China-Studien

Ein anregender Beitrag zur Sozialismus-Debatte in der VR China

März 2006

Anfang der 1990er Jahre hatte die KP Chinas unter dem Einfluss Deng Xiaopings ihre Strategie zur Modernisierung des Landes grundlegend verändert. Zwei Überlegungen spielten dabei eine wesentliche Rolle: Der Kapitalismus hatte in der wissenschaftlich-technischen Revolution seine klare Überlegenheit über den „realen Sozialismus“ bewiesen. Vor diesem Hintergrund kam die chinesische Führung zu der Einschätzung, dass das Kapital anscheinend auf absehbare Zeit nach wie vor über einen ausreichenden Spielraum verfügt, seine Widersprüche in Triebkräfte für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zu verwandeln.[1] Hatte die Partei in ihrer Reform- und Öffnungspolitik bis dahin eine Art chinesischer NÖP zu praktizieren versucht, so setzte sie jetzt voll auf die Nutzung des hochentwickelten internationalen Kapitals und seiner Mechanismen (Marktwirtschaft). Mit der Umsetzung dieser Strategie haben sich in der VR China neue ökonomische und soziale Strukturen herausgebildet, die eine unverkennbar kapitalistische Einfärbung aufweisen. Damit ist auch eine entsprechende pluralistische Interessenlage entstanden, die zunehmend durch den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital geprägt ist. Diese widersprüchliche Interessenlage widerspiegelt sich heute in vielschichtigen Auseinandersetzungen über die weitere Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes. Die ideologisch-politische Streit wird vor allem zwischen den „Neuen Linken“, die sich gegen eine ungezügelte Marktwirtschaft wenden, das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit einfordern und auf die Verbesserung der sozialen Lage der breiten Volksmassen drängen, und den prokapitalistischen Neoliberalen geführt. Vor diesem Hintergrund verbreiten sich konvergenz-theoretische Positionen, die in der Verbindung von Kapitalismus und Sozialismus den „neuen Sozialismus“ unserer Zeit sehen.[2]

Vor kurzem ist in der VR China ein Buch in zweiter Auflage erschienen, das aus marxistischer Sicht in die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Gestaltung des Sozialismus im „Reich der Mitte“ eingreift. Der Autor, Professor Dr. Zhang Guangming, erweist sich erneut als ein profunder Kenner der Lehre von Karl Marx und der Geschichte der internationalen sozialistischen Bewegung. Die Publikation ist ein Ergebnis schöpferischer Anwendung des historischen Materialismus. Sie ist wissenschaftlich fundiert, theoretisch anregend, kennt keine Tabus und zeichnet sich durch eine eigenständige Handschrift aus.

Der Autor wählt als Ausgangspunkt die originären Ideen von Marx und Engels über den Sozialismus und damit auch die aus der Sicht des klassischen Marxismus unverzichtbaren materiellen und geistigen Voraussetzungen für den Sozialismus. Sie sind für ihn das Kriterium, das er in den nachfolgenden Untersuchungen an die auf Marx und Engels folgenden Geschichte der sozialistischen Idee im sich entwickelnden kapitalistischen Westeuropa des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts (Kapitel 1), in Russland vor und nach der Oktoberrevolution (Kapitel 2) und in China bis zu den 1990er Jahren (Kapital 3) anlegt. Zhang zeichnet ein anschauliches Bild über die historische Evolution der sozialistischen Idee, die sich in vielschichtigen und komplizierten Ursache-Wirkungs-Beziehungen auf der Grundlage letztlich prägender objektiver historischer Gesetze vollzogen hat und vollzieht. Aufgezeigt werden diese Beziehungen z.B. an dem Zusammenhang zwischen dem neuen Aufschwung des westeuropäischen Kapitalismus im Gefolge der zweiten industriellen Revolution seit Ende des 19. Jahrhunderts und dem Aufkommen des Reformismus in der westeuropäischen Arbeiterbewegung.

