Demokratie, Staat, Linke

Menschenrechte, Staat und Steuern bei Hegel

Der italienische Philosoph Domenico Losurdo bringt Hegel in die für die Linke notwendige Staatsdiskussion

Juni 2007

Zu den Hegel zur Last gelegten Vorwürfen gehören erstens die Behauptung, dass das Wirkliche auch vernünftig sei, und zweitens die Denkfigur des geschichtlichen Fortschritts. Darin wird oft sein Kniefall vor der Restauration und der Realität des preußischen Staats gesehen, der ihm einen Lehrstuhl gewährte. Hegels Konzeption von geschichtlichem Fortschritt wiederum wird als Absage an die Liberalität verstanden, als angeblicher Beweis, dass er Befürworter des totalitären Staats war, und zwar eines linken wie eines rechten gleichermaßen.

Ohne Hegel also kein Stalin und kein Hitler? In der Tat meint Karl Popper – stellvertretend für eine breite Strömung angelsächsischer Philosophie – dass Hegel und sein verhängnisvolles Erbe die Verankerung Deutschlands nicht in der westlichen, sondern in der östlichen Kulturhemisphäre belege.

Dass diese Fragen nicht nur für den Durchschnittsmenschen, sondern sogar für philosophisch Vorgebildete schwer zu beurteilen sind, liegt nicht allein am schwierigen Charakter von Hegels Schriften, sondern auch daran, dass der selbstzensierte Text durch die Lektüre der überlieferten Mitschriften seiner universitären Hörer kritisch ergänzt werden muß. Aber um Hegels Denken wirklich zu begreifen, ist es auch nötig, seine Aussagen mit den Fakten der Zeitgeschichte zu konfrontieren. Domenico Losurdo[1] greift in seiner Studie „Hegel und die Freiheit der Modernen“ die oben genannten und andere alte Zankäpfel aus Hegels Werk auf und macht sie durch konsequente Historisierung verständlich. Dann allerdings offenbaren diese Zankäpfel eine erstaunliche Aktualität. Und vollkommen überraschend ist, dass Hegel seine Philosophie im Kontext eines umfangreichen, weitgehend unbekannten sozialpolitischen Denkens entwickelte, das aber zweifellos als die Ursache seines großen Erfolges nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa anzusehen ist.

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Wenn Hegel sowohl von Zeitgenossen wie auch in der Gegenwart Akkomodation mit den Königen vorgeworfen wird, bleibt ausgeblendet, dass „zum Zeitpunkt des Erscheinens des Drucktextes der Rechtsphilosophie in Spanien die sanfedistischen Banden gegen die revolutionäre Regierung tobten[2], Frankreich sich durch die massive Wiederaufnahme der Agitation der ultras infolge der Indignation über den Mord am Herzog von Berry[3] auszeichnete, und Deutschland von der – zumindest in Hegels Augen – antisemitischen und reaktionären Wende der deutschtümlerischen Bewegung gekennzeichnet war.“[4] Die Abschaffung des Rechts der Feudalität, den König zu wählen, hielt Hegel, im Gegensatz zu mechanistischen Verfechtern des Wahlrechts schlechthin, für einen Fortschritt auf dem Weg zur konstitutionellen Monarchie, die – wie es in seinen Augen das Beispiel Polens zeigte – durch die Aufrechterhaltung des feudalen Wahlrechts nie zustande kommen würde. Die „polnische Freiheit“, sei „nichts anderes als die Freiheit der Barone gegen die Monarchen“ gewesen, „wobei die Nation zur absoluten Knechtschaft erniedrigt war. Das Volk hatte somit dasselbe Interesse gegen die Barone wie die Könige; denn es ist überall durch die Unterdrückung der Barone befreit worden. Man muß, wenn von Freiheit gesprochen wird, immer wohl achtgeben, ob es nicht eigentlich Privatinteressen sind, von denen gesprochen wird.“[5] Solche, von den Klasseninteressen ausgehenden Behauptungen Hegels vermögen auch heute noch Liberale zu skandalisieren.

