Lateinamerika – Krise neoliberaler Hegemonie?

Reflexionen zur „neoliberalen Hegemonie" in Lateinamerika

September 2005

„Überlebte Gesellschaften pflegen langsam zu sterben. Selbst wenn sie keine Kraft mehr besitzen, halten sie sich noch lange, und das Geflecht ihrer Wurzeln behindert das Wachstum neuer Triebe. Diese Konfrontation zwischen Altem und Neuem bedarf der sorgfältigen Untersuchung, denn sie enthüllt die wahre Identität sowohl der untergehenden wie der heraufziehenden neuen Zeit.“

(Der französische Mediävist Guy Bois in seinem Buch „Umbruch im Jahr 1000“, München 1999: 16)

1.

Die ökonomische und politische Entwicklung in Lateinamerika seit etwa 2001/02, speziell der Regierungsantritt verschiedener Mitte-Links-Regierungen (Argentinien, Brasilien, Uruguay und schon seit 1999 Venezuela) hat die Frage aufgeworfen, ob es dort zum Niedergang, Verfall oder gar dem Ende der neoliberalen Hegemonie gekommen ist; des Weiteren ist ungeklärt, wie die dort sich abzeichnende oder weiter zu erwartende Entwicklung zu beurteilen ist. Entspricht der mehr oder minder anti-neoliberale Diskurs dieser Regierungen den von ihnen durchgeführten politischen Maßnahmen? In welchem Verhältnis stehen Momente der Kontinuität zu solchen der Diskontinuität?

Diese Fragen erweisen sich bei näherem Hinsehen als relativ komplex und sind in dieser Allgemeinheit und ohne Vorklärungen kaum zu beantworten. Abgesehen von der immer zu beachtenden Länderspezifik sind auch viele begriffliche und theoretische Probleme in diese Fragen eingeschlossen. Zunächst müsste darüber nachgedacht werden, was wir unter „neoliberaler Hegemonie“ verstehen wollen. Überdies müsste darüber reflektiert werden, was „Hegemonie“ in einem peripheren Land – ohne ausgebildete, historisch gewachsene zivile Gesellschaft (im Sinne Gramscis) – bedeuten könnte. Des Weiteren ist die zeitliche und räumliche Variabilität von neoliberaler Hegemonie zu reflektieren, die ja auch unterschiedlich intensiv und tief verankert ist. Schließlich ist die historische Tatsache zu bedenken, dass in der Peripherie bislang nie ein Paradigmenwechsel oder Hegemoniewandel ohne entsprechende vorgängige Prozesse in den Metropolen stattgefunden hat (siehe 1870/80, 1930ff., 1982ff.).[1]

2.

Bei hegemonietheoretischen Untersuchungen zu Lateinamerika sind vor allem drei Punkte von zentraler Bedeutung:

Zunächst beeinflusst die (semi-)periphere Position des Subkontinents im globalen Kapitalismus maßgeblich die Herstellung und Ausübung von Hegemonie. Hierbei lassen sich verschiedene Dimensionen ausmachen: Erstens wird die wirtschaftliche Entwicklung in der lateinamerikanischen (Semi-)Peri­pherie stark von den ökonomischen Abhängigkeitsmustern, etwa den tendenziell sich verschlechternden terms of trade, der technologischen Abhängigkeit von den Zentren und der ökonomischen Durchdringung des Subkontinents durch ausländische transnationale Konzerne, aber auch neue Formen der Dominanz der internationalen Finanzmärkte oder der Festschreibung von Wirtschaftsstrukturen durch internationale Handelsverträge, wie der geplanten panamerikanischen Freihandelszone ALCA beeinflusst. Zum anderen spiegelt sich diese ökonomische Abhängigkeit in der Herausbildung von spezifischen (transnationalisierten) Klassenfraktionen wider, die wie bereits Fernando Henrique Cardoso und Enzo Faletto (1976: 31) treffend anmerkten, maßgeblich von der vorherrschenden Einbindung in den Weltmarkt profitieren und damit zu Garanten der Festschreibung der semiperipheren Position der lateinamerikanischen Volkswirtschaften werden.

Außerdem wird gerade dieser Prozess der Transnationalisierung von Klassenstrukturen von einer gewissen Internationalisierung und Transformation von Staatlichkeit in der Peripherie begleitet, welche seit den späten 1980er Jahren eine neue Qualität erreicht hat. Vor allem Institutionen wie der IWF, die WTO oder die Weltbank gewannen eine neue Bedeutung als wichtige Regulierungsinstanzen der Weltwirtschaft, die einen großen Einfluss auf die Gestaltung der internen Wirtschaftspolitik (semi-)peripherer Länder besitzen. Diese Institutionen können als eine über den Nationalstaaten angesiedelte Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse „zweiten Grades“ begriffen werden (Brand 2005: 53), in denen die Zentrenstaaten eine klare Vormachtstellung besitzen. Auf diese Weise dienen sie als ein Rückzugspunkt für die Durchsetzung der Interessen der dominanten Sektoren in Lateinamerika. Denn falls sich die sozialen Kräfteverhältnisse auf der nationalen Ebene in den einzelnen lateinamerikanischen Gesellschaften verschieben sollten, bleiben die Machtrelationen in den supra- bzw. multinationalen Organisationen oftmals unangetastet. Hiermit verbindet sich ein weiterer Punkt: die internen Kräfteverhältnisse in den Zentren stecken infolge der ökonomischen sozio-strukturell/ institutionell vermittelten Abhängigkeit die Rahmenbedingungen der Entwicklungsweise der lateinamerikanischen Länder ab.