Aus der Fülle der vom Autor in dieser Veröffentlichung behandelten Probleme kann ich nur einige mir besonders wichtig und interessant erscheinende herausgreifen.

Fähigkeit des Kapitals, sich selbst zu regulieren

Das eigentliche Anliegen des Autors zeigt sich bereits an seinem Zitat aus dem bekannten Theorem von Karl Marx in der „Kritik der Politischen Ökonomie“. Er wählt nicht den Teil aus, der vom Eintreten in die Epoche sozialer Revolutionen handelt, sondern den folgenden Abschnitt: „Eine Gesellschaftsform geht nie unter, bevor die Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und höherer Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“[3] Zhang verficht die generelle Gültigkeit der Lehre von Marx und sieht im historischen Materialismus das wissenschaftliche Instrument für seine Forschung. Marx und Engels hätten jedoch die Fähigkeit des Kapitalismus, sich selbst zu regulieren und zu entwickeln, ebenso unterschätzt wie die damalige Fähigkeit der sozialistischen Bewegung überschätzt; denn der Kapitalismus zur Zeit von Marx und Engels habe sich erst in einem historisch frühen Stadium seiner Entwicklung befunden. Auch heute, im Stadium seiner Reife, verfügt der Kapitalismus nach Zhang nach wie vor über die Fähigkeit, seine Widersprüche in Triebkräfte für die Entwicklung der Produktivkräfte umzuwandeln. „Wir dürfen definitiv davon ausgehen, dass unter diesen Bedingungen es zumindest in absehbarer Zukunft zu keiner grundsätzlichen Wandlung kommen wird.“ (S.79) Nun ist diese Fähigkeit dem heutigen Kapitalismus prinzipiell kaum abzusprechen. Man könnte hier z.B. auf den „nachholenden“ Wirtschaftsboom Chinas verweisen. Diese Fähigkeit scheint mir jedoch mehr denn je relativ zu sein. Sie wird zum einen nicht durch die gesamtgesellschaftlichen Interessen, sondern schon immer durch die Macht- und Verwertungsbedingungen des Kapitals bestimmt. Sie sollte zum anderen heute, in der globalisierten Welt, vor allem an den Existenz- und Entwicklungserfordernissen der gesamten Menschheit gemessen werden. Beide Kriterien besagen, dass die besagte Fähigkeit des Kapitals in der Gegenwart erheblich eingeschränkt ist. Davon zeugen z.B. die permanente Ausgrenzung beträchtlicher Teile der Hauptproduktivkraft in den kapitalistischen Ländern aus dem Erwerbsleben, die Verarmung großer Teile der Dritten Welt und die zunehmende ökologische Bedrohung der Existenz der Menschheit. Davon zeugen letztlich auch die sich auf diesem Hintergrund entwickelnden verschiedenartigen Bewegungen, die sich objektiv zumindest gegen die ungezügelte Herrschaft des Großkapitals richten.

