Probleme gewerkschaftlicher Organisation

„... dann bräuchten wir keine fünf Minuten, um den Laden zum Stillstand zu bringen ..."

Aktuelle Einschätzungen und Erfahrungen eines VW-Betriebsratsvorsitzenden

Dezember 2005

Schon im Herbst letzten Jahres wurden mit dem Tarifabschluß bei Volkswagen (der kontrovers diskutierte „Zukunftstarifvertrag“) die gegensätzlichen Positionen markiert: Die Unternehmensleitung bestand auf massiven Kostensenkungen, bei denen der Personalbereich eine besondere Rolle spielen sollte. Die IG Metall wollte zumindest sicherstellen, daß es zu keinen betriebsbedingten Kündigungen kommt und beharrte auf einer entsprechenden Beschäftigungssicherung (vgl. Stefan Krull, VW- wie weiter nach den fetten Jahren? Z 61, März 2005, S. 47-68). Im laufenden Jahr gewann die Situation bei VW zusätzliche Dynamik: Mit dem „ungeplanten“ Ausscheiden des langjährigen Arbeitsdirektors P. Hartz (Mitglied von IG Metall und SPD) aus dem Konzernvorstand und der Übernahme der Verantwortung für die zentrale Markengruppe Volkswagen durch den hartgesottenen ehemaligen Daimler/Chrysler-Manager W. Bernhard ist die Konzernspitze nicht nur personell neu justiert worden. Das letztjährig angekündigte Sparprogramm wurde weiter verschärft, um sicherzustellen, daß der Konzerngewinn vor Steuern schon 2008 „um 4 Milliarden Euro über dem Bruttogewinn des Jahres 2004 (1,1 Milliarden Euro)“ liegt. (Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ] vom 25.8.2005) Gleichzeitig muss sich der Betriebsrat mit massiven Vorwürfen („Lustreisen“, Käuflichkeit von Betriebsräten) auseinandersetzen, die den Gesamtbetriebsratsvorsitzenden K. Volkert bereits zur vorzeitigen Demission zwangen und innerbetrieblich Unruhe ausgelöst haben. Derart gebeutelt, mußte der Betriebsrat im September darüber verhandeln, ob, und wenn ja, unter welchen Bedingungen im unterausgelasteten Werk in Wolfsburg ein neues Kompaktgeländewagenmodell gefertigt werden wird oder ob diese Produktion in das Konzernwerk Palmela/ Portugal geht. Wie, um die Schlagzeilen zu komplettieren, kündigte dann noch der „kleinste“ unter den in der BRD ansässigen Automobilkonzernen (Porsche) an, Großaktionär der Volkswagen AG werden zu wollen.

Jürgen Stumpf, Betriebsratsvorsitzender im Werk Kassel und Mitglied des Aufsichtsrats der VW AG, nahm in einem ausführlichen Gespräch mit der Z-Redaktion Ende September Stellung zu der breiten Problempalette bei VW und skizzierte Stand und Perspektiven der Entwicklung betrieblicher Gegenwehr. Die Fragen stellte Dietmar Düe.

Profitkrise und „Zukunftstarifvertrag“

Frage: Nicht nur die Automobilunternehmen, aber diese besonders, klagen über den durch Internationalisierung und verschärfte Konkurrenz hervorgerufenen Kostendruck, dem mit einschneidenden Sparprogrammen begegnet werden müsse. Für die Beschäftigten heißt das in der Regel: Geringere Einkommen, längere Arbeitszeiten und Arbeitsplatzabbau. Wie schätzt Du die Situation bei VW ein? Sind die Klagen über zu geringe Renditen in der Automobilproduktion nur verwertungsinteressengeleitetes Gerede oder haben sie einen realen Hintergrund?