Darüber hinaus artikuliert sich die (semi-)periphere Position Lateinamerikas im globalen Kapitalismus in einer charakteristischen Sozialstruktur, die mit der Marginalität großer Teile der Einwohner des Subkontinents einhergeht. Die Marginalität ist die Folge eines komplexen Gesamtensembles verschiedener Produktions- und Subsistenzformen, die nebeneinander existieren und miteinander korrespondieren. Diese „strukturelle Heterogenität“ (Córdova, 1973) spiegelt sich in einer Fülle von Widersprüchen wie der Koexistenz von hochentwickelten industriellen und marginalen Sektoren, einem ausgeprägten Stadt-Land-Gegensatz, hoher struktureller Arbeitslosigkeit und einer extrem ungleichen Einkommensverteilung wider. Diese spezifische Anatomie der lateinamerikanischen Gesellschaftsformationen zieht wichtige Implikationen für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Hegemonie nach sich. Denn der Block an der Macht gruppiert sich zwangsläufig primär um die integrierten Sektoren, wobei immer wieder populistische politische Anrufungen, etwa durch den Peronismus (1946-1955) oder Vargaismus (1937-1945) produziert werden, um Teile der marginalen Bevölkerungssektoren mittels materieller und ideeller Konzessionen temporär in den hegemonialen Block zu integrieren. Ferner führen die extrem ungleiche Einkommensverteilung und die damit einhergehenden sozialen Auseinandersetzungen fast regelmäßig zum Wiederaufleben repressiver Politikmuster wie es in der Hochphase der Militärdiktaturen während der 1970er Jahre zu beobachten war.

Zuletzt muss die Rolle einer für Lateinamerika typischen politischen Kultur erwähnt werden, die zwar auf der einen Seite in vielen Ländern, etwa in Bolivien oder Ekuador zu einem stetigen Wechsel von Regierungen infolge von sozialen Krisen und „golpes“ und „contra-golpes“ führt, aber paradoxerweise zur Stabilität der Hegemonie des Machtblocks beiträgt. Diese „Stabilität durch Instabilität“ scheint ein sich wiederholendes Muster in der politischen Kultur zu sein, bei dem soziale Widersprüche dahingehend bearbeitet werden, dass trotz massiven Protestes keine tiefgreifenden politischen Änderungen zu verzeichnen sind. Trotz häufiger Regierungswechsel werden die politischen Weichenstellungen nicht verändert – Hegemonie verfällt nur in der öffentlichen Meinung. Denn diese explosionsartigen sozialen Auseinandersetzungen binden sich oftmals nicht in institutionell-organisatorischen Formen, etwa parteiförmigen Strukturen, sondern entladen sich und führen lediglich, um einen Gramscianischen Terminus aufzugreifen, zur ständigen Wiederkehr einer „passiven Revolution“ im Sinne eines von oben eingeleiteten Modernisierungsprozesses des Staates. Die in der von der politischen Rechten dominierten politischen Kulturforschung immer wieder hervorgebrachten Argumente für eine Reform des politischen Systems oder des Rechtssystems oder der stärkeren Institutionalisierung von Partizipationsmöglichkeiten berühren daher durchaus reale Probleme auf dem Subkontinent, ohne jedoch die soziale Grundlage für diese Prozesse angemessen zu benennen und zu analysieren (Thesing, 1994). Für eine tiefergehende hegemonietheoretische Untersuchung muss deswegen im Auge behalten werden, dass nicht jede plötzliche, hurrikanartige soziale Auseinandersetzung – wie z.B. die heftigen Turbulenzen in Argentinien 2001/02 – als ein zuverlässiger Indikator für den Verfall von Hegemonie zu bewerten ist.

3.

Angesichts der internen und externen Umstände und Zeiträume bei der Etablierung der neoliberalen Hegemonie in Lateinamerika kann unseres Erachtens nur von einer relativ oberflächlichen und teilweise künstlichen Hegemonie, die eben nicht längerfristig und tieferliegend angelegt war – d.h. von zivilen, privaten Organisationen getragen und breit sozialisiert wurde – gesprochen werden. In Lateinamerika handelte es sich um einen von außen (im Gefolge der Schuldenkrise) angestoßenen Strategiewechsel in der allgemeinen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Orientierung auf höchster Ebene, der erst später propagandistisch, organisatorisch und politisch „nach unten“ diffundiert wurde. Bei der Herstellung eines „spontanen“ Konsens in der subalternen Bevölkerung haben Erziehungs- und Bildungsprozesse eine nicht unerhebliche Bedeutung (Bernhard 2005: 123), sie scheinen aber in Lateinamerika – außer in Chile – bei der Einführung des Neoliberalismus keine nennenswerte Rolle gespielt zu haben. Gerade der zuletzt genannte Fall weist insofern Besonderheiten auf als er a) in Lateinamerika eine Pionierrolle spielte, b) der Neoliberalismus nicht im Gefolge der Schuldenkrise, sondern nach einem blutigen Militärputsch gegen eine sozialistische Regierung zunächst „manu militari“ eingeführt wurde und er daher c) besonders breiter und intensiver Propagierungsmechanismen bedurfte (Fischer 2002: 225ff.).[2]

4.