Sozialistische Revolution unter mangelnden Voraussetzungen

Der Autor greift dann am Beispiel Russlands und Chinas ein theoretisch wie praktisch bedeutendes historisch-gesellschaftliches Phänomen auf, das sich seit 1917 nicht nur in Ländern des Ostens verbreitetet hatte. Es handelt sich um eine „sozialistische Revolution“ unter den Bedingungen fehlender bzw. weitgehend fehlender materieller und geistiger Voraussetzungen für den Sozialismus, verbunden mit der Strategie, das Entwicklungsstadium der kapitalistischen Gesellschaft auszulassen und unmittelbar zum Sozialismus überzugehen („Sprung“-Theorie).[4] Im Unterschied zur Vorhersage von Marx und Engels entwickelte sich die Möglichkeit politischer sozialistischer Revolutionen bekanntlich nicht im Westen, sondern in den Länden des Ostens. Die historischen Bedingungen und Aufgaben dieser Länder, die bis auf das anfänglich kapitalistisch entwickelte Russland rückständige Agrarländer waren, unterschieden sich jedoch, wie Zhang vermerkt, grundsätzlich von denen des kapitalistisch industrialisierten Westens. Als sie durch den kapitalistischen Westen in die Weltpolitik hineingestoßen wurden, fehlten ihnen bzw. fehlten ihnen weitgehend die erforderlichen materiellen wie geistigen Voraussetzungen für den Übergang zum Sozialismus, wie sie im klassischen Marxismus skizziert worden waren. „Sobald der Sozialismus (die sozialistische Idee – H.P.) hier Tritt fasste, musste er daher in der Realität unvermeidlich einen Weg beschreiten, der sich von der theoretischen Vorhersage deutlich unterschied.“ (S.83) Die Länder des Ostens fanden zu dieser Alternative durch den Leninismus und das Beispiel Sowjetrusslands. „Die Ideologie wurde in diesem Wandel zur entscheidenden Kraft.“(ebd.) Das waren in Russland der Leninismus und in China die Ideen Mao Zedongs.

In diesem Zusammenhang entwickelte sich die Vorstellung, dass es möglich wäre, die Phase der Entwicklung des Kapitalismus zu überspringen und direkt zum Sozialismus überzugehen. Zhang findet diesen Gedanken zunächst bei Tschernyschewski. Dieser russische revolutionäre Demokrat glaubte, dass die Bauernrevolution über die russische Dorfkommune unmittelbar in den Sozialismus führen würde. Diese Theorie des Sprunges, die von einem Teil der nachfolgenden russischen Narodniki kultiviert wurde, sieht Zhang angesichts der Rückständigkeit des Landes als Reaktion russischer Intellektueller auf den westlichen Sozialismus. Im Meinungsaustausch mit ihnen befassten sich auch Marx und Engels mit dieser Möglichkeit. Sie kamen zu der Ansicht, „dass Russland unter bestimmten Bedingungen (hervorgehoben durch mich – H.P.), ohne das kapitalistische Stadium zu durchlaufen, direkt zum Sozialismus übergehen könnte“ (S. 93).[5] Im Unterschied zu den Narodniki, betont der Autor, hätten Marx und Engels nämlich einen solchen „Sprung“ von einer für das Gemeineigentum der Dorfkommune noch rechtzeitigen sozialistischen Revolution in den führenden kapitalistischen Ländern Westeuropas (und damit faktisch ihrer Hilfe für die Schaffung der erforderlichen materiellen und geistigen Bedingungen) abhängig gemacht. Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland und das Ausbleiben der sozialistischen Revolution in Westeuropa beließen es bei diesem Gedanken.

Nach Ansicht des Autors bewirkte die Strategie Lenins, dass der russische Sozialismus angesichts dessen, dass der russische Kapitalismus „das Reifestadium des Kapitalismus noch nicht durchschritten hatte und rückständig war“, auf den Weg der Entwicklung durch einen revolutionären Sprung zurückkehrte. Dabei misst er der Neuen Ökonomischen Politik vom Standpunkt des historischen Materialismus entscheidende Bedeutung bei. Lenin sei dialektisch an die Tatsache herangegangen: Erst die Macht erobern, dann auf der Grundlage der Sowjetmacht der Arbeiter und Bauern die materielle und kulturelle Rückständigkeit des Landes überwinden. Die Wertung Zhangs: „Damit verstieß er nicht nur nicht gegen die historischen Gesetze, sondern er bereicherte sie noch“ (S.149). Lenin hätte dabei bis zuletzt an seiner Überzeugung festgehalten, dass der künftige Sieg des Sozialismus durch die sozialistische Revolution in Westeuropa entschieden wird. Im ursprünglichen Sinne ist das eigentlich mehr eine Strategie „nachholender Entwicklung“ denn eine des so genannten revolutionären Sprunges. Zhang lässt offen, wie er unter diesem Gesichtspunkt die nachfolgende Entwicklung der Sowjetunion auf der Grundlage der These Stalins über den „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ und der Herausbildung und Entwicklung seines Sozialismus-Modells wertet. Zwei Aspekte scheinen mir dabei wert, erwähnt zu werden. Zum einen vertritt Zhang die Meinung, dass eine Entwicklung der Sowjetunion auf der Grundlage des Modells Bucharins (nach einem theoretischen System, das mit der ökonomischen Theorie von Marx übereinstimmte) das weitaus bessere für das Land gewesen wäre. Zum anderen betrachtet er das Modell Stalins differenziert. Es habe einerseits die Modernisierung des Landes gefördert und damit die Grundlage für den Aufstieg der Sowjetunion nach dem Krieg zur einer Supermacht gelegt. Andererseits wäre es als ein komplexes Modell des Sozialismus vollständig und gründlich gescheitert. Es wäre konservativ und ohne Lebenskraft gewesen, hätte sich nicht selbst regulieren können, die Volksmassen in ihrer Aktivität gebremst und die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zunehmend gehemmt.