Dass Hegel eine aufgeklärte Verfassungsmonarchie und eine Revolution von oben den uneingeschränkt und unkontrolliert herrschenden feudalen Partikulargewalten vorzog, verweist auf eine bis heute selbst vielen Linken keineswegs geläufige Grundposition, wonach die Institutionalisierung eines Rechts bedeutungsvoller ist als seine symbolischen Repäsentation, bzw. Personifikationen. Hegel sah nicht etwa eine kontinuierliche Linie zwischen der französischen Revolution und der Handlungsweise der württembergischen Landstände, sondern umgekehrt, zwischen französischer Revolution und Reformarbeit des Fürsten: „Wenn damals die Majorität der französischen Reichsstände und die Volkspartei die Rechte der Vernunft behauptete und zurückforderte und die Regierung auf Seiten der Privilegien war, so stellte in Württemberg vielmehr der König seine Verfassung in das Gebiet des vernünftigen Staatsrechts; die Landstände werfen sich dagegen zu Verteidigern [...] der Privilegien auf.“[6]

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Die weitverbreitete Vorstellung eines sich quasi mechanisch entwickelnden Menschheitsfortschritts in logisch aufeinanderfolgenden Geschichtsformationen ist seit 1989 erledigt. Ist damit aber auch die Denkfigur des historischen Fortschritts als eine aus der Aufklärung ererbte Naivität Hegels erledigt? Realiter war gerade der vulgärmaxistische Geschichtsoptimismus der unhegelianische Ausdruck eines Denkens, das die bei Hegel grundlegende Kategorie der Widersprüche aus der eigenen Realität herauseskamotiert hatte: Probleme und Konflikte wurden als „Missverständnisse“ dargestellt, durch administrative Maßnahmen oberflächlich ausgesöhnt und – wenn das unmöglich war – im physischen Sinne liquidiert. Hegel jedoch hätte sich auch die harmonischste Gesellschaftsformation nicht grundsätzlich ohne Widersprüche, d. h. nicht ohne tiefgreifende Konflikte vorstellen können. Mit dieser Voraussetzung ist dem Fortschrittsbegriff Hegels schon einmal jede populistisch instrumentalisierbare Vorstellung von Linearität genommen. Was aber umfasst er dann? Losurdo zeigt, dass Fortschritt mit dem in der französischen Revolution weltgeschichtlich zum ersten Mal institutionalisierten Begriff der Gleichheit aller Menschen zusammenhängt. Wohlgemerkt: Hegel meinte nicht, dass damit der Humanitätsfortschritt automatisiert sei, sondern nur, dass von nun an der Allgemeinbegriff Mensch einschließlich seiner unveräußerlichen Rechte als Ferment aus der Weltgeschichte nicht mehr verschwinden werde. Losurdo kann die historischen Entwicklungen benennen, mit denen sich dieses Denken bei Hegel entwickelte und bestätigte. Einerseits stand die damals auch gerade von Frankreich ausgehende Kolonialpolitik in flagrantem Widerspruch zum Allgemeinbegriff Mensch. Andererseits erkannten die Jakobiner im Verlauf des von Toussaint Louverture geführten Sklavenaufstands auf Haiti die Subsumtion der Haitianer unter den Allgemeinbegriff Mensch schließlich an. Aus heutiger welthistorischer Perspektive läßt sich noch deutlicher konstatieren, dass die damals und später Kolonisierten das Bewußtsein ihres Menschseins nie verloren haben und sich unter Berufung auf den Allgemeinbegriff Mensch schließlich auch von Fremdherrschaft befreien konnten. Dies ist um so bedeutsamer, als viele der vom Westen versklavten Völker vor der Kolonisation traditionell keinesfalls einen universalistischen Menschenbegriff hatten, sondern oft nur ihren eigenen Stamm, nicht aber alle anderen Stämme und Völker als Menschen anerkannten. Wie wir heute sehen und mit Hegels Widerspruchsdenken auch verstehen können, bedeutete die Ausbreitung des allgemeinen Menschenbegriffs weder im Zeitalter der Kolonisierung noch in der Epoche ihrer Auflösung den Beginn einer Ära des ewigen Friedens. Neben dem allgemeinen Menschenbegriff arbeitete auch die Maschinerie der Widersprüche weiter.