Die Erlangung neoliberaler Hegemonie wurde erleichtert, weil die vorangegangene wirtschaftspolitische Grundstrategie erschöpft und korrumpiert erschien. Gelegentlich war sie sogar mit dem Odium autoritär-staatlicher bzw. diktatorischer Herrschaft verwoben. Neoliberale Politik wurde häufig als Befreiung von bürokratisch-staatlichen Fesseln, von Korruption und Vetternwirtschaft verkauft: wo nur die anonymen Gesetze des Marktes obwalten, könne es personale Herrschaft und Abhängigkeitsbeziehungen nicht mehr geben. Andererseits war die Präsenz des Staates im gesellschaftlichen und ökonomischen Bereich nicht durchweg negativ besetzt. Deswegen scheint es heute, im Rückblick, fraglich, ob man von einer wirklichen neoliberalen Hegemonie als Projekt sprechen kann, wenn man einen sehr weitgehenden und positiven Begriff davon besitzt. Wenn davon ausgegangen wird, dass Hegemonie mehr als nur die stillschweigende passive Einwilligung der Massen bedeutet und vielmehr die aktive Zustimmung und das selbstmotivierte Engagement der subalternen Klassen einschließt, dann erscheint es vielleicht fragwürdig, in Lateinamerika von einem neoliberalen, hegemonialen Projekt zu sprechen.[3] Unterstellt man, „dass politische, insbesondere ‚hegemoniale’ Projekte niemals nur auf materiell hergeleiteten Interessen und den rationalen Strategien sozialer Akteure beruhen“, sondern sie „immer auch Bedeutungen, Interpretationen, kulturelle Formen, Ideologien, subjektive Gefühle, Vorstellungen etc.“ umschließen (Bieling/Steinhilber 2000: 107), so ist es fraglich, ob in Lateinamerika diese „affektive Imagination“ oder dieser positive, motivierende soziale Mythos für die neoliberale Hegemonie in Lateinamerika eine derart konstitutive Rolle gespielt hat. Eine aktive Zustimmung und Propagierung von breiten Bewegungen für eine „neoliberale Revolution“ hat es zweifellos in Lateinamerika nicht gegeben[4]. So ist zu überlegen, ob der Begriff Gramscis von einer „passiven Revolution“ für den Übergang zum Neoliberalismus auch für Lateinamerika angemessen ist. „So bedeutet z.B. die ‚passive Revolution’ einen tiefgehenden Wandel der sozialen und ökonomischen Beziehungen, ohne dass ihm eine starke Volksbewegung vorangegangen wäre ... Konkret historisch kann eine ‚passive Revolution’ bei Gramsci aber recht verschiedene Wertungen erfahren. Als ‚passive Revolution’ ist z.B. der Fordismus nicht vollständig als ‚Restauration’ zu verstehen, da er auch sozialen Fortschritt produzierte.“ (Kebir 2004: 37). Passend ist für Lateinamerika aber durchaus ein (eher eingegrenzter) Hegemoniebegriff, der Hegemonie konstatiert, wenn die Vorstellung allgemein anerkannt ist, dass es zu der jeweiligen Form der Vergesellschaftung keine Alternative gäbe. Damit besteht Hegemonie nicht nur, wenn die Stabilität einer bestimmten Ordnung gegeben ist, sondern dann, wenn eine historische Konstellation in der Lage ist, der Bearbeitung von gesellschaftlichen Widersprüchen eine bestimmte Richtung und Form zu geben (Candeias 2004: 45).

5.

Das Element des „aktiven Konsenses“, die mythisch-affektive Verklärung eines Projekts – hier des neoliberalen – wurde nicht wirklich in den Köpfen und Herzen der Massen verankert; eine derartige Begeisterung für die neoliberale Wende war wohl zunächst nur bei neoliberalen Spitzen-Technokraten, bei relevanten Teilen der Export-Import-Bourgeoisie und der Finanzoligarchie zu verspüren. Zudem wurde die neoliberale Orientierung gewissermaßen konditioniert durchgesetzt in der Weise, dass eine materielle Besserstellung und Konsolidierung der Lebensverhältnisse in der Regel das unmittelbare Versprechen der neoliberalen Wende-Politiker war, wofür sich insbesondere die Bevölkerung des informellen Sektors empfänglich zeigten.