Der chinesische Sozialismus unter Mao

Zhang schließt sich der in der chinesischen Literatur allgemein vertretenden Auffassung an, dass der Sieg des Leninismus in Russland (als Anwendung des „westlichen Marxismus“ unter den dortigen Bedingungen) den Sozialismus in China auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Dazu macht er vier Anmerkungen, die für das Verständnis der chinesischen Entwicklung wesentlich sind:

1. Der Sozialismus wurde von Anfang an „als ein Mittel betrachtet, um im Prozess der Modernisierung des rückständigen China die kapitalistische Entwicklung zu vermeiden“ (S. 197).

2. Die chinesischen Sozialisten gelangten über den Leninismus zum Verständnis des Marxismus. Leninismus und Marxismus waren für sie identisch. „Der Leninismus war von Anfang an stets die durch nichts zu erschütternde Hauptströmung im chinesischen Sozialismus“ (S. 202).

Leider unterschiedet der Autor hier zunächst nicht zwischen dem originären Leninismus und demjenigen Stalinschen Zuschnitts; denn der Einfluss Stalins auf die sozialistische Bewegung Chinas war schon vor 1949 beträchtlich (u. a. Unterschätzung des feudalen Einflusses, Charakter der Revolution; vergl. Maos Schriften über die Neue Demokratie 1939/40). Zhang unterscheidet zwischen beiden Leninismen in der Sache erst für die Zeit nach der Übernahme des sowjetischen Modells durch die VR China.

3. China unterschied sich als rückständiges Agrarland erheblich auch gegenüber Russland. Dennoch erfolgte die Anpassung des Leninismus an die chinesischen Gegebenheiten („Sinisierung“) durch die KPCh erst relativ spät im Verlaufe des Antijapanischen Krieges (1937-45). Diese Anpassung drückt sich in den „Ideen Mao Zedongs“ aus.

4. In der KPCh fanden von der marxistischen Theorie nicht die Ökonomie, sondern der Klassenkampf, nicht die Gesetze der historischen Entwicklung, sondern Widerspruch und Kampf das größte Augenmerk. Stark betont wurden ferner die Rückwirkung der Ideologie, die Rolle der Ethik und der Moral (dem Volke dienen, keine Opfer scheuen...) und die bewusste Übereinstimmung mit den nationalen Traditionen in Sprache und Form ( z.B. wichtig für die Mobilisierung der Bauern als Hauptkraft der Revolution).