Bei aller Kritik der Jakobiner hat Hegel niemals dem allgemeinen Menschenbegriff abgeschworen. Im Gegenteil, er ist Grundlage seines gesamten philosophischen, sozialen und politischen Denkens. Letzteres zeigt seine von Losurdo hervorgehobene Begeisterung für Revolutionen, die für ihn in der Antike begannen als „blutige Kriege, in denen die Sklaven sich frei zu machen, zu Anerkennung ihrer ewigen Menschenrechte zu gelangen suchten“[7] Nach Losurdo gab es „keine Revolution in der Geschichte der Menschheit, die von diesem Philosophen, der im Ruf steht, ein unverbesserlicher Mann der Ordnung zu sein, nicht unterstützt und gefeiert worden wäre.“ Das betrifft nicht nur die Julirevolution, die aus Frankreich ein „protestantisches“, d. h. politisch modernes Land gemacht habe, sondern auch jene revolutionäre Welle, die nach der Restauration auftritt, und die, von Lateinamerika ausgehend, das vom Unabhängigkeitskampf der spanischen Kolonien erschüttert wird, Europa erreicht hatte und dort das politische System der Heiligen Allianz auf eine harte Probe stellt. Die ‚Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte’ registrieren positiv die „neuen Bestrebungen zur Bildung selbständiger Staaten“. Hegel selbst verfolgte mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit die antikolonialen Befreiungskämpfe seiner Zeit, insbesondere in Lateinamerika, wo sie in fortschrittliche bürgerliche Revolutionen hinüberwuchsen.[8]

Losurdo kann zeigen, dass sich das Diktum von der Vernünftigkeit des Wirklichen gerade nicht auf die Realität des preußischen Staats bezieht, sondern auf die politischen Bestrebungen seiner Zeit, den „vernünftigen“ Gedanken der sozialen Teilhabe aller zur Wirklichkeit werden zu lassen. Natürlich habe sich – so Losurdo – „die Hegelsche These von der Einheit von Vernünftigem und Wirklichem in der Denktradition, die von Marx ausgegangen ist, nur in dem Maße gehalten, als das schwierige Gleichgewicht zwischen Legitimierung der Moderne und kritischer Bilanz der Modernität aufrechterhalten wurde, das für Marx typisch ist und das er eindeutig von Hegel übernommen hat.“ Die mit Blick auf den Realsozialismus ausgesprochene Kritik Adornos an der „Rechtfertigung des Seienden“ durch Hegel erweist sich auf der historisch-philosophischen Ebene, auf der sich Hegel selbst bewegte, als falsch. Nach Losurdo gilt sie nur für Adornos eigene Zeitebene, auf der das „Gleichgewicht zwischen Legitimierung und Kritik der Moderne“ zerbrochen war.[9]

Die Verfassungsmonarchie stellte für Hegel nicht das Endziel der Geschichte dar, sondern nur das in seinen Augen in seiner Zeit realisierbare Ziel. Losurdo zeigt dies, indem er sein ökonomisches und soziales Denken systematisch aufrollt. Durch die Konfrontation mit der durch Aristoteles, Montesquieu, Locke, Edmund Burke, Benjamin Constant, Tocqueville, Wilhelm von Humboldt, Arthur Schopenhauer, Friedrich Schleiermacher und Friedrich Nietzsche verkörperten Linie des Liberalismus wird nicht nur die verblüffende Aktualität von Hegels Positionen deutlich, sondern auch die Tatsache, dass die heutigen Auseinandersetzungen um Marktwirtschaft und Sozialstaat schon alte Fragestellungen sind.

