Diskussion: Soziale Protestbewegungen – Themen, Perspektiven

Die Perspektiven des Studierendenprotests

Kurzatmiges Aufbegehren oder Teil einer neuen sozialen Bewegung?

März 2004

„Es geht nicht an, dass die Studienzeit obligatorisch begrenzt wird. Aus pragmatischen Gründen nicht: denn die befristete Immatrikulation würde uns des besten Kriteriums für den Erfolg der Studienreform berauben und dadurch eine zuverlässige Rückkoppelung zwischen der Initiative der Fachvertreter und einer großzügigen, aber gezielten Hilfe der Ministerien erschweren. Aus prinzipiellen Gründen nicht: denn der bürokratische Zwang zur Einhaltung eines verbindlichen Studienfahrplans beschränkt ohne Not den Spielraum, innerhalb dessen Interessen geweckt, Fähigkeiten okkasionell erprobt, Wünsche produktiv befriedigt und kritische Erfahrungen gesammelt werden können.“ (Habermas 1981, 131).

Vergangene Studentenproteste

Der jüngste Studentenprotest im Wintersemester 2003/2004 stellt in vieler Hinsicht keine große Neuheit dar. Vielmehr standen in den vergangenen Jahrzehnten ähnliche Proteste an, die ein genaueres Studium lohnenswert machen. Betrachten wir daher mit den Studentenstreiks im WS 1988/89 und im WS 1997/98 zwei Bewegungen, die bei einer Untersuchung der aktuellen Kämpfe der Studierenden als Interpretationsfolie dienlich sein können.[1]

Beide Proteste hatten einige Merkmale gemeinsam: Sie richteten sich primär gegen eine in den 80er Jahren einsetzende Unterfinanzierung der Hochschulen und sind infolgedessen anders als die Proteste der 68er als Abwehrkämpfe zu verorten.

Des Weiteren zeichneten sich die Protestwellen dadurch aus, dass sich die traditionelle hochschulpolitische Landschaft in Desintegration befand bzw. sich faktisch aufgelöst hatte. Traditionelle Verbände wie der MSB (Marxistische Studentenbund Spartakus), der SHB (Sozialistischer Hochschulbund) und in geringerem Umfang auch die Basisgruppenbewegung hatten zum Zeitpunkt des Streiks 1988/89 an Einfluss und Integrationsfähigkeit verloren. Kein Wunder, dass die Protestbewegung 1988 sich in einem sehr spannungsgeladenen Verhältnis zu den studentischen Vertretungen an der Universität befand und sich hauptsächlich auf die Schaffung von Freiräumen und die Durchführung von autonomen Seminaren beschränkte. Im WS 1997/98 war die Desintegration des hochschulpolitischen „Parteiensystems“ abgeschlossen, die Zusammenarbeit mit den ASten gestaltete sich nun zumindest einfacher.

Beide Proteste wurden oft von links als „unpolitisch“ kritisiert. Dies ist sicherlich nicht ganz falsch, beschränkten sich die Forderungen doch zunächst auf puren „Tradeunionismus“ – das simple Aushandeln besserer Studienbedingungen. Allerdings wurden in beiden Revolten auch weitergehende Ansprüche formuliert wie die nach dem allgemeinpolitischen Mandat, dem Verbot von Studiengebühren und der Reform der Personalstruktur, wobei sich der „Lucky Streik“ 1997/98 durchaus durch eine Differenzierung der politischen Positionen auszeichnete. Offen reaktionäre Forderungen waren hier keine Seltenheit. Andreas Keller (1998, 475) listet einige Beispiele auf: „So wurden bei einer Kundgebung in Marburg Gewerkschaftsvertreter ausgebuht, in Gießen wurde bei einer Großdemonstration eine Studentin, die sich gegen die Diskriminierung von Frauen an der Hochschule wandte, ausgepfiffen. Die studentische Vollversammlung des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Universität Frankfurt sprach sich Anfang Dezember 1997 mehrheitlich für Studiengebühren und die Einführung von Zulassungsbeschränkungen aus [...] Schließlich zeigten Initiativen wie das ‚Projekt Absolute Mehrheit (PAM)‘ (ein Versuch mehrerer tausend Studierender, durch Masseneintritte in die FDP den bildungspolitischen Belangen der Studentenschaft Gehör zu verschaffen), dass auch aus studentischen Protesten hervorgegangene gesellschaftliche Aktivitäten heute nicht mehr automatisch eine linke oder links-alternative Richtung einschlagen.“