Es war vor allem Mao Zedong, der nach den gescheiterten Versuchen, die bolschewistische Strategie und Taktik in Russland einfach auf China zu übertragen (Aufstände in den Städte, Sowjetbewegung, von 1927 bis Mitte der 1930er Jahre), eine eigenständige Strategie und Taktik der KPCh entwickelte - Umzingelung der Stadt und Befreiung der Stadt vom Dorf her („Bauern befreien die Arbeiterklasse“). Zhang sieht deshalb den „größten Beitrag der sozialistischen Revolution Chinas[6] tatsächlich nicht im Bereich der grundlegenden Theorie, sondern in der Taktik zur Eroberung der Macht“ (S.225). Für ihn gehören die Ideen Mao Zedongs „zum Stammbaum der Entwicklung des Sozialismus von Marx“ (ebd.), auch wenn sie sich in einigen wichtigen Seiten vom klassischen Marxismus unterscheiden würden. Das würde ich ingesamt kritischer und differenzierter sehen. Zhang schreibt selbst, dass der chinesische Sozialismus in der Zeit Maos sich nicht wesentlich vom dem in der Sowjetunion unter Stalin unterschied. Zu diesen „wichtigen Seiten“ gehören auch der Versuch, mit der Armut als Triebkraft aus der Rückständigkeit in den Kommunismus „zu springen“ (großer Sprung, Volkskommune als „goldene Brücke in den Kommunismus“) und die bürgerkriegsähnliche „Kulturrevolution“ als Instrument zur Ausschaltung der Opposition gegen die Wiederaufnahme dieses Kurses. Das betrifft ferner die forcierte formale „Übervergesellschaftung“ des Eigentums an Produktionsmittel (Verstaatlichung) von 1953-57 auf der Grundlage unverändert rückständiger Produktivkräfte. Das alles war, um die Worte Zhangs zu benutzen, „ein Verstoß gegen die Gesetze der historischen Entwicklung“ und damit eine Verletzung des „methodologischen Grundprinzips des historischen Materialismus“ (S.101). Hierin fügt sich dann auch die Charakterisierung Maos am Ende der 1950er Jahre durch den Autor als eines Führers ein, der seine Fehler nicht anerkannte und sich vehement gegen die Kritik seiner Person wandte. „Der seit vielen Jahren betriebene Personenkult um den Führer bewirkte, dass Mao Zedong bereits daran gewöhnt war, sich selbst als die einzige Verkörperung des Marxismus zu betrachten. Er duldete keine Abweichung von seiner Linie.“ (S. 241)

Problem der Demokratisierung im Prozess der
chinesischen „Reform und Öffnung“

Mit ihrer Reform- und Öffnungspolitik begann die KPCh Ende der 1970er Jahre, einen grundsätzlich neuen Weg der Industrialisierung und Modernisierung des Landes zu beschreiten. Für Zhang ist dieser neue Anfang das „Ergebnis einer langen Evolution des Weltsozialismus“, die „an der reinen Theorie gemessen das vom klassischen Marxismus Vorgegebene bei weitem übertrifft“ (S.256). Der Autor kennzeichnet diese Reform- und Öffnungspolitik als „eine Bewegung der allmählichen Selbsterneuerung, die von der regierenden Partei und der politischen Macht initiiert wurde, von oben nach unten verläuft und deren entscheidende anfängliche Schubkraft aus der oberen Schicht kam“ (S.254). Deng Xiaoping gilt als der Begründer dieses neuen Kurses und die „Theorie Deng Xiaopings“ als der Wegweiser auf diesem Weg. Zhang hingegen betrachtet Deng weniger als Theoretiker denn als Staatsmann, der veraltete Theorien und Auffassungen beiseite räumte und veranlasste, dass Politik und Ideologie der Partei in Übereinstimmung mit den nationalen Gegebenheiten und den objektiven Erfordernissen der Modernisierung gebracht wurden.

