Berichte

Auf dem Weg zu einer sozialen Bewegung?

Treffen des Koordinierungskreises der „Initiative für einen Politikwechsel", Frankfurt/M, 27. Juni 2004

September 2004

Unter dem Titel „Auf dem Weg zu einer sozialen Bewegung – Chancen und Probleme“ tagte am 27. Juni 2004 der Koordinierungskreis der Initiative für einen Politikwechsel in Frankfurt am Main.1 Ziel war es, nach den ermutigenden Zeichen der Großdemonstrationen am 3. April und des Perspektivenkongresses in Berlin2 im Mai dieses Jahres gemeinsame Druckpunkte zu finden, „um gemeinsam aktionsfähig oder kampagnenfähig zu werden.“

Die beteiligten Diskutanten, vornehmlich aus dem Gewerkschaftsspektrum und attac, waren sich einig, dass das gemeinsame Agieren von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen positiv zu bewerten sei. In der Nachbereitung wurde auch Kritik an den Gewerkschaften artikuliert, da diese RednerInnen aus den nicht-gewerkschaftlichen Organisationen und Verbänden benachteiligt hätten. Zudem sei problematisch, dass Gewerkschaften und soziale Bewegungen ungleiche Partner in Hinblick auf Größe, Entscheidungsstrukturen etc. seien.

Horst Trapp betonte einleitend, dass der Bruch mit der SPD keinesfalls endgültig sei, dass sie vielmehr eine enorme Bindewirkung besitze. Auf den Punkt gebracht wird diese Einstellung in der Formulierung „Die anderen sind doch noch schlimmer.“

Richard Detje von der Zeitschrift „Sozialismus“ skizzierte in seinem Referat zentrale Aktionsschwerpunkte für weitere gemeinsame Aktivitäten. Dies sei notwendig, da man nicht mit „100 Themen“ – wie sie auf dem Perspektivenkongress verhandelt wurden – kampagnenfähig werden könne. Der erste Schwerpunkt ist eine Mobilisierung gegen das Hartz IV-Gesetz, welches mittlerweile beschlossene Sache ist. Heribert Prantl bezeichnete es in der „Süddeutschen Zeitung“ als „verfassungsrechtlich bedenkliche Enteignungspolitik“. Eine Bündnisperspektive sei diesbezüglich von vornherein gegeben, da die Betroffenen sowohl Arbeitslose als auch Beschäftigte seien. Es käme darauf an, die Auswirkungen auf den Niedriglohnsektor mit zu thematisieren. Detje plädierte des Weiteren für eine interne Klärung über die Debatten zu einem gesetzlichen Mindestlohn/Mindesteinkommen bzw. einem Existenzgeld.

Ein zweiter Schwerpunkt für den Herbst müsse eine Kampagne gegen die schon jetzt von allen Seiten intensiv diskutierte Arbeitszeitverlängerung sein. In der Diskussion wurde die Zustimmung der IG Metall zur 40-Stunden-Woche bei zwei Siemens-Werken in NRW als Dammbruch bewertet. Nunmehr sei es schwer, weiter für eine Arbeitszeitverkürzung einzutreten. Es wurde aber auch von der Schwierigkeit berichtet, als Betriebsrat gegen den Willen einer Belegschaft eine unbezahlte Arbeitszeitverlängerung abzulehnen, wenn dies einen massiven Abbau von Personalstellen zur Folge habe. Den dritten Aktionsschwerpunkt fasste Detje mit „Gegen Neoliberalismus – Ausbau globaler sozialer Rechte“ zusammen. Hier sei bislang wenig gelaufen, schon gar nicht auf europäischer Ebene, wo diese Auseinandersetzung am besten zu führen sei. Die Gewerkschaften sollten in diesem Punkt stärker mit attac kooperieren. Der vierte Schwerpunkt in den für den Herbst geplanten Aktionen solle sich gegen den Privatisierungswahn richten und für die Erneuerung des Sozialstaates aussprechen.

In der Diskussion wurde der Unterpunkt Mindestlohn, Mindesteinkommen, Existenzgeld kontrovers diskutiert.3 Von Werner Rätz (attac) und Katja Kipling (PDS) wurde das Konzept des Mindestlohns kritisiert, da es lohnarbeitszentriert sei, und Lohnarbeit gerade im Osten Deutschlands nicht mehr so wichtig sei. Rätz forderte eine neue Diskussion über (Lohn-)Arbeit und Leistung und generell zur Frage, wie Vergesellschaftung heute stattfindet, sowie eine stärker internationale Ausrichtung der Diskussion. Attac habe sich auf eine Kampagne für ein garantiertes Mindesteinkommen festgelegt, im Herbst soll hierzu eine Tagung stattfinden.

Es wurde auch kritisch gefragt, ob eine Konzentration auf die vier vorgestellten Aktionsschwerpunkte zu diesem Zeitpunkt schon sinnvoll sei, oder ob sie nicht eine negative Sprengkraft habe, da so eventuell Bündnispartner ausgeschlossen würden. Diese Position fand jedoch keine Mehrheit. Ebenso fand die entgegengesetzte Forderung nach der Zuspitzung der sozialen Auseinandersetzungen auf nur einen Punkt keine Mehrheit. Als durchaus sinnvoll wurde der Vorschlag von Axel Troost (AG Alternative Wirtschaftspolitik) eingeschätzt, einen Sonderpunkt „Steuern, Finanzierung, (Um-)Verteilung“ aufzunehmen, obgleich dies der Forderung des Vertreters der Jungen Linken widersprach, nicht so sehr ökonomische Konsequenzen sondern die Auswirkungen auf die Lebensweisen der Menschen zu thematisieren. In diesem Zusammenhang wurde betont, dass das Bewusstsein der Bevölkerung gespalten sei und sie mit herkömmlichen Mitteln wie Pressemitteilungen, Demomobilisierungen u.ä. schwer zu erreichen sei. Die Mobilisierungen zum 3. April seien kein Selbstläufer gewesen, und das Arbeitnehmerbegehren der IG Metall finde auch nicht gerade eine reißende Zustimmung.