Die Ergebnisse der Proteste waren gering, aber bemerkbar. Auch wenn die Studierenden anders als die Industriearbeiterschaft über keinen effektiven ökonomischen Hebel zur Durchsetzung ihrer Forderungen verfügen, konnte der Prozess des neoliberalen Umbaus der Hochschule zumindest verlangsamt werden. Die Proteste von 1988/89 führten zur Verabschiedung des milliardenschweren Hochschulsonderprogramms (HSP 1), das die chronische Unterfinanzierung der Hochschulen zumindest kurzfristig linderte.

Eine direkte Folge des Protests der 97er bestand in einer Hilfestellung bei der Abwahl der Regierung Kohl im Folgejahr, da der rot-grünen Opposition eine Wende im Bereich der Bildungspolitik zugetraut wurde. Die rot-grüne Regierung leitete jedoch keine Trendwende in der Wissenschaftspolitik ein, wenn auch Studiengebühren und die Beschneidung demokratischer Rechte der Studierenden zu Beginn der ersten Legislaturperiode von Rot-Grün Tabuthemen blieben.

Neoliberaler Umbau der Hochschule

Um die Unterschiede der jüngsten Rebellion zu den skizzierten Streikbewegungen besser zu verstehen, bedarf es einer Interpretation des neoliberalen Umbaus der Hochschule in den vergangenen Jahren. Die Umstrukturierung der Universität schreitet bereits seit den frühen achtziger Jahren voran, hat aber in diesem Jahrzehnt spürbar an Geschwindigkeit gewonnen. Es lassen sich hierbei mehrere Grundmechanismen ausmachen, mit denen die Umstrukturierung forciert wird und einige Merkmale feststellen, welche die Stoßrichtung der Transformation der fordistischen Massenuniversität zur „standortgerechte[n] Dienstleistungshochschule“ (Bultmann 1996, 329) verdeutlichen.

Das Schmiermittel für alle neoliberalen Reformen im Hochschulbereich bildet die chronische Unterfinanzierung der Lehranstalten. Der Anteil der Hochschulausgaben des Bundes am Gesamthaushalt ist seit den frühen 70er Jahren stark gefallen. Lagen die Ausgaben 1972 bei 1,6 Prozent des Gesamthaushaltes, sanken die Mittelzuwendungen auf unter 0,8 Prozent in den 90er Jahren (Bultmann/Weitkamp 1999: 18). Umgekehrt stieg die Anzahl der Studierenden von knapp 510.500 im Jahr 1970 auf 1995 über 1,85 Mio. an, um in den Folgejahren wieder leicht zu sinken (ebd. 1999, 14) und im Dezember 2003 erstmals die 2-Millionenmarke zu überschreiten. Die restriktive Finanzpolitik übt immensen Druck auf die Hochschulen aus. Neben dem Fakt, dass sich die verknappten Ressourcen in einem permanenten Sparzwang äußern, entsteht auch eine diskursive Hegemonie, neue Konzepte zu testen, um die kaputtgesparten Institute zu sanieren.

Hier sind vor allem zwei Entwürfe von Bedeutung. Die eine Möglichkeit besteht im Drittmittelsponsoring. Mittel aus der Privatwirtschaft sollen für finanzielle Entlastung sorgen. Dieses in einigen deutschen Universitäten – wie der Technischen Universität Darmstadt oder der Universität Potsdam – genutzte Konzept einer starken Kooperation staatlicher Hochschulen mit der Privatwirtschaft führt nicht nur zur Einschränkung von kritischer Wissenschaft an der Hochschule, sondern auch zur Abschaffung ganzer „unrentabler“ Fachbereiche und der Rehierarchisierung von Entscheidungsprozessen an den Lehranstalten. Die konsequenteste Umsetzung dieser Politik besteht in privaten, kapitalkonformen Hochschulen wie der geplanten Volkswagen AutoUni, welche sogar nur für Hochschulabsolventen mit Berufserfahrung offen steht.