Hegels allgemeiner Menschenbegriff enthielt konkrete unveräußerliche und unverjährbare Rechte, die sich vom Inhalt des erst in Reaktion darauf entwickelten allgemeinen Menschenbegriffs der Liberalen fundamental unterscheiden. Für Hegel ist das wichtigste aller Rechte das Recht auf Leben, das er höher stellte als die aus dem Eigentum entspringenden Rechte. Die Beschränkung des allgemeinen Menschenbegriffs der Liberalen zeigt sich darin, dass das Recht auf Leben als nachhaltiges Recht des Einzelnen nur als Recht des Kindes in Bezug zu seinen Eltern formuliert wird.[10] Hegel definierte jedoch einen Anspruch des Einzelnen nicht nur seiner Familie gegenüber, sondern ausdrücklich auch gegenüber der Gesellschaft.

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Dass der soziale Anspruch auf nachhaltiges Überleben, den der Einzelne gegenüber der Gesellschaft hat, in Hegels Augen nicht durch freiwillige Wohlfahrtsgaben der Reichen gegenüber den Armen in genügendem Maß befriedigt werden kann, war für ihn eine Folge der historisch immer weiter vorangeschrittenen Arbeitsteilung. Während der Liberalismus propagierte, dass z.B. arbeitslose städtische Proletarier ihr Auskommen ohne weiteres durch eine Rückwanderung auf’s Land und harte Arbeit dort finden könnten (eine Auffassung, die mit der Fiktion von unbegrenzt möglicher Urbarmachung und Ausbeutbarkeit der Natur einherging), hielt Hegel diesen Ausweg für illusorisch: Der alte, auf die Straße gesetzte Diener konnte sein Auskommen nicht mehr im Dorf seiner Vorfahren finden, das er als junger Mann verlassen hatte. Er war ganz und gar auf die Solidarität der Stadtgesellschaft angewiesen. Und Hegel bestand darauf, dass es nicht ausreichen würde, diese Solidarität auf willkürliche caritative Neigungen der Reichen zu beschränken, dem alten Diener eventuell ein Gnadenbrot zu gewähren. Für Hegel war zwingend, dass diese Solidarität als Recht artikuliert, d.h. institutionalisiert werden musste. Die religiösen Gebote der Nächstenliebe „bleiben nur beim Sollen stehen, haben aber keine Wirklichkeit; sie sind nicht Gesetze, sondern nur Gebote“.[11] Diejenigen, die sich auf Moral und Religion in dem Sinne berufen, dass „dem Gerechten kein Gesetz gegeben“[12] sei, – woraus die Liberalen ein moralisches Recht des Gebenden, nicht des Empfangenden machen – negieren nach Hegel die Form der Allgemeinheit und untergraben damit die Sittlichkeit überhaupt. Hegel stellt „die Forderung nach einer umfassenderen und konkreteren Allgemeinheit, nach Gesetzen und Institutionen [...], die in der Lage wären, den vom ‚Unvernünftigen‘ und ‚Willkürlichen‘ beanspruchten Raum weiter einzugrenzen, nach Institutionen, die erst dann ‚konkreter‘ werden, wenn es ihnen gelingt, in die ‚abstrakte’ Sphäre des Eigentums einzugreifen.“[13] Interessanterweise ergeben sich für Hegel „Rechte und Ansprüche“ des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft, wie er sie „in der Familie hatte“, unweigerlich auch schon daraus, dass er selbst mündiges „Glied der bürgerlichen Gesellschaft sein“ soll.[14] Aus den Rechten, die das Individuum gegenüber der Gesellschaft hat, ergibt sich für Hegel zwingend, dass das Kind auch nicht „Eigentum“ seiner Eltern ist, sondern diesen gegenüber als selbständiges Rechtssubjekt zu betrachten ist. Daraus ergibt sich für ihn u.a. das Verbot der Kinderarbeit und die vom Staat zu sichernde allgemeine Schulpflicht.[15]