J. St.: Das ist nicht nur eine Frage von Einschätzungen, sondern auch von Kenntnissen, die wir haben; beispielsweise über den Wirtschaftsausschuß und aus dem Aufsichtsrat. Wir wissen, daß das Unternehmen enorme Ergebnisprobleme hat – vor allem in der Marke Volkswagen. Hierfür gibt es ein Sammelsurium von Ursachen, externe und interne. Interne sind hausgemachte, die auf Managemententscheidungen aus der Vergangenheit zurückzuführen sind. Beispielsweise die Schwerpunkte der Fahrzeugentwicklung mit technischen Finessen und Besonderheiten, die der Kunde vielleicht zur Kenntnis nimmt, aber nicht mehr bezahlen will. Das Preisniveau von VW liegt ja immer noch deutlich über vergleichbaren anderen Anbietern – insbesondere im Dollarraum, in dem der Wechselkurs gravierende Absatzprobleme mit sich bringt. Externe Ursachen sind die internationalen Bedingungen des Autoabsatzes, wie z. B. die Wechselkursauswirkungen und die Stahlpreise. Zudem wächst der Markt in den Segmenten, in denen wir unseren Hauptabsatz haben, nur wenig oder gar nicht. VW mußte deshalb seine Produktionsziele, nach denen die Fabriken ausgelegt sind, reduzieren: vergangenes Jahr von 5,5 Mio. Fahrzeugen auf fünf Mio.. In diesem Jahr ist auch die Vorausplanung für 2006 von Anfang an geringer ausgefallen. Momentan wird von einem weiteren Rückgang um acht Prozent ausgegangen. Das bedeutet, daß im kommenden Jahr bei VW Überkapazitäten in Höhe von rund 600.000 Fahrzeugen vorhanden sind. Das sind auf’s Jahr gesehen zwei komplette Montagestandorte, die nicht ausgelastet sind. Bei den meisten Konzerngesellschaften und vor allem in den Inlandswerken wird das entsprechende Personal vorgehalten und ist zum Teil durch Beschäftigungssicherungsverträge abgesichert; es gibt nur wenig temporäre und Leihbeschäftigte. Wenn ein Standort wie Wolfsburg dann nur 60 Prozent Auslastung hat und gleichzeitig das Arbeitskräftepotential für eine viel höhere Auslastung vorhält, dann steigen natürlich die Kosten. Da der break-even-point, also der Auslastungsgrad, ab dem profitabel gearbeitet wird, bei VW meiner Kenntnis nach zwischen 82 und 86 Prozent liegt, ist leicht erkennbar, was das für die Gewinne bedeutet. Hinzu kommen bei VW Probleme im Bereich der Fertigungsorganisation (Team- bzw. Gruppenarbeit, Arbeits- und Prozeßorganisation), bei denen etwa schon im Vergleich zu AUDI enorme Defizite feststellbar sind und viel mehr natürlich noch im Vergleich zu Toyota. Insgesamt ist die gegenwärtige Situation für VW schon schwierig; das konzentriert sich vor allem auf die Marke VW, also auf die inländischen Standorte. Das noch schwarze Ergebnis, das im Konzern erreicht worden ist, basiert im wesentlichen auf den Gewinnen bei Audi und von der VW-Bank. Da kommt auch die Wirtschaftsabteilung der IG Metall zu keinem anderen Ergebnis, was die Analyse betrifft. Problem ist, daß es sich hier nicht etwa um einen Ausrutscher handelt. Die nachteilige Entwicklung , also das Rutschen im operativen Ergebnis und in der Auslastung vor allem bei der Marke VW, hält seit 2002/2003 an.

Frage: Nun wurde ja schon im Herbst letzten Jahres vor dem Hintergrund einer aus VW-Sicht unbefriedigenden Ertragssituation ein Tarifvertrag abgeschlossen („Zukunftstarifvertrag“), der den Beschäftigten einiges zumutet. Wie beurteilst Du diesen „Zukunftstarifvertrag“ aus heutiger Sicht?

J. St.: Die größte Kröte, die wir bei diesem Tarifvertrag schlucken mußten, war eine auf zwei Jahre vereinbarte Nullrunde bei den Entgelten. Wir konnten zwar in diesem Jahr erreichen, daß ein Bonus gezahlt wird, aber das ist lediglich eine Einmalzahlung, die auf die Einkommenstabellen keine Auswirkungen hat. Bei der Beurteilung der „Kröten“ im Zukunftstarifvertrag ist aber auch die Einschätzung der IG Metall und der Belegschaft zu unterscheiden. Letztgenannte spürt vor allem die Nullrunde als gravierendes Ergebnis. Am Beginn der letztjährigen Tarifrunde stand die Losung „Jobs statt Mäuse“. Wir haben dann „Jobs und Mäuse“ daraus gemacht, sind letztlich aber doch wieder bei „Jobs statt Mäuse“ gelandet. In der Belegschaft hatte die Arbeitsplatzsicherung absolute Priorität, deshalb gibt es auch die Akzeptanz für das Ergebnis. Ein weiteres Problem in diesem Tarifabschluß stellt die höhere Arbeitszeitflexibilisierung dar, das Aufbohren der „Flexikonten“ auf /- 400 Stunden. Keine Kröte stellt aus Betriebsratssicht allerdings die Regelung zur demographischen Arbeitszeitkomponente dar, die wir durchsetzen konnten. In den Vorfelddiskussionen haben wir in der Belegschaft versucht, hierfür zu werben. Auf der politischen Ebene war bereits von Rot-Grün angekündigt worden, daß 2009 das Altersteilzeitgesetz fallen sollte; jetzt wird’s nur noch rascher gehen. Bei VW hängt an der Umsetzung von Altersteilzeitverträgen die Übernahme der Auszubildenden. Wir haben deshalb in den Tarifvertrag eine demographische Arbeitszeitkomponente eingebaut, wonach ein Teil der Mehrarbeit auf ein Zeitwertkonto geht (die so angesparte Zeit wird dabei auch verzinst). Dieses Zeitvermögen kann dann am Ende des Arbeitslebens für Arbeitszeitverkürzung eingesetzt werden. Dies bedeutet jedoch vor allem für die gut ausgelasteten Bereiche, in denen Mehrarbeit anfällt, eine Verringerung des Bezahlanteils quasi „per Dekret“. Die jüngeren Beschäftigten sind jedoch überwiegend der Meinung, sie könnten besser selbst entscheiden, ob sie Vorsorge für’s Alter treffen wollen oder nicht. Die Regelung zur demographischen Arbeitszeitkomponente, für die wir uns stark gemacht haben, war sicherlich der umstrittenste Punkt in der Belegschaft. Unser generelles Resümee zum „Zukunftstarifvertrag“ angesichts der heutigen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen und einer Situation bei VW ohne Arbeitsdirektor und mit neuem Markenvorstand lautet: Eine derartige Vereinbarung könnten wir heute wohl nicht mehr durchsetzen – vor allem die Beschäftigungssicherung nicht. Die Kollegen im Brüsseler Werk haben jüngst erfolglos versucht, eine ähnliche Regelung zu bekommen. Auch in Mexiko gelang das nicht, trotz guter Auslastung durch den neuen „Jetta“ für den amerikanischen Markt. Wir wissen, daß auch unsere Vereinbarung gegenwärtig erheblich unter Druck geraten ist, weil nach den Vorstellungen des neuen VW-Markenvorstands Bernhard künftige Produktionen nur noch nach dem „Auto 5000-Modell“ laufen sollen.