Eine weitere Möglichkeit zur Finanzierung des Haushaltslochs wird in Studiengebühren verortet. Studenten sollen ähnlich wie im angelsächsischen Wissenschaftssystem einen Teil der Kosten ihres Studiums selbst finanzieren. Dieses Konzept führt neben einer immer stärkeren Koppelung universitärer Bildung an die soziale Herkunft[2] auch dazu, eine hierarchischere Differenzierung des deutschen Bildungssystems zu fördern. Die Folge dieser Politik ist zum einen eine standortorientierte Mittelverteilung, die sich an betriebswirtschaftlichen Evaluationskriterien misst.

Auf diese Weise wird Bildung zur Ware transformiert. Der Student tritt nicht mehr als partizipierender Teil der Hochschule auf, sondern wird zum Kunden, der die Dienstleistung Bildung kauft. Zeitgleich werden demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten zu Gunsten der Leistungskriterien abgewertet. Die in jüngster Zeit gewährte universitäre Finanzautonomie wird mittels Evaluation und einem durch die Landesregierungen verordneten Konkurrenzzwang zwischen den Fachbereichen (wie durch das Hessische Hochschulgesetz vom 31. Juni 2000) zur fünften Kolonne des neoliberalen Umbaus der Hochschule. Der scheidende Präsident der Philipps-Universität Marburg, Horst Kern, bringt das Leitbild der neuen Hochschule mit den Schlagworten „Effizienz, Evaluation, Controlling, Leistungserfassung und Leistungsbewertung“ (zitiert nach PDS-Hochschulgruppe Marburg 2001, 6) auf den Punkt.

Es wäre jedoch verkürzt, die oben aufgezeigten Tendenzen losgekoppelt von einer generellen Veränderung von Staatlichkeit zu betrachten. Die von Joachim Hirsch (2002, 84-130) beschriebene Transformation des fordistischen Sicherheits- bzw. keynesianischen Wohlfahrtsstaates zum nationalen Wettbewerbstaat ist auch hier von Bedeutung. Strukturveränderungen wie die „Privatisierung der Politik“ (Hirsch 2001: 117), „eine Denationalisierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft“ (ebd. 117), und die „Internationalisierung politischer Regulierungskomplexe“ (ebd. 119) lassen sich auch im Bereich der Hochschulpolitik vorfinden. Das Ergebnis des Transformationsprozesses besteht in einer Universität, die in governance-Strukturen eingebettet ist, die sich um den postfordistischen, nationalen Wettbewerbsstaat gruppieren.

Die jüngste Offensive

Diese Veränderung von Staatlichkeit findet ihren Ausdruck in mehreren internationalen Vereinbarungen. Der 1999 auf EU-Ebene eingeleitete Bologna-Prozess soll zur Harmonisierung des europäischen Hochschulwesens beitragen. Das Vorhaben kann wohl am ehesten als eine Form eines „Neuen Konstitutionalismus“ (Gill 2000, 43-45) angesehen werden, der disziplinierend auf die nationale Gesetzgebung wirkt und so eine neoliberale Wirtschaftpolitik rechtlich verankert. Das Ergebnis des Prozesses besteht in einer Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen, die die hierarchische Differenzierung des Bildungssystems weiter vorantreibt. Gekoppelt an die Einführung von Studiengebühren scheint eine eindeutige Entwicklung präkonfiguriert: Wer für den Masterstudiengang nicht zahlen kann, muss gehen. Noch weiter gehen die Auswirkungen des GATS (General Agreement on Trade in Services). Die im Rahmen der WTO (World Trade Organization) durchgeführten Verhandlungen sehen ein Verbot von staatlichen Subventionen im Bildungsbereich vor. Die Diskussion über die im Jahr 2005 auslaufenden Ausnahmeregelungen im Vertrag könnte zum Einfallstor für eine Privatisierung des Bildungssystems werden.[3]

Die neoliberale Offensive auf der internationalen Ebene wurde von einer schrittweisen Taktik auf Landesebene begleitet. In vielen deutschen Bundesländern führte man in den vergangenen Jahren Studiengebühren für Langzeitstudierende ein und oft entschieden sich die Landesregierungen dazu, neue Hochschulgesetze zu verabschieden, die den Umbau der Universität mittels Zielvereinbarungen und Leistungskriterien beschleunigen.[4]

