Berichte

1968 – Ein Blick auf die Protestbewegungen 40 Jahre danach aus globaler Perspektive

44. Konferenz der ITH (Linz, 11.-14. September 2008)

Dezember 2008

Knapp 100 TeilnehmerInnen waren der Einladung zur 44. Linzer Konferenz gefolgt, die von der Internationalen Tagung der HistorikerInnen der Arbeiterbewegung und anderer sozialer Bewegungen (ITH) und der Kammer für Arbeiter und Angestellte Oberösterreich veranstaltet wurde. Marcel van der Linden vom IISG in Amsterdam, Angelika Ebbinghaus von der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (Bremen) und Berthold Unfried als Präsident und Eva Himmelstoss als Sekretärin der ITH hatten ein umfangreiches Programm zusammengestellt. Unter den ReferentInnen – auf den call for papers hatte es über 50 Einsendungen gegeben – waren sehr viele junge HistorikerInnen.

Die Konzeption der Tagung dimensionierte „1968“ zeitlich als die „langen sechziger Jahre“, die von 1956 bis Mitte/Ende der 1970er Jahre reichten. Die AkteurInnen und ihre soziale Zusammensetzung seien sehr heterogen gewesen, die verschiedenen Bewegungen hätten aber verschiedene Mentalitäten und politische Ansichten geteilt: Internationalismus, die Kritik an Autoritäten und am Sozialismus in Ost und West oder auch die Bedeutung von Gegenkultur. Wie es auch in der linksliberalen Geschichtswissenschaft mittlerweile Konsens ist, wurde „1968“ als globales Phänomen verstanden, da es weltweit (wenn auch nicht überall zugleich) und global aufeinander bezogen stattgefunden habe.

Die 13 Beiträge können hier nur in einer Auswahl vorgestellt werden. Kees van der Pijl (Universität Sussex) beschrieb den Neoliberalismus als (Gegen-)Reaktion auf die Revolten der 1960er Jahre. Er habe im globalen Norden die Wieder-Inwertsetzung der in der Revolte auf den Plan getretenen rebellischen Subjektivität betrieben. Als heutiges Erbe von „1968“ sah er die „Globalisierungsbewegung“ an, die durch das Internet die erste wirklich internationale Bewegung sei. Die in der Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung engagierten Menschen würden Politik als integralen Bestandteil ihres Lebens ansehen, während die „1968er“ noch auf eine politische Analyse des Lebens beschränkt gewesen seien. Avishek Ganguly (New York) berichtete über die bäuerlichen Protestbewegungen in Indien und ihre Kooperation mit Intellektuellen; der Wiener Historiker David Mayer wies auf das enorme Selbstbewusstsein der sog. „Dritten Welt“ in jenem Zeitraum hin, ja vertrat sogar die These, dass das „Zentrum von 1968“ nicht im globalen Norden, sondern in Mittel- und Lateinamerika anzusiedeln sei.

Drei Beiträge junger Historiker widmeten sich dann wieder Europa und seinen globalen Verflechtungen. Paul-Benedikt Glatz (Berlin) sprach zu den Protesten amerikanischer Soldaten gegen den Vietnam-Krieg und über die Aktivitäten der Solidaritätsbewegung, die bis hin zur Unterstützung von Desertionen reichten. Christoph Kalter (Potsdam) referierte in einem diskursgeschichtlichen Beitrag darüber, wie im Zuge vor allem der Rezeption von Frantz Fanon in Frankreich und Westdeutschland überhaupt der Mythos der „Dritten Welt“ und des „Trikont“ entstand. Boris Kanzleiter (Belgrad) sprach zu den Problemen und Widersprüchen der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien, die für die europäische Linke schon seit mehr als 25 Jahren keine Rolle mehr spielt.

Ilse Lenz (Bochum) wies in ihrem ideen- und organisationsgeschichtlichen Beitrag „Die neuen Frauenbewegung und 1968. Ein internationaler Vergleich“ darauf hin, dass die neue, zweite Frauenbewegung viele Ansätze „der 1968er“ erweitert, konkretisiert und umgesetzt hat. Ab 1972 seien Frauen ihrem „widersprüchlichen Ausschluss“ aus der Studentenbewegung mit dem Aufbau eigener Strukturen begegnet.