„Auto 5000“: Bröckelt der VW-Haustarif?

Frage: „Auto 5000“ ist auch das Stichwort für den Poker um den Bau des neuen Geländewagens. Ende September ist die Produktionsentscheidung gefallen: Nicht in Palmela (Portugal), sondern in Wolfsburg wird der neue Kompaktgeländewagen gebaut werden. Allerdings im Rahmen der „Auto 5000 GmbH“. Was bedeutet diese Entscheidung? Geht es vorrangig um Absenkung des Lohnniveaus und längere Arbeitszeiten?

J. St.: Die „Auto 5000 GmbH“ ist eine Tochtergesellschaft von VW, die mit dem Anspruch gegründet worden ist, 5.000 Arbeitslose einzustellen für zwei Projekte: Für die Touran-Fertigung in Wolfsburg und für einen sogenannten Micro-Bus in Hannover, der allerdings nie gebaut worden ist. Nach dem Tarifvertrag, den wir für „Auto 5000“ abgeschlossen haben, sind in Wolfsburg 3.800 Arbeitslose eingestellt worden, und auf dem Werksgelände wurde in einem separaten Hallenbereich diese Fertigung aufgebaut. Der Tarifvertrag beinhaltet, abweichend vom VW-Tarif: eine Arbeitszeit von 35 Wochenstunden; ein Entgelt, das leicht über dem Flächentarif von Niedersachsen liegt; andere Arbeitszeit- und Pausenregelungen; eine schlechtere betriebliche Alterversorgung; Qualifizierungs- und Kommunikationszeiten, die gehälftet sind (eine Hälfte bringen die Beschäftigten ein, die andere trägt der Betrieb). Einer der Hauptstreitpunkte war die Regelung, wonach die Beschäftigten unentgeltlich Mehrarbeit zur Beseitigung von Qualitätsmängeln leisten müssen, sofern nachgewiesen werden kann, daß die Mängel aus der Produktion resultieren und nicht beispielsweise durch Zulieferer fremdverschuldet sind. Das gesamt Projekt „Auto 5000“ war von Anfang an sehr umstritten: Zunächst intern bei uns im Betriebsrat, dann mit einem Klärungsprozeß bei uns und Klärungsbedarf innerhalb der IG Metall und bei anderen Automobilherstellern. Wir evaluieren das Projekt regelmäßig mit wissenschaftlicher Unterstützung durch Michael Schumann (Universität Göttingen). Inzwischen sind mehr als 80 Prozent der Beschäftigten bei „Auto 5000“ gewerkschaftlich organisiert, sie wollen ihren eigenen Betriebsrat und haben durchgesetzt, daß sie endlich Vertrauensleute wählen können. Weil das bei „Auto 5000“ produzierte Modell (Touran) in die Jahre gekommen ist, ist die Produktion jetzt um die Hälfte gesunken. Hier besteht ein Beschäftigungsproblem für 550 bis 800 Leute, das gegenwärtig durch Zeitausgleich nach unten aufgefangen wird. Während unsere Forderung, den neuen Kompaktgeländewagen in Wolfsburg unter Haustarifbedingungen zu bauen, Investitionen von etwa 45 Mio. Euro bedeutet hätte, kann er bei „Auto 5000“ ohne großen Mehraufwand zum Teil über vorhandene Anlagen mitlaufen. Das hat unsere Verhandlungsposition nicht gerade verbessert. Der meiste Druck wurde von der Geschäftsleitung mit dem Argument gemacht, in Portugal könne der neue Kompaktgeländewagen mit einer Rendite von 9,9 Prozent gebaut werden, wozu auch vom portugiesischen Staat signalisierte Subventionen von rund 25 Mio. Euro beigetragen hätten. Jetzt wird er mit 8,1 Prozent Rendite bei „Auto 5000“ in Wolfsburg gebaut. Deshalb ist es auch falsch zu sagen, der Konzernvorstand habe bruchlos die kostengünstigste Variante durchsetzen können und es gäbe nur einen Sieger, nämlich den neuen VW-Markenvorstand Wolfgang Bernhard. „Auto 5000“ hat für mich durchaus zwei Gesichter und muß deshalb auch differenziert betrachtet werden. So zeigt sich beispielsweise bei dem Hauptstreitpunkt, der unentgeltlichen Nacharbeit bei Qualitätsmängeln, daß nur etwa acht Prozent der anfallenden Nacharbeit den Beschäftigten zugerechnet werden kann und deshalb von diesen geleistet werden muß. Der große Teil der Qualitätsdefizite beruht auf mangelhaften Zulieferteilen oder Problemen an Maschinen und Anlagen. Außerdem sind einzelne Bestandteile, wie das dort praktizierte Qualifikationskonzept oder das Kommunikationskonzept, das den Beschäftigten eine hohe Transparenz bei Daten und Abläufen ermöglicht, durchaus richtungsweisend für VW insgesamt. Auf der anderen Seite ist „Auto 5000“ objektiv im eigenen Haus ein Bereich, der uns in den Verhandlungen entgegengehalten wird mit seinem niedrigeren Entgeltniveau, der schlechteren Altersversorgung und den geringeren Pausen.