Das Grundproblem, das den Autor in diesem letzten Abschnitt seiner Untersuchung überaus stark beschäftigt, ist die Frage, wie das traditionelle System des „realen Sozialismus“ sowjetischer Prägung endgültig überwunden und ein von den breiten Volksmassen getragener Sozialismus geschaffen werden kann. Die Kernfrage ist für ihn dabei die Überwindung des Systems der hochzentralisierten politischen Macht. Allein „oben“ gefasste Beschlüsse über eine Reform der politischen Macht würden nichts verändern können. Es bedürfe daher (vor allem) „einer objektiven Kraft, die bewirkt, dass der gesellschaftliche Fortschritt nicht erneut von der Politik einer Minderheit, sondern von den gesellschaftlichen Gruppen bestimmt wird. Erst dann kann der Sozialismus wirklich zur Sache der breiten Masse des Volkes werden“ (S.258). Diese objektive Kraft ist für ihn die Marktwirtschaft.

Die Analyse der Marktwirtschaft durch Marx und Engels sei nach wie vor gültig. Unter dem Gesichtspunkt des historischen Materialismus sei die Durchsetzung der Marktwirtschaft in China jedoch ein historischer Fortschritt. Sie schaffe nicht nur die unverzichtbaren materiellen und kulturellen Bedingungen für den künftigen Sozialismus. Daneben werde das Erstarken der Marktwirtschaft bewirken, dass „die Regierung nicht umhin kommt, ihre Funktionen entsprechend den Erfordernissen des Marktes zu verändern, und die besondere Macht, die über der Gesellschaft thront, allmählich unter die Kontrolle der Gesellschaft gestellt wird“ (S.266). Die Gesellschaft werde in diesem Prozess gegenüber der politischen Macht „selbstständig“, begleitet von Forderungen nach Demokratisierung, denen nicht zu widerstehen sein wird. Das setze einen Prozess in Gang, der sich „von unten nach oben entwickelt und die Entwicklung der politischen Demokratie und einer auf Gesetzen beruhende Regierung in ihrer Entwicklung voranbringt“ (ebd.). Noch seien die Warenwirtschaft und damit die Demokratie in China unzureichend entfaltet, und ihre Entwicklung stießen auf große Hindernisse. China habe jedoch einen - sicherlich langen – Weg beschritten zum Aufbau einer „Macht, die in Überstimmung mit Marx wirklich von der breiten Masse des Volkes ausgeübt wird und die garantiert, dass die breite Masse des Volkes nicht nur im politischen, sondern auch im wirtschaftlichen und sozialen Sinne das uneingeschränkte Recht auf eigenen Entscheidung hat“ (ebd.).

Zhang sieht hierin die einzige Möglichkeit, unter den heutigen Gegebenheiten Chinas die Vorstellungen über den Sozialismus im klassischen Marxismus in seinem Land letztlich zu verwirklichen. Für ihn ist es das erste Mal, dass in der Geschichte des Sozialismus eine gesellschaftliche Entwicklung von den sozialistischen Ideen im klassischen Marxismus geleitet wird.

Der Kern der eigentlichen Aussage, die der Autor im letzten Abschnitt seines Buches trifft, sind für mich folgende Gedanken: Nach der Lehre von Karl Marx mangelt es in der VR China bis heute an den für den historischen Übergang zum Sozialismus objektiv erforderlichen materiellen und kulturellen (geistigen) Voraussetzungen. Die Praktizierung des Stalinschen Sozialismus-Modells, insbesondere des traditionellen Systems der Machtkonzentration, stand bisher einer grundlegenden Lösung dieser Aufgabe entgegen. Deshalb bedarf es vor allem einer umfassenden Durchsetzung der universellen Marktwirtschaft (Warenwirtschaft) und damit verbunden einer demokratischen Bürgergesellschaft. Der Sache nach vollzieht sich damit für den Autor im heutigen China eine kapitalistische Entwicklung. Er wertet dies unter den gegebenen Verhältnissen generell als einen historischen Fortschritt für sein Land, als eine unvermeidbare Zwischenphase auf dem Weg zu einem Sozialismus Marxscher Prägung.