Da Hegel weder den Markt noch das Privateigentum in Frage stellt, will er das materielle Recht des Eigentumslosen über ausreichende Erhebung von Steuern durch den Staat herstellen.[16] So „hoch“ und „heilig“ das „Eigentumsrecht“ für ihn auch ist: „Es kann verletzt werden und muß es werden. Der Staat fordert Abgaben, dies ist eine Forderung, dass jeder etwas von seinem Eigentum gebe, der Staat spricht so den Bürgern einen Teil ihres Eigentums ab.“[17] Während für Locke die höchste denkbare Gewalt diejenige ist, die sich gegen das Eigentum richtet, ist es für Hegel die Gewalt gegen das von ihm umfassend verstandene menschliche Lebensrecht. Und während die liberale Tradition – in der auch der heutige, von den Sozialämtern nicht mehr aktualisierte Warenkorb steht – die Bedürftigkeit physiologisch-minimalistisch festzulegen sucht, definierte Hegel Bedürftigkeit und Existenzminimum historisch, das heißt am jeweiligen allgemeinen Entwicklungsstand orientiert. Hierin unterscheidet er sich von Rousseau, der zwar auch für die Besteuerung der Reichen zugunsten der Armen eintrat, aber meinte, deren Bedürfnisse auf eine zu ermittelnde Kategorie des Notwendigen beschränken zu können. Hegel erkannte, dass sich die Bedürfnisse zum jeweiligen Bezugsrahmen von Zeit und Raum entwickeln.[18] Zweifellos nicht fatalistisch, d.h. nicht unbeeinflußbar vom Kollektivwillen, aber doch historisch, sah Hegel auch die Entwicklung der Produktionsmittel und den damit einhergehenden Effekt der Rationalisierung. Wenn ein Industriezweig zugrunde gehe, entstehe unverschuldete Arbeitslosigkeit. Konkret hieß das z. B., dass Hegel den Maschinenstürmern nicht pauschal Recht gab, sondern eine Arbeitslosenversicherung forderte.[19]

Für ihn ist der Staat also als Solidar- bzw. Sozialstaat einzurichten, während die liberale Tradition den Nachtwächterstaat haben wollte und weiterhin will, dessen Funktionen möglichst auf die Garantie der inneren und äußeren Sicherheit beschränkt bleiben sollen. Hegel hatte bereits die heute wieder aktuelle Erkenntnis, dass aus der Vernachlässigung der sozialen Umverteilungsfunktion des Staates unweigerlich die Hypertrophierung der staatlichen Sicherungsmaschinerie für die Privilegien der Besitzenden hervorgetrieben wird. Daher drehte Hegel schon in Jena den Spieß um: eine große Abgabe der Reichen „vermindert den Neid und wendet die Furcht von der Not und der Beraubung ab“.[20] Eine Regierung habe die Pflicht, der „Ungleichheit und der allgemeinen Zerstörung“ entgegen zu arbeiten „durch Erschwerung des hohen Gewinns“.[21] Schon in „Die Verfassung Deutschlands“ schrieb er: „Die Abgaben, die er [der Staat] fordern muß, sind ein Aufheben des Rechts des Eigentums.“[22] Für den jungen Hegel-Schüler Engels hatte das Prinzip der Steuerhebung an sich schon etwas „kommunistisches“.