Werner Rätz gab in dem zweiten Diskussionsblock „Heißer Herbst? – Die nächsten Schritte“ einen Überblick über die geplanten Aktionen im Herbst, über die Gründung regionaler und lokaler sozialer Bündnisse sowie über das geplante Sozialforum in Deutschland. Mit Bezug auf den Aufruf zur Herbstkampagne4 von Bernd Riexinger (ver.di), Sabine Leidig (attac) u.a. bewertete er den 3. April als großen Erfolg, zog daraus jedoch nicht den Schluss, dass eine ähnliche an drei Orten zentralisierte Großdemonstration wiederholt werden müsse. Sinnvoller seien dagegen landesweite Demos in Ländern sowie mehrere bundesweite dezentrale Aktionstage rund um den Buß- und Bettag. Dieser sei bis vor 10 Jahren ein gesetzlicher Feiertag gewesen, den die ArbeitnehmerInnen der Pflegeversicherung opfern mussten, insofern gelte es nun, durch Aktionen diesen Tag symbolisch oder real wieder anzueignen. Ziel sei eine breite gesellschaftliche Beteiligung, eine Wiederaneignung sozialer Infrastruktur. Attac versucht somit, in die Diskussion innerhalb der radikalen Linken über Aneignung praktisch einzugreifen. In der Diskussion herrschte Konsens darüber, dass das Konzept einer zentralen Großdemonstration für die nächste Zeit durch dezentrale, vielfältige und über mehrere Tage dauernde Aktionen zu ersetzen sei.

Der dritte und letzte Diskussionsblock beschäftigte sich mit den Chancen der parlamentarischen Durchsetzung alternativer Konzepte. Horst Schmitthenner zufolge gibt es dazu drei Ansätze. Zum einen die Strategie, durch die Druckausübung der sich im Entstehen befindenden sozialen Bewegung auf Parteien Einfluss zu nehmen, zum zweiten durch die Gründung einer neuen Linkspartei und zum dritten durch die Einführung von Formen direkter Demokratie. Letzteres wurde von Schmitthenner besonders betont. Er brachte das Beispiel des Hamburger Bürgerbegehrens zur Privatisierung von Krankenhäusern zur Sprache, wo sich eine deutliche Mehrheit der Hamburger gegen eine Privatisierung ausgesprochen habe. Der Schwachpunkt von Bürgerbegehren wurde aber sogleich eingeräumt: Die letztendliche Entscheidung verbleibe bei den politischen Institutionen. Und in der Tat haben mittlerweile die verantwortlichen Politiker in Hamburg erklärt, dass sie die Privatisierung der Krankenhäuser entgegen dem Votum des Begehrens durchzuführen beabsichtigen.

Ein weiterer Nachteil, so Schmitthenner, seien die hohen Auflagen, die zur Durchführung eines Bürgerbegehrens zu erfüllen sind. Er schlug jedoch vor, das Thema der direkten Demokratie, beispielsweise in Form von Bürgerbehren, nicht vorschnell aufzugeben und im Herbst zusammen mit „WISSENTransfer“ dazu eine Konferenz zu veranstalten. In der Diskussion wurde dann von mehreren Teilnehmer auf weitere Schwächen solcher Bürgerbegehren hingewiesen: Sie seien schnell für reaktionäre Zwecke wie die Todesstrafe oder Kampagnen gegen MigrantInnen zu instrumentalisieren.

Natürlich spielte die in den Massenmedien heiß diskutierte Frage der Gründung einer neuen „Linkspartei“ auch auf dem Treffen der „Initiative für einen Politikwechsel“ eine nicht unwesentliche Rolle. Axel Troost und Dieter Hooge befürworteten die Neugründung in erster Linie unter dem Aspekt der Enttäuschung über die SPD. Werner Rätz sprach sich mit dem nicht neuen, aber am Beispiel der Grünen plastisch illustrierten Hinweis auf die Integrationskraft des parlamentarischen Betriebs gegen eine neue „Linkspartei“ aus. Die Gründung der Grünen habe personell einen kräftigen Aderlass für die damalige soziale Bewegung bedeutet; und diese Bewegung sei ungleich stärker als die heutige gewesen. Rätz plädierte, wieder Bezug nehmend auf die Aneignungsdebatte, für eine neue Diskussion über die Umsetzung von politischen Forderungen.

Es bleibt zu hoffen, dass die Initiative ihren Beitrag für die Aktionen im kommenden Herbst leistet und somit zum Entstehen einer sozialen Bewegung gegen Neoliberalismus, Sozialabbau und Entdemokratisierung beitragen kann. Das erscheint umso wichtiger, als die Gefahr besteht, die Artikulation des Protests einseitig auf die im Entstehen befindliche Linkspartei „Wahlalternative und Soziale Gerechtigkeit“ zu projizieren.

1 Letzter Bericht: Z 57, März 2004, S. 187 f.

2 Vgl. beispielsweise den Bericht: Perspektiven und Signale. Gewerkschaften und soziale Bewegungen beraten gemeinsam, in: ak- analyse kritik, Nr. 485, 18.06.2004.

3 Vgl. als einführenden Überblick in die Debatte: Anne Allex: Nach den Sternen greifen. Bedingungsloses Grundeinkommen für alle! in: express 5/2004.

4 Der Aufruf findet sich unter: www.alle-gemeinsam-gegen-sozialen-kahlschlag.de.