Die hohen, in der Ankündigung der Tagung geweckten Erwartungen an eine „transkontinental vergleichende Analyse“ konnten nicht eingelöst werden, dies hatte aber auch wohl niemand ernsthaft erwartet. Der gesellschaftskritische Ansatz und der globale Blickwinkel der Tagung machten sie zu einem sehr sympathischen Ereignis, nicht zuletzt dienen solche Tagungen den TeilnehmerInnen und ReferentInnen ja auch als identitätsstabilisierende Selbstvergewisserung. Kritischer ist da schon die mangelnde Präsenz von Frauen als handelnden Akteurinnen wie die fehlende Aufnahme von Fragen der Geschlechterverhältnisse in den Vorträgen selbst zu bewerten. Dies war schon allein deshalb bemerkenswert, weil die Transformation der Geschlechterverhältnisse die sichtbarste Folge von „1968“, wenn nicht der größte Erfolg sein dürfte. Nicht zuletzt ist gender mittlerweile ein historiografisches Tool, das nicht unter den Tisch gekehrt werden kann.

Der gesellschaftliche Mainstream blieb ausgeblendet, er war nicht Gegenstand der Tagung. Man könnte aber auch, wie Michael Schneider von der Friedrich-Ebert-Stiftung es in mehreren Beiträgen tat, fragen, ob nicht die Bedeutung von „1968“ vor allem darin liegt, welche Wirkung es auf diejenigen hatte, die nicht an grundlegenden Veränderungen interessiert waren und doch gleichzeitig die Transformation der Gesellschaft durch ihr Engagement mitprägten.

Einer weiteren Bearbeitung bedürfen die Fragen: Was gehört alles zu 68? Kann man Sozialproteste global überhaupt vergleichen? Sind die Folgen von 1968 eine Niederlage oder nicht eher als ein Erfolg zu deuten, die 1970er Jahre also als Verfalls- und Verratsgeschichte oder als Erfolgsgeschichte zu lesen? Geklärt ist, dass die Unterteilung in „alte“ und „Neue Linke“ hinfällig ist, was schon deutlich wird, wenn man die Debatte im Jugoslawien der 1960er Jahre oder auch den historischen Rätekommunismus betrachtet.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die ITH hat eine spannende und angenehme Tagung organisiert, die Themen und Sichtweisen stark gemacht hat, die im geschichtspolitischen Alltag unterzugehen drohen. In den nächsten Jahren dürfen noch einige spannende Publikationen erwartet werden, aber wirkliche neue Ergebnisse gab es in Linz nicht, eher erschien „1968“ als eine kollektive und persönliche Imagination, die sich ihrer akademisch-definitorischen Einhegung immer wieder entwindet. Und vielleicht ist das auch gut so.

Die vor einigen Jahren virulente Krise der ITH als Organisation ist zwar überwunden, ihre Zukunft erscheint in einem halbwegs positiven Licht und ist zumindest für die nächsten Jahre finanziell einigermaßen gesichert. Ihre anvisierte globale Ausrichtung erfordert aber eigentlich einen vermehrten Einsatz von Zeit und Ressourcen. Ob die 1964 gegründete ITH ein internationaler Ort der Debatte und Vernetzung unter kritischen HistorikerInnen sein soll, und damit vor allem ein Treffpunkt von und für Einzelpersonen oder die Jahresversammlung eines Dachverbandes von Mitgliedsinstitutionen im tendenziell schrumpfenden Feld der Sozial- und Arbeitergeschichte, ist aber weiter offen.

Das Thema der Konferenz 2009 lautet „Labour history beyond borders – Concepts and Consequences“, alles weitere dazu und zur ITH auf ihrer Website www.ith.or.at. Die Beiträge der Tagung erscheinen im Herbst 2009 in einem Sammelband.