Der alte Liberalismus behauptete mit rassistischen, der neue eher mit kulturellen Argumenten Unterschiede der Menschen. Damit sollten und sollen für einen Teil von ihnen Reichtum und Freiheit, für einen anderen Teil jedoch Armut und ein Status minderer Rechte als natürlich erscheinen. Freiheit als freie Verfügung über Eigentum und Zeit wird nur als Recht der Besitzenden gefaßt, während die Besitzlosen zu Arbeit und Dienertum notfalls auch gezwungen werden müssen. Hier steht eine Linie von Aristoteles über Benjamin Constant und Burke bis zu Nietzsche (otium und negotium als Vorrecht der Besitzenden) dem von Rousseau und Hegel hochgehaltenen Ideal einer Gesellschaft der citoyens gegenüber, in der bestimmte Grundrechte allen zukommen, die – und das ist wesentlich – sich mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt entwickeln, da dieser allen zugute kommen soll. Obwohl die Liberalen den vollen Freiheitsbegriff nur auf die Besitzenden beziehen, erklären sie den Hegelschen Solidarstaat der citoyens für totalitär.[23] Es ist interessant, dass der liberalen Tradition das Pathos der Gesellschaft der citoyens abgeht. Die zumeist rassistisch oder kulturalistisch verschleierten wirklichen Gründe werden allerdings selten so klar hervorgehoben wie bei Boissy d’Anglais, der erklärte, man müsse die Nichteigentümer von den politischen Rechten ausschließen, denn sonst „werden sie verhängnisvolle Steuern festsetzen oder festsetzen lassen.“[24] Im gleichen Sinne möchte Benjamin Constant die Nicht-Eigentümer mit ausländischen Einwohnern ohne politische Rechte gleichstellen. Eigentümer und Nicht-Eigentümer können aus dieser Sicht nicht Teil einer egalitären Gemeinschaft der citoyens sein: Nicht-Eigentümer müssen Regeln beachten, an deren Ausarbeitung sie nicht teilhaben dürfen.[25] Das führte bis zur Zwangsarbeit in den von Hegel erbittert bekämpften Armenhäusern. Dass die heute geplante weitere Deregulierung des Arbeitsmarkts bei gleichzeitigem Abbau der sozialen Sicherungssysteme und der Wiedereinführung von Arbeitszwang für alle Nichtbesitzer von Produktionsmitteln äußerst „totalitär“ ist, wird aus liberaler Sicht wie eh und je nicht ausgesprochen. Nachdem das allgemeine Wahlrecht heute kaum noch wegzudenken ist, äußert sich die liberale Grundhaltung z. B. bei Wolfgang Schäuble in Losungen wie: „Weniger Demokratie wagen“. Und wie am gegenwärtigen Projekt der Osterweiterung der Europäischen Union zu sehen ist, versteht der Liberalismus unter Freiheit vor allem die Freiheit des Handels. Schon Hegel stellte aber fest, dass mit der Sicherheit des Handels keineswegs schon Sicherheit für die einzelnen Individuen und Familien geschaffen ist.[26]

Hegel leitete aus der Priorität des nachhaltigen Rechts auf Leben gegenüber dem Recht des Eigentums sogar ein Notrecht des Hungernden ab,[27] das man modern mit ‚Recht auf Enteignung’ bezeichnen kann. Aber: „Der gewalttätigen Enteignung, zu der man im Verlauf der Französischen Revolution übergegangen war, zieht Hegel, auch in Sachen Steuern, eindeutig Reformen von oben vor.“[28] Hier ist daran zu erinnern, dass solches Notrecht historisch keineswegs nur an Revolten und Revolutionen gebunden war, sondern auch von bürgerlichen Staaten während oder nach Kriegen installiert werden konnte, wie z. B. die umfangreichen Konfiskationen von Wohnungseigentum durch die französische Regierung nach dem 2. Weltkrieg zeigten.

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Nachdem der Versuch, eine gerechtere Wirtschaftsordnung auf der Basis von weitestgehender Enteignung und staatlich-gesellschaftlichem Eigentum zu errichten, als gescheitert erklärt werden muß, steht es uns momentan nicht an, darüber zu urteilen, ob es nur Hegels historischer Horizont war, der ihn daran hinderte, die Abschaffung des Bürgertums und der Klassen nicht in Betracht zu ziehen. Auf jeden Fall verhinderte seine Überzeugung der grundsätzlichen Widersprüchlichkeit von Entwicklung und Geschichte die begriffliche Vision einer idealen Gesellschaft. Sicher ist, dass der realsozialistische Versuch u.a. auch deshalb gescheitert ist, weil die von Kant und Hegel als unabdingbar angesehene Rechtsstaatlichkeit nach den Phasen der Revolution und äußeren Bedrängnis nicht hergestellt wurde. Einstweilen ist unklar, ob die Menschheit überhaupt in der Lage ist, die Schwelle zu einem qualitativ weiter entwickelten Sozialismus zu überschreiten. Obwohl auch den sozialistischen Staaten ein hegelianisches Erbe nicht abgesprochen werden kann, erscheinen eher der keynesianische Staat, der Staat des New Deal oder auch der Rheinische Kapitalismus als realhistorische Konfigurationen von Hegels Konzeptionen der institutionalisierten Umverteilungen von oben nach unten. Auch die „Sozialpflichtigkeit“ des Eigentums in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist in dieser Sicht ein hegelsches Erbe.

