und das private Eigentum zu schützen hat und die Regierungsausübung intern fortwährend aufgrund der beständigen Gefahr zu viel zu regieren begrenzt werden muss. Dass der Staat auch zu wenig regieren kann, ist dagegen beim Liberalismus nicht denkbar.