Frage: Handelt es sich bei der Vereinbarung zum Bau des neuen Kompaktgeländewagens durch „Auto 5000“ in Wolfsburg um den „Einstieg in den Ausstieg“, also um einen Schritt auf dem Weg zur Abschaffung des VW-Haustarifvertrags?

J. St.: Genau die gleiche Frage ist mir von Journalisten nach Abschluß des „Zukunftstarifvertrages“ im letzten Jahr gestellt worden. Vor dieser Frage stehen wir ständig. Was die Fakten betrifft: Bis 2011 haben wir eine Beschäftigungssicherung, und den Beschäftigten im Haustarifvertrag sind die dort vereinbarten Leistungen garantiert. Gleichzeitig wird versucht, den Konzern in ein anderes Fahrwasser zu bringen. So wird uns vorgehalten, daß wir bald das einzige Tarifgebiet sind, das Erholpausen im Leistungslohn hat (wenn es die in Nordwürttemberg/Nordbaden bald nicht mehr gibt). Wir haben gerade Opel hinter uns und bekommen das natürlich alles unter die Nase gerieben, was bei uns noch vorteilhafter für die Beschäftigten geregelt ist.[1][1] Zudem sind bestimmte Fertigungen zwischen einzelnen VW-Standorten so leicht austauschbar, daß unsere Verträge auch von dieser Seite her ständig unter Druck geraten.

Frage: Es scheint mittlerweile in der Automobilindustrie schon zum „guten Ton“ der Unternehmensleitungen zu gehören, Produktionsentscheidungen von Zugeständnissen der Beschäftigten bei ihren Arbeitsbedingungen abhängig zu machen. Meist ist die positive Entscheidung für einen Standort gleichzeitig ein Negativvotum für einen anderen. Wißt Ihr, was die Entscheidung, den Kompaktgeländewagen in Wolfsburg bei „Auto 5000“ bauen zu lassen, für den Verlierer dieses Standortwettbewerbs, das Werk Palmela (Portugal) bedeutet? Hattet Ihr während des Verhandlungspokers Kontakte nach Portugal?