Man könnte auch argumentieren, dass ein aktiver Konsens oder eine enthusiastische Zustimmung zu den ersten makroökonomischen Stabilisierungsmaßnahmen nach der Verschuldungskrise kaum denkbar und nicht nötig war, da eine alternative Strategie zur Öffnung der Ökonomie und zur Exportorientierung nicht – jedenfalls innerhalb der nationalen und internationalen Kräfteverhältnisse von damals – zur Verfügung stand. Aus diesem Grund war die Einführung und Implementierung dieser ersten Phase der neoliberalen Reformen von der breiten Zustimmung der Bevölkerung weitgehend unabhängig. Zum anderen war es häufig so, dass nicht wenige zu Regierungschefs gewählte Politiker mit einem traditionellen, staatszentrierten Diskurs in den Wahlkampf gegangen waren, aber nach Beginn der Regierungstätigkeit einen diametral entgegengesetzten Kurs einschlugen (z.B. Fujimori, Menem, A. Perez etc.). Die zeitweise aufflammenden Proteste gegen diese Missachtung und Verhöhnung des Wählerwillens legten sich aber in den meisten Fällen bald, als die einzelnen neoliberalen Maßnahmen, z.B. bezüglich der Bekämpfung der Hyperinflation zu greifen begannen. Es war zugleich die große Stunde der Technokraten, die nun die vorderste Bühne der Politik betraten (Maihold 1999: 169f.). Dennoch wurden Politiker mit neoliberalem Kurswechsel meist einmal wiedergewählt; die für den Neoliberalismus charakteristische Marktkultur, wurde durchaus von vielen Mitgliedern der lateinamerikanischen Gesellschaften – wenn vielleicht auch nicht in us-amerikanischen und europäischen Dimensionen – übernommen.

6.

Die feste Etablierung und Aufwertung der Technokraten, vor allem im ökonomischen Bereich, und die damit einhergehende Hegemoniegewinnung des Neoliberalismus war u.a. dadurch vermittelt, dass in der Zeit nach dem Beginn der Verschuldungskrise und der Strukturanpassungsprogramme die neoliberalen Ökonome eine wichtige Scharnierfunktion zwischen internen gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen und den externen Instanzen einnahmen. Sie waren gewissermaßen lokale Garanten der Durchsetzung einer – auch und vor allem außerhalb Lateinamerikas (bei den multilateralen Finanzinstitutionen, den ausländischen Gläubigern etc.) geforderten – wirtschaftspolitischen Leitlinie (Silva 1998: 79). Zwar begann der Aufstieg der neoliberal orientierten Technokraten in einigen Ländern unter strengen diktatorischen Bedingungen (Chile, Uruguay, Argentinien). Im Diskurs über eine neutrale, technokratisch und rational zu implementierende Politik, die eigentlich Antipolitik (pragmatisch und nicht-ideologisch) ist, d.h. gerade gegen die traditionellen Politiker und politischen Ideologien gerichtet ist, und in der Forderung nach der Abgehobenheit der Exekutive der gesellschaftlichen Interessengruppen und Auseinandersetzungen – treffen sich die Militärmachthaber und Technokraten auf einem gemeinsamen Terrain. Insofern kann von einer „selektiven Affinität“ (Silva) zwischen Technokraten und Militärregimes gesprochen werden. Aber auch nach dem Übergang zu formellen Demokratien wurden nicht selten die neoliberalen Orientierungen und die sie implementierenden Technokraten in der Exekutive bestätigt und in ihrem Rang weiter aufgewertet. Dies kann einerseits durch die Stärke des finanziellen, internationalen und nationalen Establishments (der Rechten) erklärt werden, muss aber auch mit der Schwäche und Alternativlosigkeit einer Linken gerade in jenen Ländern in Zusammenhang gebracht werden, in denen es im Gefolge der Militärdiktaturen zu traumatischen, kollektiven Eindrücken und zu Erinnerungen an eine von heftigen politischen Turbulenzen und bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen geprägten Vergangenheit gekommen war (Silva 1998: 81f.). Das fast obszessive Suchen nach Vereinbarungen und Konsens zwecks Herstellung einer fetischisierten Regierbarkeit hatte in vielen Ländern zur Folge, dass viele politische Kernfragen tendenziell entpolitisiert wurden und diese Entpolitisierung und Hinwendung zum privaten Konsum auch von großen Bevölkerungsteilen hingenommen und akzeptiert wurde. In diesem Klima wird es verständlich, dass diametrale Interessengegensätze und polare Herrschaftsbeziehungen anders gedeutet und gesehen wurden als strukturell vorhandene. Die für die Erlangung von politischer und teilweise kultureller Hegemonie typische Umbiegung von Antagonismen in bloße Differenzen, die jederzeit ausgehandelt und geschlichtet werden können, konnte in solchen post-diktatorischen Gesellschaften relativ leicht erreicht werden (Laclau 1981: 140f.).

7.