Die politischen Konsequenzen sind eindeutig. Zum einen werden sämtliche Proteste gegen die Reformen regionalisiert[5]. Zum anderen wird es möglich, die Einführung der Studiengebühren schrittweise Bundesland für Bundesland durchzusetzen. Bis der baden-württembergische Wissenschaftsminister Frankenberg sich in der „Welt“ vom 1.9.2001 als erster hoher Regierungsvertreter offen für allgemeine Studiengebühren aussprach, diskutierte die Öffentlichkeit meist nur Strafgebühren für Langzeitstudenten. Inzwischen sind die Gebühren in vielen Bundesländern längst Realität. Von Studienkontenmodellen wie in Berlin und NRW, die Langzeitstudierende und Zweitstudierende abstrafen, über diverse Modelle von „Verwaltungsgebühren“ für alle Studenten bis zur Initiative der bayrischen Landesregierung, offen allgemeine Gebühren einzuführen, existieren viele Modelle. Betrachten wir mit Hessen und Berlin zwei konkrete Beispiele dieser Politik, an denen sich später die Proteste entfachen sollten.

Mit der Wahl der schwarz-gelben Regierung Koch 1999 setzte eine Beschleunigung der Umstrukturierung der Hochschulen in Hessen ein. Es können drei Schritte des Umstrukturierungsprozesses ausgemacht werden:

Die Verabschiedung des neuen Hessischen Hochschulgesetzes am 31. Juni 2000 (HHG) führte nicht nur zu einer starken Hierarchisierung der Entscheidungsstrukturen (HHG § 39-52), sondern bereitete mit der Koppelung der Mittelvergabe an betriebswirtschaftliche Effizienzkriterien durch „Zielvereinbarungen“ zwischen Hochschulen und Regierung ebenfalls den Umbau der Lehranstalten vor.

Die „Rahmenzielvereinbarung zur Sicherung der Leistungskraft der Hochschulen (Hochschulpakt)“ im Jahr 2002 konkretisierte diese Politik. Die Ausgaben für den Hochschulbereich wurden generell um 13,75 Mio. € gekürzt, Lohnsenkungen kamen einem Innovationsbudget von knapp 23 Mio. € zu Gute. Der so entstandene „Hochschulpakt“ sollte den 12 hessischen Universitäten und Fachhochschulen Planungssicherheit bis zum Jahr 2005 garantieren. Gekoppelt war das Vorhaben an verschiedene Instrumentarien, die eine kapitalkonforme Leistungsorientierung der Lehre absichern sollten. Mittels Leistungs- und Clusterzahlen werden heute Studenten je nach Fachbereich variierende Geldsummen zugeschrieben, die verrechnet werden und den Schlüssel für die Mittelverteilung innerhalb der durch den Globalhaushalt in Finanzfragen autonomen Universität darstellen. Direkte Konsequenz: eine immer stärkere Konkurrenz der Fachbereiche um Geldmittel, die Konfliktlinien auf der allgemeinpolitischen Ebene in universitäre Verteilungskämpfe transformiert.

Den dritten Schritt stellte der Bruch des Paktes durch die nunmehr mit absoluter Mehrheit bestätigte CDU-Regierung dar. Mit dem Gesetzespaket „Operation Sichere Zukunft“ kündigte die Regierung Koch den Hochschulvertrag auf und nahm Kürzungen in der Höhe von 30 Mio. € vor. Ferner wurden durch das StuGuG (Studienguthabengesetz) ab 2004 Gebühren für Langzeitstudierende in der Höhe von 500-900 € und allgemeine „Verwaltungsgebühren“ im Umfang von 50 € pro Kopf erhoben. Wissensbegierige, die ein zweites Mal studieren, werden von Gebühren im Wert von 500-1500 € besonders hart getroffen. Als das Vorhaben zu Beginn des Wintersemesters 2003/04 bekannt wurde, brach die Revolte an den hessischen Bildungsanstalten aus.

Die Inhalte der Hochschulreform in Berlin und deren Wirkung bei der Auslösung der Studentenproteste sind ähnlich, aber verorten sich in einer anderen politischen Umgebung. Im Oktober 2001 wählte die Berliner Bevölkerung die große Koalition aus SPD und CDU ab und es kam zur Bildung einer rot-roten Koalition aus SPD und PDS.