J. St.: Es gab und gibt intensive Kontakte über den Euro-Konzernbetriebsrat, der nächste Woche wieder tagt. In Portugal ist bisher der „Sharan“ gebaut worden, in Kooperation mit Ford und deren Modell „Galaxy“. Diese Fertigung läuft jetzt aus. Es ist entschieden, daß das Cabrio-Modell, das VW jetzt rausbringt, in Portugal gebaut wird. Das bindet etwa ein Viertel der dortigen Produktionskapazität. Außerdem ist „im Rohr“, daß der „Sharan“ ein Nachfolgemodell haben soll und da hat Portugal Chancen, diese Fertigung zu bekommen. Für den Übergangszeitraum hat Portugal jetzt aber ein Problem. Dort gibt es sehr viele befristet Beschäftigte und da entsteht jetzt ein enormer Druck. Das ist auch auf der letzten Sitzung im Euro-Konzernbetriebsrat thematisiert worden. In Portugal wird jetzt versucht, das Problem über Zeitausgleich zu entschärfen. Entlastend für die portugiesischen Kolleginnen und Kollegen könnte sich auswirken, daß uns von Konzernseite eine sogenannte kostenoptimierte Belegungsplanung für die weltweiten Standorte vorgelegt wurde. Das ist eine Art stabsmäßige Planung, nach der die kostengünstigsten Standorte möglichst hoch ausgelastet werden und die kostenungünstigen in die Röhre gucken sollen. Das heißt beispielsweise für die drei Werke Brüssel, Mosel und Wolfsburg: 100-prozentige Auslastung in Belgien und Sachsen zu Lasten von Wolfsburg oder Kostenvorteile für Palmela. Das ist aber nur die Theorie, denn im anstehenden Prozeß der realen Verteilung der Produktionsmengen greifen unser Tarifvertrag, wonach betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen sind, und vereinbarte Spielregeln in den internationalen Zusammenhängen. Da in Wolfsburg nicht entlassen werden kann (der Vorstand hat erklärt, er stehe zu dem Vertrag und wird nicht die Revisionsklausel ziehen), würde eine weitere erhebliche Unterauslastung dieses Werkes über eine hohe Lohn- und Fixkostenbelastung das Konzernergebnis merklich belasten. Deshalb heißt es jetzt, ausgehend von der „kostenoptimierten Belegungsplanung“ müsse auch eine beschäftigungsorientierte Auslastung der Werke erreicht werden; das ist das, was wir fordern. Allerdings gibt es durchaus auch die Auffassung in der Konzernspitze und bei den Anteilseignern, die ganze Strategie mit Arbeitszeitverkürzung und dem Vorhalten von Kapazitäten sei falsch; es müsse vielmehr beschäftigungsmäßig abgespeckt und ggf. müßten auch Werke geschlossen werden. Demgegenüber hat VW in der Phase von 1994 bis 200/2001 erheblich davon profitiert, daß die Kapazitäten noch vorhanden waren, während andere Unternehmen mit Lieferengpässen zu kämpfen hatten. Hier zeigt sich vor allem die aktuelle Bedeutung des „Zukunftstarifvertrages“: Wenn VW entlassen will, müssen sie die Revisionsklausel ziehen. Das würde dann heißen, daß die alten tariflichen Bedingungen von vor 1995 wieder eintreten. Damit würde die 35-Stunden-Woche wieder inkraftgesetzt und sämtliche Sonderzahlungen, die die Beschäftigten im Zusammenhang mit der Einführung der Vier-Tage-Woche eingebracht haben, würden wieder fällig. Für den Konzern würde das richtig teuer. Außerdem entstünde durch die 35-Stunden-Woche ein riesiger Personalüberhang, und die Unternehmensleitung müßte mit uns über einen Sozialplan verhandeln. Für viele Beschäftigte ist es oft schwer, diese Dimension des „Zukunftstarifvertrages“ zu erkennen. Sie haben das Gefühl, dauernd Abstriche hinnehmen zu müssen, ohne daß es besser wird.

Segmentierung der Belegschaft, Personalüberhang und
„Retter“ Porsche

Frage: Ein Aspekt zu „Auto 5000“ noch, der vielleicht erst zukünftig Bedeutung erlangen könnte. Bei VW gibt es jetzt die „alten“ VW-lerInnen, für die der Haustarif gilt, dann gibt es die „Auto 5000“ VW-lerInnen sowie Neueingestellte und übernommene Auszubildende, die deutlich schlechtere Einkommens- und sonstige Arbeitsbedingungen haben. Hat diese zunehmende Segmentierung der Belegschaft Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Entwicklung betrieblicher Gegenwehr?

J. St.: Ich möchte versuchen, diese Frage ausgehend von der Situation hier im Werk Kassel zu beantworten. Bei uns wachsen pro Jahr 180 Auszubildende in diesen Haustarif II. Sie werden nicht geballt in einer Kostenstelle, sondern je nach ihrer Ausbildung über’s Werk verteilt eingesetzt. Im Moment haben wir deshalb noch die Situation, daß sich diese veränderten tariflichen Bedingungen im Werk relativ verlieren bei 15.000 Beschäftigten. Aber steter Tropfen höhlt den Stein. Wir spüren das noch nicht als Spannungen, aber die entsprechenden Kolleginnen und Kollegen stellen uns natürlich die Fragen. Die andere Situation, die wir hier haben, ist die mit der VW-Tochtergesellschaft „Auto-Vision“. Da haben wir bisher gut durchgehalten, daß die nicht hier auf dem Werksgelände arbeiten. Insofern wirkt sich das noch nicht für unsere Arbeit aus. Zudem integrieren wir diese neuen Beschäftigtengruppen vertraglich in die Interessenvertretung der IG Metall.

Frage: Anfang September hat das VW-Management ein verschärftes Kostensenkungsprogramm und Arbeitsplatzabbau angekündigt. Nach Angaben der FAZ vom 6. September ist geplant, bei VW bis Ende 2008 etwa 14.000 Arbeitsplätze zu streichen, davon rund 10.000 an den Inlandsstandorten Wolfsburg, Hannover, Kassel, Emden, Braunschweig und Salzgitter. Kann das noch mit der Beschäftigungsgarantie, d. h. mit dem Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen gemäß „Zukunftstarifvertrag“, in Einklang gebracht werden?