Diese Form von Hegemonie, die darin besteht, tendenziell systemfeindliche Modi der Bearbeitung von Widersprüchen von vornherein mit Erfolg auszuschließen, dauerte in den meisten lateinamerikanischen Ländern nicht sehr lange, je nach Land ca. 10 bis 15 Jahre.[5] Man kann darüber streiten, ob es überhaupt sinnvoll ist, eine so kurze Phase als Hegemonie zu beschreiben. Wenn zur Zeit tatsächlich das Ende des Neoliberalismus in Lateinamerika eingeleitet wird, dann sollte man vielleicht im Rückblick von dem Begriff Abstand nehmen. Sicherlich war der Neoliberalismus nie so hegemonial, wie seinerzeit das Export-Import-Regime (1870-1929), das selbst von seinen potentiellen Gegenkräften (wie etwa der meist anarchosyndikalistisch orientierten Arbeiterbewegung) nicht in Frage gestellt wurde[6]. Auch während der Phase der Importsubstituierenden Industrialisierung gab es gewaltige gesellschaftliche Instabilitäten und mächtige soziale Kräfte, die das Modell umgestalten, transformieren oder ganz ersetzen wollten. Auch wenn es sich seit ca. 1955 in einer instabilen Phase befand, blieb es trotzdem bis ca. 1982 dominantes Entwicklungsmodell. Zur Zeit sieht es so aus, als wenn die Phase des klar hegemonialen Neoliberalismus vor allem durch zwei miteinander verbundene Elemente gestört bzw. beendet wurde. Zum einen durch die schwachen Ergebnisse der neoliberalen Wirtschaftspolitik in Bezug auf Wachstum, Beschäftigung, Armutsreduktion etc. Zum anderen durch die wiederbelebten sozialen Bewegungen mit anti-neoliberaler Stoßrichtung, die ihre Mobilisierungskraft gerade auch aus den defizitären wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Resultaten des neoliberalen Regimes zogen.

Nachdem zu Anfang der 1990er Jahre mittlere, in einigen Ländern sogar hohe Wachstumsraten erreicht worden waren, schien gegen Ende dieses Jahrzehnts das neoliberale Strohfeuer verpufft zu sein. Die sich häufenden Währungs- und Finanzkrisen, niedrige bis negative Wachstumsraten, das Ausbleiben weiterer Direktinvestitionen (nach Abschluss der Privatisierungswelle) und der spekulative Zufluss von Geldkapital für Staatsanleihen zeigte nicht nur die hochgradige ökonomische Verletzlichkeit dieses Modells, sondern auch seine Folgen in Bezug auf soziale Polarisierung, mit anhaltender hoher Armutsquote, beträchtlicher Beschäftigungslosigkeit etc.[7] Die positive Lesart der neoliberalen Politikversprechen ließ sich immer weniger mit der Realität vereinbaren. An diesen Schwachpunkten neoliberaler Orientierung bildeten sich im Laufe der 90er – zunächst vereinzelt und/oder in abgelegenen Regionen und daher weitgehend „unbemerkt“ – unterschiedliche soziale Bewegungen, wie z.B. die Arbeitslosenbewegung (Piqueterobewegung) in Argentinien, die auf dem Höhepunkt der Krise 2001/02 eine bedeutende Rolle spielte. Lange vorher hatte sich die zapatistische Bewegung in Chiapas/Mexiko der Öffentlichkeit präsentiert, nachdem sie sich über zehn Jahre organisatorisch und programmatisch vorbereitet hatte. Auch andere Bewegungen, wie die ebenfalls in ihrer Entstehung weit zurückreichende Landlosenbewegung in Brasilien (MST) oder die indigenen Bewegungen in Ecuador und Bolivien waren politische Artikulationen, die sich gegen massive Benachteiligungen und Diskriminierungen in wesentlichen Aspekten der Lebenslage wandten und deren hoher Mobilisierungsgrad gegen Ende der 90er und Anfang der 2000er Jahre auch auf die sozialen Zuspitzungen im Gefolge neoliberaler Politik zurückzuführen war (Algranati u.a. 2004).

Dennoch ist es bezüglich der wirtschaftspolitischen Grundentscheidungen der neoliberalen Phase in den meisten Ländern Lateinamerikas nicht zu einer eindeutigen Kurskorrektur gekommen. Dies scheint mit dem Profil und dem ökonomischen Gewicht dieser Bewegungen zusammenzuhängen. „Die Bewegungen finden an den Rändern der Gesellschaft statt, und das ist wohl ihre schwerwiegendste Begrenzung. Die beschriebenen Tendenzen zeigen sich im Lakandonischen Urwald, aber nicht in der mexikanischen Maquila-Industrie, die für den Weltmarkt produziert, sie zeigen sich bei den Besetzungen der Landlosen, aber nicht in den Autofabriken in Brasilien. Sie sind bei Piqueteros zu finden (wo ehemalige Ölarbeiter aktiv sind), aber nicht in der Erdölindustrie Argentiniens. Die besten Experimente mit hierarchiefreiem Leben müssen begrenzt bleiben, solange die reale Macht nicht beseitigt ist und die Ausbeutung drum herum weitergeht. Die entscheidende Frage wird sein, ob die neuen Antworten eine Randerscheinung bleiben, oder ob sie von denjenigen aufgenommen werden, die das System mit ihrer Arbeit am Laufen halten – und die in der Lage wären – die kapitalistische Maschine zu stoppen.“ (Wildcat, No. 73, Frühjahr 2005: 27)

8.