Die Umstrukturierung der Hochschulen und die damit verbundenen Einsparungen waren in Berlin sicherlich schon länger im Gange. In den Jahren 1993-2000 wurden mittels Hochschulverträgen alleine an der Technischen Universität Berlin knapp 80 Mio. € eingespart. Mit der Wahl der SPD/PDS-Regierung ging somit zumindest die Hoffnung auf die Bewahrung des finanziellen status quo einher. Doch in der Koalitionsvereinbarung für die Legislaturperiode 2001-2006 festgehaltene Versprechen wie „Die Koalition hält an der im Berliner Hochschulgesetz festgeschriebenen Studiengebührenfreiheit fest.“ (Koalitionsvereinbarung 2002, 75) muteten in der ansonsten neoliberal orientierten Agenda der Koalition im Hochschulbereich (Koalitionsvereinbarung 2002, 75-80) befremdlich an.

Im Jahr 2003 wagte die rot-rote Koalition einen Vorstoß im Bildungsbereich. Ähnlich wie die hessische Regierung kündigte sie den alten Hochschulvertrag auf und vereinbarte in einem Änderungsvertrag eine jährliche Reduzierung der Finanzmittel um 75 Mio. € bis zum Jahr 2009. Des Weiteren stellte die Administration Pläne für ein Studienkontenmodell vor, das ab dem Wintersemester 2004/05 Zahlungen von 500-650 € von den Studierenden vorsieht, die ihre „Credit-Points“ aufgebraucht haben. Ein weiteres Projekt zur Hochschulreform bildet die von einem Konsortium von Firmen initiierte „European School for Management and Technology“, für welche das Land Berlin und der Bund das ehemalige Staatsratsgebäude gratis zur Verfügung stellen. Ebenfalls sind die Übernahme der Grunderwerbskosten von 24 Mio. € und Renovierungskosten des Gebäudes von ca. 25 Mio. € durch die Landesregierung in Diskussion (vgl. Roloff 2003). Die Berliner Bildungspolitik sollte die heftigsten Proteste im Rahmen des aktuellen Studentenstreiks nach sich ziehen.

Die Proteste und ihre Perspektive

Die Studentenproteste im WS 2003/04 entstanden in den Bundesländern Hessen und Berlin, um sich dann in große Teile des Bundesgebietes auszuweiten. Die Proteste waren in den einzelnen Bundesländern verschiedenartig ausgeprägt, hatten aber einige Kernelemente gemeinsam.

In Hessen war das Hauptthema das Studienguthabengesetz (StuGuG) und die damit verbundene Einführung der Gebühren. Die ersten Vollversammlungen Ende Oktober in den Vorreiterstädten der Streikbewegung (Frankfurt, Gießen und Marburg) zeichneten sich zum einen durch eine klare Positionierung der Studierenden gegen das Gesetzesvorhaben und eine allgemeine Kritik der Politik des Sozialabbaus aus. In der Folgewoche beschlossen die Studierenden der drei Universitäten den Streik (in Frankfurt am 4.11., Gießen am 5.11., Marburg am 6.11.) und setzten damit eine landesweite Protestbewegung in Gang. In beinahe sämtlichen Universitäten und Fachhochschulen des Bundeslandes kam es im Laufe des Novembers zu Protestaktivitäten. Die Proteste artikulierten sich in vielfältiger Form: Demonstrationen, Besetzungen von Unigebäuden, Straßenblockaden. Viele öffentlichkeitswirksame Aktionen und regelmäßige Proteste bei Auftritten von Regierungsvertretern waren an der Tagesordnung. Den Höhepunkt der Streikbewegung stellte eine mit den Gewerkschaften durchgeführte Massendemonstration in Wiesbaden am 18.11.2003 dar, an der schätzungsweise 50.000 Menschen teilnahmen. Doch die Hochschulrevolte ebbte Ende November ab und versandete in der Winterpause. Als am 19.12.2003 in Wiesbaden die letzte Lesung des Studienguthabengesetzes erfolgte, war nur noch eine Handvoll Studierender zugegen.

Der hessische Protest zeichnet sich durch einige Besonderheiten aus: So blieb es bei einer starken Fixierung auf die Sparmaßnahmen der Regierung Koch und dem Thema der Studiengebühren. Obwohl das Thema des Sozialabbaus immer präsent war und eine recht lebhafte Kooperation zwischen studentischen Vertretern, Gewerkschaften und sozialen Initiativen existierte, verharrten große Teile der Studierendenschaft weiterhin in Standortdiskursen oder beteiligten sich nicht an den Protesten. Auch wenn die Protestbewegung im neuen Jahr zusammenbrach und keinerlei Veränderungen in der Regierungspolitik verursachte, dürfte die hessische Bewegung neben ihrer Funktion als Anstoß für die bundesweiten studentischen Proteste auch als möglicher Ausgangspunkt für die Bildung von neuen politischen Netzwerken angesehen werden.