J. St.: Zunächst muß ich sagen, daß mich die in der Presse kursierenden Zahlen zum bevorstehenden Arbeitsplatzabbau bei VW beunruhigen, dass ich sie aber nicht bestätigen kann. Die Konzernleitung hat uns gegenüber Produktions- und damit auch Personalkostensenkungen angekündigt, ohne einen möglichen Arbeitsplatzabbau zu quantifizieren. Es gibt von ihrer Seite keine berechnete Zahl, die etwa als eine Richtschnur zum Arbeitsplatzabbau verstanden werden könnte. Was es gibt, ist zur Zeit teilweise Personalüberhang sowie eine Reihe von tarifvertraglich vereinbarten Instrumenten zur Beschäftigungspolitik wie z. B. eine weitere Tranche von Altersteilzeit möglich zu machen, nämlich den kompletten Jahrgang 1951, möglicherweise auch noch 1952. Außerdem ist vorgeschlagen worden, Aufhebungsverträge anzubieten und unsere Wiedereinstellungszusage auf acht Jahre Freistellungszeit zu verlängern. Gegenwärtig kann man sich bei VW bis zu fünf Jahre mit Wiedereinstellungsanspruch freistellen lassen, nunmehr auch ohne spezifische Begründung. So gibt es einen Strauß von Maßnahmen, der jetzt in Verhandlungen ist, aber es gibt keine vereinbarte Zahl dahinter. Wir sind im Werk Kassel in das laufende Jahr nach der Programmlage mit einem Beschäftigungsüberhang von 700 Personen gestartet, das ist bei einer Beschäftigtenzahl von 15.000 für uns eine beherrschbare Größe. Teilweise haben wir das durch In-Sourcing auffangen können, wobei wir dafür heftig kritisiert worden sind, daß wir extern erbrachte Dienstleistungen wieder in Eigenregie übernommen haben (beispielsweise machen wir bestimmte Dachsanierungsarbeiten jetzt selber).

Frage: Ein Sprung noch zu einem anderen Thema: Wie schätzt der Betriebsrat die Beteiligung von Porsche am VW-Aktienkapital ein? Handelt es sich um ein relevantes Ereignis, das vielleicht stabilisierend für VW wirken kann?

J. St.: Das schätzen wir schon so ein. Die IG Metall hat Erfahrungen mit Kapitalbeteiligungen bzw. Übernahmen sammeln können. Das negativste Beispiel ist fraglos Mannesmann-Vodafone. Da ist der Einstieg eines sowohl historisch als auch von der Fertigung her mit VW verbandelten Unternehmens wie Porsche schon ein beruhigendes Zeichen. Es gab in den vergangenen Monaten mehr als Anzeichen, daß es – trotz VW-Gesetz – den Versuch von Hedge-Fonds gab, größere Anteile von VW hinter sich zu sammeln. Auch ein Unternehmen in der Größe von VW ist nicht davor gefeit, zerlegt, filetiert und dann teilweise wieder abgestoßen zu werden, während der unverkaufbare Rest dann einfach zurückbleibt.

„Vier-Tage-Woche“ und „verkehrspolitische Alternativen“: Schnee von gestern?

Frage: Ich möchte noch einige inhaltliche und durchsetzungsstrategische Gesichtspunkte der Entwicklung von Handlungskonzepten und Gegenwehr bei VW ansprechen. Vor etwas mehr als zehn Jahren schien es, als würden bis dahin fest verschlossene Türen in der Arbeitszeitpolitik machtvoll aufgestoßen, indem bei Volkswagen quasi über Nacht die Vier-Tage-Woche bzw. die 28,8-Stunden-Woche („VW-Modell“) eingeführt worden ist. Damals konnten so fast 30.000 vom Abbau bedrohte Arbeitsplätze gesichert werden. Heute steht demgegenüber meist Arbeitszeitverlängerung auf der betriebs- und tarifpolitischen Agenda. Was ist heute, nach gut zehn Jahren, aus dem „VW-Modell“ geworden?

J. St.: Das „VW-Modell“ war von Anfang an nicht nur ein Modell. Auf der Basis von 28,8 Wochenstunden haben wir an verschiedenen Standorten unterschiedliche Ausgestaltungen des „VW-Modells“ praktiziert: Tägliche Arbeitszeitverkürzung, Vier-Tage-Woche, drei Arbeits- und eine Freiwoche (3+1) und andere Modelle. In unserem Werk hat lange Zeit der größte Teil der Beschäftigten meist 3+1 gearbeitet. Ab 1995 haben wir dann durch die Automobilkonjunktur eine Situation gehabt, in der sich die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 28,8 Stunden über Mehrarbeit mit den entsprechenden tariflichen Zuschlägen nach oben bewegt hat. Die höchste durchschnittliche Wochenarbeitszeit war in den vergangenen zehn Jahren hier im Werk Kassel mit 34 Stunden erreicht; zur Zeit liegen wir bei etwa 30 Stunden. In anderen Standorten gab es zeitweise durchschnittliche Arbeitszeiten auch von mehr als 35 Wochenstunden. In Wolfsburg läuft jetzt fast die gesamte Produktion auf der klassischen Vier-Tage-Woche, also 28,8 Stunden. Teilbereiche fahren hier über die Arbeitszeitkonten sogar die Drei-Tage-Woche. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren die beschäftigungssichernden Möglichkeiten, die das „VW-Modell“ eröffnet, an allen Standorten intensiv genutzt. So haben wir beispielsweise auch in Brasilien temporäre Personalüberhänge durch Arbeitszeitverkürzung aufgefangen. Wobei wir in Südamerika und ähnlichen Auslandsstandorten vor dem Problem stehen, daß das Lohnniveau und die sonstigen sozialen Bedingungen – auch außerhalb der Werke – kaum Spielräume dafür lassen, Arbeitszeitverkürzungen ohne oder mit nur teilweisem Lohnausgleich auch längerfristiger als Instrument der Beschäftigungssicherung einzusetzen. Im Vergleich zu anderen Automobilunternehmen lagen und liegen wir mit unserer Wochenarbeitszeit immer noch an unterster Stelle. Im Moment haben wir die 28,8-Stunden-Woche nötiger denn je.