Stellt man die relativ hohe Kontinuität dieser Elemente, die mit der neoliberalen Hegemoniegewinnung im Zusammenhang standen in Rechnung, so wird man den durch die neuen Mitte-Links-Regierungen angeblich angezeigten Bruch mit dem neoliberalen Diskurs relativieren müssen. Die Diskontinuität bezieht sich vor allem auf die Diskurs- und Stilebene, auf Elemente an der Oberfläche und weniger auf die durch den Neoliberalismus geschaffenen wirtschaftspolitischen Institutionen und Verhältnisse. So ist z.B. bislang nirgendwo die Öffnung der Ökonomien, die Unabhängigkeit der Zentralbanken, die hervorgehobene Bedeutung der Geld- und Fiskalpolitik in Zweifel gezogen worden. Von einer Umkehr in Bezug auf die privatisierten Staatsunternehmen und der Liberalisierung der Arbeitsmärkte ist bislang ebenfalls wenig zu hören. Aus diesem Grund muss Atilio Borón zugestimmt werden, wenn er schreibt: „Im gegenwärtigen Moment ist ein bemerkenswertes Auseinanderklaffen zwischen einer unübersehbaren Schwächung neoliberaler Impulse in den Bereichen der Kultur, des öffentlichen Bewusstseins und der Politik einerseits und, zur gleichen Zeit, deren eingewurzelter Fortdauer auf dem entscheidenden Terrain der Wirtschaft und des ‚Policy-Making’ andererseits festzustellen.“ (Borón 2004: 43).

9.

Aus all diesen Gründen (Umstände der Einführung des Neoliberalismus, Art und Intensität seiner Verankerung, ambivalente Wirkungsweise und Fortbestehen zentraler Regulierungsfaktoren des Neoliberalismus etc.) kann man in Bezug auf die neuen Mitte-Links-Regierungen und ihren teilweise anti-neoliberalen Diskurs zwar von einer Schwächung oder Krise der neoliberalen Hegemonie im hier angedeuteten begrenzten Sinne ausgehen. Aber es scheint gleichzeitig angemessen zu sein, mit Anibal Quijano hinzuzufügen, dass es sich hier um einen Versuch „der Reorganisation der bürgerlichen Hegemonie“ (Quijano 2004: 83) handelt. Denn es geht in der Agenda dieser Regierungen nicht um die weitergehende Perspektive eines irgendwie gearteten anti-kapitalistischen Projekts, sondern um die Korrektur der schlimmsten „neoliberalen Auswüchse“. Das heißt, angestrebt wird die Wiedereinführung einer nationalen oder regional ausgelegten, staatszentrierten Regulierung, die Elemente der sozialen Wohlfahrt für bislang ausgeschlossene Bevölkerungssegmente enthält. Die ökonomischen und politischen Bedingungen, intern wie international, sind indes für ein derartiges Vorhaben weitgehend abwesend. Infolgedessen muss die konkrete Ausformung eines möglichen neuen Modus von bürgerlicher Hegemonie in Lateinamerika als offen angesehen werden. Da die nationalstaatlich steuerbaren und verfügbaren Ressourcen ebenso zusammengeschmolzen sind wie die fungierenden nationalen Kapitalgruppen unterliegen alle solche Ausbruchsversuche dem restaurativ wirkenden Magnetfeld neoliberaler Institutionen. Insofern ist Vorsicht gegenüber vorschnellen und leicht euphorisierten Feststellungen geboten, die davon ausgehen, dass „dem gescheiterten neoliberalen Kapitalismusprojekt“ Alternativen gegenüber „gestellt werden“ (Thimmel 2005: 154).

Auf der anderen Seite sollte die Möglichkeit eines stärker national und regional zentrierten Entwicklungsmodus – unter Beteiligung bürgerlicher Kräfte – nicht ausgeschlossen werden. Eine völlige Negierung dieser Möglichkeit käme einer Akzeptanz des Postulates „there is no alternative“, sozusagen einem TINA-Verdikt unter veränderten Vorzeichen gleich: Es gibt – unter der Schwelle der Systemveränderung – keine Alternative zum Neoliberalismus (auch) in der Peripherie. Die wieder auflebende Diskussion über „nationale Bourgeoisien“ in der Peripherie ist ein Zeichen dafür, dass diese Möglichkeiten theoretisch und praktisch zur Zeit ausgelotet werden (Chibber 2004; Realidad Económica 2004).

10.

Die gegenwärtige Übergangsphase in einigen Ländern Lateinamerikas ist also durch eine Schwächung neoliberaler Politikelemente sowie durch Restrukturierungsversuche der bürgerlichen Hegemonie gekennzeichnet, wobei unterschiedliche soziale Bewegungen mit variierendem politischen Gewicht und Mobilisierungsgrad sich in diesen Prozess einbringen, um bestimmten Forderungen Nachdruck zu verschaffen. Es wäre also sicher verfehlt, von einer vorrevolutionären oder gar revolutionären Situation zu sprechen und einschneidende historische Wendepunkte von dieser Periode der relativen Öffnung politischer Möglichkeiten zu erwarten.