Die Berliner Proteste wurden durch den Streikbeschluss der VV der Studentenschaft der Technischen Universität vom 5.11.2003 eingeleitet. Die HU Berlin und FU Berlin schlossen sich zwei Wochen später dem Streik an. Die Aktivitäten in Berlin zeichneten sich nicht nur durch eine rege Beteiligung aus wie bei der über 30.000 Menschen zählenden studentischen Demo am 13.12., sondern radikalisierten sich auch und liefen sogar noch nach den Winterferien in geringerem Umfang weiter. Neben den bereits an dem hessischen Beispiel skizzierten Aktionsformen kam es zu einer ganzen Reihe von Besetzungsaktionen. Von der SPD-Parteizentrale über die Redaktion der Tageszeitung bis zum Roten Rathaus wurden eine Fülle von Institutionen besetzt, die entweder der rot-roten Regierung nahe stehen oder als eher linksliberal einzuordnen sind.

Wie in Hessen kann auch in Berlin von einer klaren allgemeinpolitischen Positionierung gegen Sozial- und Bildungsabbau gesprochen werden. Dennoch scheinen zwei Unterschiede zum hessischen Beispiel von Interesse. Der Studentenprotest arbeitete sich nicht nur an den Vorhaben zur Einführung von Studiengebühren ab, sondern richtete sich vor allem gegen die massiven Kürzungen im Bildungssektor. Des Weiteren führte die Frontstellung zur Berliner SPD/PDS-Regierung zu einer Artikulation der Proteste, die sich gegen das gesamte deutsche Parteiensystem richtete. Das Ergebnis war eine Radikalisierung des Protests.

Zusammenfassend können zwei Parallelen zu den anfangs beschriebenen Protesten ausgemacht werden. Zunächst ist der Streik 2003/2004 ebenfalls als ein Abwehrkampf zu bewerten. Die hochschulpolitische Reformoffensive der letzten Jahre zog massive Konsequenzen nach sich: den Umbau der Hochschulen nach betriebswirtschaftlichen Leistungszielen, die Hierarchisierung der Bildung durch die Einführung von Master- und Bachelor-Studiengängen, die soziale Selektion mittels Studiengebühren.

Darüber hinaus fand die jüngste Rebellion ebenfalls in einem desintegrierten hochschulpolitischen Umfeld statt. Zwar gab es im Zuge des Streiks 1997/98 beispielsweise mit der Gründung der AMS (Assoziation Marxistischer StudentInnen) oder der LIRA (Bündnis linker und radikaldemokratischer Hochschulgruppen) bundesweite Reorganisierungsversuche, die jedoch allesamt nur bescheidene Erfolge nach sich zogen.

Die politische Ausrichtung des jüngsten studentischen Aufbegehrens scheint jedoch sehr viel klarere linksorientierte Akzente zu setzen. Die sehr viel ausgeprägtere Verknüpfung hochschulpolitischer Fragen mit dem Thema „Sozialabbau“ und die Kooperation mit Gewerkschaften und sozialen Einrichtungen lassen auf eine progressive Orientierung schließen. Zwar waren die Proteste in den einzelnen Ländern durchaus heterogen, in einzelnen Städten und Bundesländern (wie in Bayern) wurde für einen besseren „Bildungsstandort Deutschland“ demonstriert, doch angesichts der harten hochschulpolitischen Restaurationsphase ist die allgemeine Ausrichtung des Streiks als positiv anzusehen. Georg Fülberth (2003,1), ein Kritiker des Streiks 1997/98, kategorisierte die politischen Positionierungen innerhalb der Streik-Arbeitskreise beim aktuellen Protest folgendermaßen: „Erstens: Wissenschaft und Bildung sollen nicht knappe Ressourcen sein, die gewinnbringend zu bewirtschaften sind, sondern allgemeine Güter – wie Gesundheit oder Rechtssicherheit. Unterschiede bestehen dann nicht im Zugang, sondern in der Nutzung gemäß Neigung und Fähigkeiten. Es ist das alte Bürger- (besser: Menschen-)Recht. Zweitens: Wissenschaft soll ein Ort der Kritik sein. Indem sie Herrschaft, Ungleichheit und Ungerechtigkeit analysiert, kann sie Vorarbeit zu deren Aufhebung leisten. Drittens: Ein anderes Kriterium für die Effizienz von Wissenschaft soll gelten. Es misst ihren Beitrag daran, was sie – laut Brecht – dafür tut, um ‚die Mühsal der menschlichen Existenz zu erleichtern‘. Nennen wir es Wohlfahrt.“ Dennoch sollte ebenfalls erwähnt werden, dass bestimmte Themenkomplexe fast überhaupt nicht bearbeitet wurden. Die Benachteiligung von Frauen an den Universitäten war beispielsweise in den Forderungen der Studierenden kaum von Belang (vgl. taz vom 15.12.03, 14).