Frage: Eine weitere Dimension bei der Entwicklung von betrieblichen und überbetrieblichen Handlungsorientierungen von Betriebsräten und Gewerkschaften bezieht sich auf das „Was“ der Produktion. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre gab es gerade im Automobilsektor sowie bei der IG Metall eine rege Diskussion um Auto, Umwelt und Verkehr. Damit verbunden wurde die Frage nach Alternativen für die traditionelle Automobilproduktion. Seit Beginn der 90er Jahre ist, bedingt vor allem durch den „wiedervereinigungsbedingten“ Absatzschub auf dem PKW-Markt, diese Debatte abrupt beendet. Kann sie zukünftig wieder eine Rolle spielen, wenn über gewerkschaftliche Handlungskonzepte im Automobilsektor nachgedacht wird, oder gehört das alles der Vergangenheit an?

J. St.: Einer der größten Fehler, die in den letzten Jahren gemacht worden sind, ist die weitgehende Vernachlässigung des früher vorhandenen Images von Volkswagen als eines Konzerns, der bei der Entwicklung verbrauchsarmer Fahrzeugkonzepte führend ist und der generell ein Umwelt-Image entwickelt. Unter dem Vorstandsvorsitzenden Piëch ist diese Strategie geradezu umgedreht worden in die Richtung, wonach VW in allen Sparten und gerade auch im Luxus-Segment als Anbieter mit leistungsstarken Modellen vertreten sein müsse. Angesichts stark steigender Ölpreise rächt es sich heute, daß wir im Dieselbereich mit der TDI-Technologie zwar technologisch die Nase vorn hatten, bei nach wie vor kontroverser Umweltbilanz der Dieseltechnologien generell, uns im Benzinerbereich aber immer noch nicht in den Verbrauchsregionen bewegen, die schon vor langer Zeit anvisiert worden waren. Das Drei-Liter-Modell ist ein relativ teurer Exot geblieben. Die damals gut gestartete Auseinandersetzung um die Fragen, wie sich Automobilkonzerne um Mobilität und integrierte Verkehrskonzepte kümmern, ist als Debatte nicht mehr existent; teilweise hat sie ihren Niederschlag in Konzepte gefunden. Auch in der IG Metall ist diese ganze Diskussion völlig verstummt.

Frage: Da sehe ich auch ein entscheidendes Problem, daß die IG Metall hier ihren Aufgaben, ihrer gesellschaftlichen Gestaltungsfunktion, überhaupt nicht mehr gerecht wird und deshalb auch entsprechende betriebliche Debatten nicht mehr stattfinden. Nachteilig wirkt sicherlich auch, daß die Partei der Grünen ihre fortschrittlichen verkehrspolitischen Positionen sukzessive über Bord geworfen und sich unlängst auch von ihrem weiterhin richtungsweisenden „Verkehrswende-Konzept“ offiziell distanziert hat. Findet bei Euch auf der betrieblichen und gewerkschaftlichen Ebene in dieser Richtung überhaupt nichts mehr statt?

J. St.: Es gibt noch einzelne Kollegen, die diese Phase seinerzeit aktiv miterlebt haben und jetzt noch mit Herzblut beispielsweise an technischen Konzepten wie Hybrid-Antrieben arbeiten. Aber die ganze Debatte, die damals unter Steinkühler initiiert und organisiert geführt worden ist und auch eine öffentliche und politische war, die gibt es jetzt nicht mehr. Ich kenne jedenfalls keinen Arbeitskreis innerhalb der IG Metall, der sich das noch auf die Fahnen geschrieben hat.

Stärken „Lustreisen“ die betriebliche Kampfkraft?

Frage: Jetzt noch einmal zurück zu aktuellen Problemen. Der VW-Betriebsrat hat ja unlängst für reichlich Schlagzeilen gesorgt: Lustreisen, Käuflichkeit von Betriebsräten und ähnliche Vorwürfe waren ja nicht nur in der Boulevard-Presse zu finden. Wie hat sich das auf das innerbetriebliche Gegenwehrpotential ausgewirkt?