Gleichwohl haben sich in den letzten fünf Jahren in Lateinamerika diskursive Felder und konkrete Handlungsspielräume für eine andere Politik geöffnet. Bestimmte Momente, wie etwa die Versuche der lateinamerikanischen Integration, Ansätze einer Süd-Süd-Kooperation, die politische Artikulation der sozialen Widersprüche in Venezuela, die Umgangsweise mit dem IWF seitens des argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner (nicht aber von Luiz Inácio „Lula“ da Silva) deuten Momente des Bruchs an. Wenngleich es immer problematisch ist über zukünftige Tendenzen zu spekulieren, scheint es legitim zu sein, über die in der Konstellation angelegten Entwicklungsmöglichkeiten nachzudenken. Grundsätzlich scheinen drei zu unterscheidende Entwicklungsvarianten für die von Mitte-Links-Regierungen geführten Länder denkbar zu sein.

Rückkehr zu einem relativ unverblümten Neoliberalismus nach Überwindung der politischen und ökonomischen Krisenperiode, wie es z.B. nach der tiefen Krise in Chile 1982/83 der Fall war. Allerdings hat die damals noch an der Macht befindliche Militärdiktatur eine solche Lösung wesentlich erleichtert.

Korrektur des neoliberalen Modells durch soziale Abfederungen und partielle Ausgleichsmechanismen, also Einführung eines „Sozialliberalismus“, wie er sich z.B. in Brasilien abzeichnet: neoliberale Wirtschaftspolitik plus begrenztes Hungerbekämpfungsprogramm, neben Elementen einer progressiven Außenpolitik.

Staatskapitalistische Transformation der Ökonomie und Etablierung eines kooperativen Wirtschaftsbereiches in der Landwirtschaft und im Gewerbe mit der Möglichkeit, neue Zugänge zu Ressourcen, Bildung und Gesundheitsversorgung für größere Teile der Bevölkerung des Landes zu schaffen. In gewissem Umfang könnte bei einem solchen Modell – zumindest auf mittlere Sicht – ein kooperationsbereites lokales Bürgertum miteinbezogen werden. Gleichzeitig handelt es sich um die Entwicklungsvariante, bei der zu einem späteren Zeitpunkt weitergehende politische Optionen durchaus denkbar sind (Typus Venezuela).

Bei allen möglichen Varianten sind aber bei der Beurteilung der Tiefe eines Bruchs zur vorangehenden Periode die bremsende Schwerkraft neoliberaler Institutionen und der vorherrschenden Elemente der politischen Kultur zu bedenken.[8]

Literatur:

Algranti, Clara u.a. (2004): Lateinamerika: Ein neuer Protestzyklus gegen den Neoliberalismus, in: Sozialismus, H. 5, S. 47-57

Bernhard, Armin (2005): Antonio Gramscis Politische Pädagogik, Hamburg

Bieling, Hans-Jürgen/Jochen Steinhilber (2000): Hegemoniale Projekte im Prozess der europäischen Integration, in: Dies. (Hg.): Die Konfiguration Europas. Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie, Münster, S. 102-130

Boron, Atilio (2004): La izquierda latinoamericana a comienzos del siglo XXI: nuevas realidades y urgentes desafiós, in: Observatorio Social de América Latina, Vol. V., Nr. 13 (Jan. - April), S. 43-56

Brand, Ulrich (2005): Gegen-Hegemonie. Perspektiven globalisierungskritischer Strategien, Hamburg

Candeias, Mario (2004): Neoliberalismus - Hochtechnologie - Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Eine Kritik, Hamburg

Cardoso, Fernando H./Enzo Faletto (1976): Abhängigkeit und Entwicklung in Lateinamerika, Frankfurt/M.

Chibber, Vivek (2004): Reviving the Developmental State? The Myth of the “National Bourgeosie”, in: Socialist Register 2005, hg.v. Panitch, Leo und Carolin Leys, London, New York, S. 144-165

Córdova, Armando (1969): Elemente einer Definition der wirtschaftlichen Unterentwicklung, in: Córdova, Armando/Héctor Silva Michelena: Die wirtschaftliche Struktur Lateinamerikas. Drei Studien zur politischen Ökonomie der Unterentwicklung, Frankfurt/M., S. 7-41

Córdova, Armando (1973):Strukturelle Heterogenität und wirtschaftliches Wachstum, Frankfurt/M.

Donghi, Tulio Halperin (1991): Geschichte Lateinamerikas von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M.

Fischer, Karin (2002): Neoliberale Transformation in Chile. Zur Rolle der ökonomischen und intellektuellen Eliten, in: Journal für Entwicklungspolitik, XVIII. Jg. H. 3, S. 225-248

Huber, Evelyne/Fred Solt (2004): Successes and failures of neoliberalism, in: Latin American Research Review, Vol. 39, No. 3, Oct., S. 150-164

Kebir, Sabine (2004): Hegel reitet zwei Pferde. „Revolution – Restauration“ und „passive Revolution“ – zwei universalhistorische Konzepte Antonio Gramscis, in: Sozialismus, 31. Jg., H. 2, S. 35-41

Labastida Martín del Campo, Julio (Hg.) (1985): Hegemonía y alternativas políticas en América Latina, México, D.F.