Eine abschließende Perspektive und Bewertung der Hochschulproteste könnte also folgendermaßen aussehen: Trotz einer positiven Einschätzung der Streikbewegung und ihres emanzipativen Potenzials muss auf verschiedene strukturelle Barrieren hingewiesen werden, die eine Weiterentwicklung der Proteste zur sozialen Bewegung hemmen. Zum einen sind Studentenproteste derzeit Abwehrkämpfe gegen eine aggressive Umstrukturierungspolitik im Hochschulbereich.[6] Die Proteste besitzen bisher kaum eine Aussicht auf politische Veränderung und können demnach nur in langfristiger Perspektive zu Erfolgen führen.[7]

Darüber hinaus stehen die studentischen Aktivisten vor einem doppelten Organisationsproblem. Zum einen müssen die Kontakte zu anderen vom sozialen Kahlschlag betroffenen Gruppen (Sozialinitiativen, Arbeitslose, Bildungssektor) und politischen Organisationen und Bewegungen (Gewerkschaften, attac) intensiviert werden. Hier wurden Fortschritte gemacht, die Stabilität der Bündnisse wird sich beim europaweiten Aktionstag am 3. April 2004 zeigen.

Zum anderen werden die Studierenden nicht um eine bessere interne Vernetzung herumkommen, um eine Regionalisierung des Protests und die Desintegration der hochschulpolitischen Landschaft zu stoppen. Hier kann es nicht bei Verbänden wie dem fzs (Freier Zusammenschluss von StudentInnenschaften), die sich aus den ASten rekrutieren, bleiben, sondern es müssen ebenfalls unabhängige überregionale Organisationen entstehen, die eine bessere Koordination der studentischen Proteste ermöglichen.

Zuletzt besteht ein besonders schwerwiegendes Problem. Die Studierenden müssen – wie auch die globalisierungskritische Bewegung – konkrete politische Projekte entwickeln, die zumindest auf regionaler Ebene dem vielzitierten Slogan „Eine andere Welt ist möglich!“ Leben verleihen. Nur auf diese Weise kann die neoliberale Hegemonie wirksam angegriffen werden.

Bis die skizzierte Agenda umgesetzt wird, könnten noch einige Jahre ins Land gehen. Ein möglicher Startschuss wurde abgegeben.

Literatur:

Bieling, Hans Jürgen/Steinhilber, Jochen (2002): Finanzmarktintegration und Corporate Governance in der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Heft 1/2002, 39-74.

Bultmann, Torsten (1996): Die standortgerechte Dienstleistungshochschule, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 104, 329-355.

Bultmann, Torsten/Weitkamp, Rolf (1999): Hochschule in der Ökonomie. Zwischen Humboldt und Standort Deutschland, Marburg.

Fülberth, Georg (2003): Wärmehalle adé, in: Freitag 50/2003, 1.

Fülberth, Georg (2004): Der sechste Streik, in: Kulturbeben 1/2004, 4.

Habermas, Jürgen (1981): Zwangsjacke für die Hochschulreform, in: ders.: Kleine politische Schriften (I-IV), Frankfurt a.M., 120-134.

Hessisches Hochschulgesetz vom 31. Juni 2000 (HHG), in: http://www.hmwk.hes­sen.de/hhg/HHG_31_07_2000.pdf

Hirsch, Joachim, u.a. (Hrsg.) (2001): Die Zukunft des Staates, Hamburg.