Indem er Eigentumsrecht und Markt nicht in Frage stellte, beide jedoch durch die Pflicht sozial gerechter Steuern einschränkte, repräsentiert Hegel einen wesentlichen philosophischen Grundstein gegen den alten, überraschenderweise aber auch gegen den aktuellen Liberalismus. Wenn Tocqueville sagte: „Der Reiche kann den Armen nicht so einsetzen, wie er es tun würde, wenn ein so großer Teil seines Geldes nicht in den Abgründen des Staates verschwände“[29], ist genau die Reflexion wiedergegeben, die heutige Liberale als der Modernität letzte Weisheit darstellen, um zu begründen, weshalb Arbeitslosen die Sozialbezüge gekürzt werden müssen.

Auch Kant, der neuerdings für den Westen gerettet werden soll, obwohl er aus Königsberg stammte, ging sicher gerade deshalb vom allgemeinen Menschenbegriff aus: Osten und Westen gab es für ihn hinsichtlich der Menschenrechte nicht. Und dieser allgemeine Menschenbegriff stellt das eigentliche revolutionäre Vermächtnis der deutschen Philosophie dar. Hegels originärer Beitrag, von dem heute sowohl die Erben der kommunistischen als auch der sozialdemokratischen Linken Entscheidendes zu lernen hätten, ist sein Bestehen auf der Institutionalisierung von politischen und sozialen Rechten gleichermaßen. Während sich die sozialdemokratische Linke dazu bewegen liess, die soziale Frage der Kassenlage und der Gutwilligkeit der Herrschenden zu überlassen, haben die Kommunisten darin versagt, ihre ökonomische Ordnung rechtsstaatlich zu gestalten. Der Hegelsche „sittliche Staat“ entsteht aber erst durch solide Institutionalisierung der politischen und sozialen Rechte. Wenn diese, wie man sieht, in Europa nur provisorisch verwirklichten Rechte derzeit unter der Formel ‚Abbau des Staates’ zusammengestrichen werden, betrifft dieser Abbau nicht die vormundschaftlichen Repressionsfunktionen des Staates, sondern genau jene Ansätze des hegelschen sittlichen Staates. Erst wenn sich die Linke über diesen Sachverhalt klar wird und ihn – unbeirrt von medial vermittelten Totalitarismusängsten – auch den Mehrheiten politisch vermitteln kann, wird sie wieder in die Offensive kommen.

Als Erbe der starken linkshegelianischen Linie Italiens, die von den Brüdern Spaventa über De Sanctis und Labriola bis zu Gramsci[30] reicht, verteidigt Losurdo diese deutsche Tradition gegenüber der im gegenwärtigen Stadium der Globalisierung an Übergewicht gewinnenden angelsächsischen Tradition. Für sie ist der allgemeine Menschenbegriff in seinen sozialen Dimensionen bis heute nicht bindend. Das in Losurdos Buch vorgestellte umfangreiche soziale und ökonomische Denken Hegels läßt die Linie zwischen diesem und Marx fließender erscheinen. Marx’ großes Verdienst ist die umfassende politökonomische Analyse des Kapitalismus. Sein Versuch, die historische Antithese des Kapitalismus als Subjekt zu bestimmen, das in der Lage sein müßte, ihn zu überwinden, hat sich historisch –zumindest bisher – nicht bestätigt. Die Arbeiterklasse, verstanden als qualifizierte Belegschaft von großen Industriezentren, erwies sich weniger als Antithese denn als Komplement des Kapitals. Dies zeigte sich deutlich spätestens im Zeitalter der Entkolonialisierung, in dem die Arbeiterklasse der westlichen Länder kein politischer Protagonist des Allgemeinbegriffs vom Menschen war, sondern immer mehr zur Verteidigerin ihrer Partikularinteressen wurde. Es zeigt sich heute im begrenzten Wirkungsrahmen der Gewerkschaften, die sich schwer tun, die Arbeitslosen wirksam zu vertreten. Dennoch ist die schon lange notwendig gewordene Neuformulierung der Antithese des Kapitalismus nicht weit von Marx entfernt: sie wird verkörpert von all denjenigen, die nur vom Einsatz ihrer Arbeitskraft leben können und deshalb um die Kontrolle und gerechte Teilhabe an Produktion und Konsumtion kämpfen müssen. Nicht umsonst hat das neoliberale Denken ausgerechnet im Zeitalter der Vollautomation die Diskussionen um die technische Rationalisierung und darüber, wer davon profitieren sollte, vollkommen einschlafen lassen. Bislang wird diese großartige Rationalisierung, die den Übergang der Menschheit zu einer ganz neuen Ära der Freiheit markieren könnte, ganz einseitig von der Kapitalseite instrumentalisiert, um immer mehr Menschen von der Teilhabe an Produktion und Konsumtion auszugrenzen. Der heutige Stand der technischen Rationalisierung könnte aber nicht nur ein menschenwürdigeres, sondern auch ein qualitativ wesentlich besseres Leben für alle ermöglichen.