Laclau, Ernesto (1981): Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus – Faschismus – Populismus, Berlin

Maihold, Günther (1999): Die Technokraten in den Entwicklungsprozessen Lateinamerikas, in: Faust, J. u.a. (Hg.): Ideengeber und Entwicklungsprozesse in Lateinamerika, Mainz, S. 169-186

Quijano, Anibal (2004): El laberinto de America Latina: ¿Hay otras Salidas?, in: Revista Venezolana de Economía y Ciencias Sociales, Vol. 10, No. 1 (enero-abril), S. 75-97

Realidad Económica, Buenos Aires, No. 201, 1. enero al 15. febrero 2004 (Schwerpunkt: Se busca la burgesía nacional)

Silva, Patricio (1998): Neoliberalism, Democratization, and the Rise of technocrats, in: Velinga, Menno (Hg.): The changing Role of the State in Latin America, Boulder, S. 75-92

Thesing, Josef (Hg.) (1994): Politische Kultur in Lateinamerika, Mainz

Thimmel, Stefan (2005): Ein Schritt vor, zwei Schritte zur Seite? Die sozialen Bewegungen in Argentinien, Brasilien und Uruguay zwischen Unabhängigkeit und Vereinnahmung, in: Badzuira, A. u.a. (Hg.): Hegemonie – Krise – Krieg, Hamburg, S. 140-155

Weyland, Kurt (2004): Assessing Latin American neoliberalism. Introduction to a debate, in: Latin American Research Review, Vol. 39, No. 3, Oct., S. 143-149

[1] Damit soll natürlich keine überhistorische geschichts-deterministische Gesetzlichkeit, wonach dies auch in Zukunft immer so sein müsse, postuliert werden. Vielmehr ist an die sehr unterschiedlichen weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gewichtsverteilungen zu erinnern.

[2] „Voraussetzung [für die relative Stabilität der chilenischen Militärregierung] war zum einen die Unterstützung der gesellschaftlich dominanten (Unternehmer-)Sektoren, die – bis weit in die Mittelschichten hinein – die soziale Basis des Regimes bildeten. Zum anderen bedurfte es der Entfaltung eines machtvollen neoliberalen Diskurses, um die Transformation als „revolutionäres Projekt“ in der Gesellschaft zu verankern. Die diskursiv-ideologischen Praktiken des Regimes bewirkten einen weitreichenden Wandel in der Orientierung breiter Teile der Bevölkerung und der Opposition, einen Mentalitätswandel, der auch nach dem 1990 vollzogenen Übergang zur Demokratie fortwirkt und neoliberalen Prinzipien eine anhaltende Wirkungsmacht in der Gesellschaft sichert.“ (Fischer 2002: 225)

[3] Allerdings existierten auf nationaler Ebene politische Projekte, die durchaus als hegemonial gelten können. Hier sind vor allem Programme zur Wechselkursanbindung an den US-Dollar wie der Plano Real in Brasilien (1994) oder der Plan Cavallo in Argentinien (1991) von hoher Bedeutung.

[4] Allerdings ist zu fragen, ob nach dieser Lesart dann in Europa oder den USA eine neoliberale Hegemonie je bestanden hat. Zwar waren die Gegenbewegungen gegen den Fordismus, insbesondere die 68er Bewegung, in den Metropolen stärker und inhaltlich anders orientiert als die zum gleichen Zeitpunkt in der Peripherie beobachtbaren Bewegungen. Gleichwohl haben sie sich nie als revolutionäre Bewegung für den Neoliberalismus verstanden. Der Übergang zum Neoliberalismus passt vielleicht allgemein eher in die Denkfigur der „passiven Revolution“ als einer Modernisierung im Sinne eines Anpassungs- und Erneuerungsprozesses des Staates, ohne dass es zu einer politischen Revolution „radikal-jakobinischen Typs“ gekommen wäre.

[5] Z.B. könnte man für Bolivien die Phase von 1985 bis 2000 als die „belle epoque“ des Neoliberalismus qualifizieren, für Argentinien als entsprechenden Zeitraum die Jahre von 1990 bis ca. 2000 nennen.

[6] Den Freihandel umgab ein außergewöhnliches Prestige, nicht nur, weil er den metropolitanen Regionen, wie Historiker der marginalen Regionen gerne betonen, ein hervorragendes ideologisches Instrument zur ökonomischen Durchdringung dieser Regionen an die Hand gab, sondern auch, weil er innerhalb dieser Gebiete die Funktion einer sozialen Versöhnung in den Grenzen der kapitalistischen Ordnung zu erfüllen versprach“ (Donghi 1991: 227).

[7] Zur Evaluierung der ökonomischen und sozialen Ergebnisse neoliberaler Politik siehe neuerdings die sogar in akademischen Lateinamerikanistenkreisen eröffneten Debatte: Weyland 2004; Huber/Solt 2004.

[8] Wie im Juni/Juli 2005 an dem bedeutenden Korruptionsskandal der von der Arbeiterpartei (PT) geführten Regierung Lula wieder einmal deutlich wurde.