Gill, Stephen (2000): Theoretische Grundlagen einer neo-gramscianischen Analyse der europäischen Integration, in: Bieling, Hans-Jürgen/Steinhilber, Jochen (Hrsg.): Die Konfiguration Europas. Dimension einer kritischen Integrationstheorie, Münster, 23-50.

Keller, Andreas (2000): Hochschulreform und Hochschulrevolte. Selbstverwaltung und Mitbestimmung in der Ordinarienuniversität, der Gruppenhochschule und der Hochschule des 21. Jahrhunderts, Marburg.

Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) Landesverband Berlin und der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) Landesverband Berlin für die Legislaturperiode 2001-2006 in: http://berlin.spd.de/servlet/PB/show/­1006552/koa2002_gesamt.pdf

PDS-Hochschulgruppe Marburg (2001): Wie im Großen ... so im Kleinen, in: Rotstift Hochschulpolitik extra, Marburg, 6-7.

Rahmenzielvereinbarung zur Sicherung der Leistungskraft der Hochschulen (Hochschulpakt), in: http://www.hmwk.hessen.de/hochschule/hochschulreform/2510a.pdf

Roloff, Felix (2003): Öffentlich investieren – privat abkassieren, in: http://www.astafu.de/in­halte/artikel/a_2003/esmt

[1] Im Wintersemester 1993/94 kam es ebenfalls zu einer kleineren Protestwelle, die einem der versiertesten Kenner der deutschen Hochschulpolitik lediglich eine Fußnote wert ist (Keller 2000, 465). Der Politikwissenschaftler Georg Fülberth gesteht in einem kurzen Artikel in einer Marburger Lokalzeitschrift mit einem ironischen Unterton ein, dass er sich nicht mehr an den Streik erinnere (Fülberth 2004: 4). Grund genug, den 93/94er Streik bei einer Betrachtung außen vor zu lassen.

[2] Nur zwölf Prozent der Studienanfänger zwischen 19 und 24 Jahren kommen aus finanzschwachen Arbeiterfamilien. Der Bevölkerungsanteil der Arbeiterkinder in dieser Altersgruppe beträgt knapp 12 Prozent (vgl. taz vom 17.12.2003, 19). Das bürgerliche Bildungsprivileg wird durch den Trend zur zeitgleichen Demontage der BAföG-Zahlungen verstärkt.

[3] In dieser recht strukturalistischen Interpretation der Veränderung von Staatlichkeit und der Umstrukturierung der Hochschule bleibt leider die Akteursebene außen vor. Selbstverständlich existieren mit der European Round Table of Industrialists (ERT) auf der europäischen Ebene und dem CHE (Centrum für Hochschulentwicklung) der Bertelsmannstiftung auf nationaler Ebene Akteure, die gezielt Konzepte zur Hochschulreform in die Diskussion bringen. Verknüpft mit offensichtlichen Widersprüchen zwischen der formulierten politischen Agenda und dem Realzustand wie zwischen dem Leitbild „der informationstechnologisch basierten Shareholder-Ökonomie“ (Bieling/Steinhilber 2002: 41) und der chronischen Unterfinanzierung der Hochschulen werden die ausgearbeiteten neoliberalen Konzeptionen hegemoniefähig und finden verstärkt Eingang in die Politik. Eine weitergehende Untersuchung dieser diskursiven Politiken würde leider den Rahmen des Artikels sprengen.

[4] Im folgenden Abschnitt wird ein Schwerpunkt auf den Themenkomplex der Studiengebühren gelegt, da deren Einführung maßgeblich zur Initiierung der Studentenproteste beitrug.

[5] Die regionalen Studentenproteste in NRW und Hamburg im Sommersemester 2002 wurden von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen.

[6] Die von Ulrich Brand am 9.11. 2003 auf dem „Kommunismuskongress“ in Franfurt aufgeworfene Fragestellung, inwieweit die neoliberale Dienstleistungshochschule noch ein Ort für kritische Wissenschaft darstellen kann, ist bei der Weiterentwicklung der studentischen Politik ebenso von Bedeutung wie die Frage, in welcher veränderten Form sich die Studierenden in der nach betriebswirtschaftlichen Leistungskriterien umstrukturierten Hochschule politisch artikulieren werden.

[7] Der aktuelle Vorstoß der Bundesregierung, im Rahmen ihrer „Innovationsoffensive“ ein deutsches Harvard zu schaffen, deuten auf die klare Kontinuität der Hochschulpolitik hin.