In der allgemeinen Wertung der gegenwärtigen Entwicklung der VR China in Richtung auf eine bürgerliche Gesellschaft stimme ich mit Professor Zhang überein. Dann scheinen sich unsere Ansichten zu differenzieren. Unter den gegenwärtigen inneren und äußeren Entwicklungsbedingungen Chinas muss sich meines Erachtens nicht unbedingt eine Gesellschaftsordnung entwickeln, die - abgesehen von deutlichen nationalen Besonderheiten – wie ein Ei dem anderen den kapitalistischen Verhältnissen in den USA, in den westeuropäischen Staaten und Japan gleicht. Ich schließe nach vor nicht aus, dass sich unter Führung der KP auch eine Art national-demokratische Gesellschaft (mit starken Elementen des nationalen Kapitalismus) im Sinne einer allseitigen Vorbereitung auf den späteren (neuen) Übergang zum Sozialismus gestalten lässt. Dafür sehe ich jedoch zwei grundlegende innere Voraussetzungen: zum einen die strategische Organisierung und umfassende Mobilisierung des sozialistischen Potenzials und zum anderen die in die sozialistisch orientierte Entwicklung integrierte Aneignung des zivilisatorischen Fortschritts der Menschheit seit der Französischen Revolution (historisch „nachholende“ Entwicklung). Eine dadurch geprägte bürgerlich-demokratische Entwicklung Chinas wäre für dieses Land auch für mich progressiv. Ich sehe natürlich auch, dass es gegenwärtig um diese beiden Voraussetzungen nicht sehr gut bestellt ist. Nachzugehen ist überdies der Frage, ob eine solche progressive gesellschaftliche Entwicklung angesichts dessen, dass sich die entwickelnde Weltmacht China in den kapitalistischen Weltprozess voll zu integrieren scheint, überhaupt möglich ist. In diesem Sinne halte ich es nach wie vor für offen, in welche der oben skizzierten beiden Richtungen sich die gesellschaftliche Entwicklung Chinas vollziehen wird.

Es wäre zu wünschen, dass sich eine breite Diskussion über die vorgelegten Forschungsergebnisse entwickelt, die dem Autor neue Anregungen für seine weiteren Untersuchungen vermittelt.

[1] Deng Xiaoping hatte im Frühjahr 1990 die Auffassung geäußert, dass der heutige Kapitalismus durch die Fähigkeit, sich selbst regulieren zu können, noch über einen erheblichen Spielraum für seine Entwicklung verfüge.

[2] In den gegenwärtigen Auseinandersetzungen artikulieren sich auch maoistisch-konservative Positionen der so genannten Alten Linken. Sie finden ihren Nährboden in den scharfen gesellschaftlichen Widersprüchen und in der von breiten Teilen des Volkes empfundenen ausgeprägten sozialen Ungerechtigkeit.

[3] Karl Marx, Kritik der Politischen Ökonomie, MEW, Bd. 3, S. 8f.

[4] In das Kapitel dieser Art „sozialistischer Revolution“ gehört m.E. auch die überwiegende Mehrheit der Staaten des „realen Sozialismus“, die sich nach 1945 in Osteuropa herausbildeten.

[5] Diese Meinungsäußerung ist, wie Zhang schreibt, in China seit den 1980er Jahren dazu benutzt worden, um nachzuweisen, dass Marx diesen historischen „Sprung“ Russlands und des gesamten Ostens nicht nur bejaht, sondern auch als Grundprinzip formuliert hätte.

[6] Zhang folgt hier der offiziellen Version, die in den 1950er Jahren aufkam. Die siegreiche Revolution von 1949, die hier gemeint ist, war aus meiner Sicht jedoch noch keine sozialistische, generell gegen den Kapitalismus gerichtete Revolution. Sie war vielmehr auf die Beseitigung der im wesentlichen vorkapitalistischen (feudalen) und halbkolonialen Gesellschaftsverhältnisse gerichtet und sollte ursprünglich als neudemokratische Revolution die materiellen und kulturellen Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus in China schaffen (siehe Minimalprogramm der KPCh von 1945).