Zu den wichtigen theoretischen Quellen, die für die Überwindung der neoliberalen Staatszerstörung zur Verfügung steht, gehört das hegelianische Erbe, das den Staat als demokratisch kontrollierte Solidargemeinschaft institutionalisieren will.

[1] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, Frankfurt am Main u.a. 2000 (Erstveröffentlichung 1992), 438 Seiten. Im Folgenden zitiert als L.

[2] Sanfedistische Banden: „sanfedistisch“, abgeleitet von ‚santa fede‘: terroristisch vorgehende Gotteskrieger im Kampf gegen die sich am revolutionären Frankreich orientierende Regierung.

[3] Berry, Charles Ferdinand de Bourbon (1778-1820), seine Ermordung provozierte die Rückkehr zu einer autoritären Politik.

[4] Hier und im Folgenden: L, 70-71.

[5] Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Leipzig 1930, S. 902. L: 135.

[6] Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt/Main 1969-1979, IV, S. 507.

[7] Hegel, Enzyklopädie, § 433 Z.

[8] L: 133.

[9] Ebenda, S. 339-342.

[10] Der liberale Allgemeinbegriff vom Menschen und seinen Rechten fokussiert nicht zufällig im Recht des Ungeborenen auf Leben. Es ist nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich hier um ein Recht handelt, das z. B. die Antike noch nicht kannte, die dagegen jedem pater familias das Recht zusprach, Nachkommenschaft zu töten, wenn er sie nicht ernähren konnte bzw. wollte. Ein Recht auf Leben des Ungeborenen wurde religiös festgeschrieben erst mit dem wachsenden Bedarf der Obrigkeit nach Soldaten. Es wächst unangefochten in den Frühkapitalismus hinein, u.a. auch, um den Preis der Arbeitskräfte möglichst gering zu halten.

[11] Hegel, Werke in zwanzig Bänden, a.a.O., III, S. 315.

[12] Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819-20 in einer Nachschrift, hg. v. D. Henrich, Frankfurt a. M., 1983; II, S. 489.

[13] Ebenda, III, 400.

[14] Hegel, Philosophie des Rechts, a. a. O., III, S. 700.

[15] L: 279-280.

[16] L:248-251.

[17] Hegel, Philosophie des Rechts, a. a. O., IV, S. 157.

[18] L: 246.

[19] L: 226, 282.

[20] Hegel, Jenaer Systementwürfe III, S. 252. L:249.

[21] Hegel, System der Sittlichkeit, Hamburg 1967, S. 84-85.

[22] Hegel, Werke, a. a. O., I, S. 538. L: 249.

[23] L: 263.

[24] Zit. nach L: 250.

[25] L: 110.

[26] L: 267.

[27] L: 230-231.

[28] L: 244, 251.

[29] A. de Tocqueville, Anmerkung von der Englandreise im Jahre 1833, in: Voyages en Angleterre, Irlande, Suisse et Algérie, S. 42. L: 252.

[30] Zum Thema des Staates als Repressions- und Sozialstaat von Marx bis Gramsci vgl. auch Domenico Losurdo, Der Marxismus Antonio Gramscis. Von der Utopie zum ‚kritischen Kommunismus‘, Hamburg 2000.