J. St.: Das hat uns natürlich sehr getroffen und trifft uns auch weiterhin. Wir haben aber bereits insoweit einen gewissen Überblick, als daß wir sortieren können, an welchen Vorwürfen was dran ist und was politisch daraus gemacht wird, d. h., wie versucht wird, diese Geschichte zu instrumentalisieren, um VW als das Flaggschiff der Mitbestimmung vorzuführen, damit das Scheitern der Mitbestimmung zu propagieren und beispielsweise Belegschafts- und Gewerkschaftsvertreter aus den Aufsichtsräten der Unternehmen zu verdrängen. Diejenigen Vorwürfe, die begründet sind, haben ein Mißtrauen zwischen Belegschaft und Betriebsrat geschaffen, das noch nicht wieder abgebaut ist. Problem für uns ist auch, daß wir als Gremium in Kollektivhaft genommen werden, auch wenn diese Machenschaften Einzelnen zuzurechnen sind. In der Debatte mit der Belegschaft stehen wir mit offenem Visier da und legen die Punkte offen, von denen wir Kenntnis haben. Wir haben Verfahren nach § 119 Betriebsverfassungsgesetz (Begünstigung) selbst angeleiert und unterstützt; außerdem haben wir unsere Budgets und Reisekosten überprüfen lassen. Auch wenn die Situation in der Belegschaft noch labil ist, so werden doch vermehrt Stimmen laut, die sagen: „Jetzt reicht’s uns. So sind wir nicht.“ Die politisch instrumentalisierende und kampagnenhafte Seite dieser ganzen Auseinandersetzung wird zunehmend auch erkannt.

Frage: Sind Mechanismen denkbar oder schon installiert, um derartige Mißbräuche zukünftig auszuschließen?

J. St.: Wir haben bereits Konsequenzen aus der ganzen Angelegenheit gezogen. Es sind mehrere Fragen schon konkret angegangen worden, beispielsweise, daß bestimmte Abrechnungen und Spesen auf der Managementseite nur noch im „Sechs-Augen-Prinzip“ genehmigt werden dürfen, also daß nicht mehr eine Unterschrift allein genügt. Was die Konsequenzen intern bei uns, also betriebsrats- und IG Metall-seitig betrifft, da warten wir natürlich einerseits noch auf den Abschlußbericht, andererseits führen wir bereits eine intensive Aufarbeitungsdebatte.

Frage: Hat die personelle Neuorientierung in der Konzernspitze (Ausscheiden des Arbeitsdirektors P. Hartz; Übernahme der Verantwortung für die VW-Markengruppe durch den als kompromißlos bekannten früheren Daimler/Chrysler-Manager W. Bernhard) ein Ende der konsensorientierten Ausrichtung des VW-Managements zur Folge?

J. St.: Was die Beratungen in zentralen Gremien betrifft, da ist die Erfahrung jetzt so, daß wir uns durch eine andere Herangehensweise Respekt verschafft haben, auch dadurch, daß wir unsere Positionen entschiedener formulieren. Ich denke, es ist nicht nur von Nachteil, daß die Achse Gesamtbetriebsrats- bzw. Konzernbetriebsratsvorsitzender und Arbeitsdirektor, die ja im Vorfeld von Auseinandersetzungen immer schon viel vorgeklärt hat, jetzt nicht mehr da ist. Wir tragen jetzt alles viel offener aus. Pischetsrieder (Vorstandsvorsitzender) bekommt das jetzt weitaus direkter mit, eben weil er zur Zeit auch als Arbeitsdirektor fungiert. Dadurch ist er auch gezwungen, eine andere Sichtweise anzunehmen. Ich weiß nicht, welche Position er eingenommen hätte zu der am Jahresanfang geführten Debatte, ob der Standort Belgien geschlossen oder ob der Tarifvertrag eingehalten wird, wenn die Position des Arbeitsdirektors noch oder wieder besetzt gewesen wäre. Das ist sicher Spekulation, aber unstrittig ist, daß die Krise, durch die wir jetzt gegangen sind, dazu führt, daß wir die Kräfte zusammennehmen und versuchen, uns die Butter nicht vom Brot nehmen zu lassen. Auch bei den jüngsten Auseinandersetzungen zur neuen Geländewagenproduktion in Wolfsburg ist das im Klima deutlich geworden. Es gibt jetzt sehr viel mehr Kooperation untereinander, einen besseren Informationsfluß und häufigere Vorabsprachen ohne das Unternehmen, bevor wir in Verhandlungen gehen. Ich bin jetzt elf Monate Betriebsratsvorsitzender, aber jetzt fängt es an, mir auch in den zentralen Gremien Spaß zu machen.

Sparprogramme und Beschäftigungsabbau: Neue Wege der Mobilisierung und Beteiligung der Belegschaft

Frage: Der Automobilindustrie insgesamt und VW im besonderen stehen alles andere als ruhige Zeiten ins Haus. Sparprogramme, Beschäftigungsabbau und bei Euch aktuell die Entscheidung über ein zweites Modell neben dem „Passat“ in Emden, wo sich zeigen wird, wie sicher das Fundament noch ist, auf dem der VW-Haustarif steht. Seid Ihr gewappnet für die anstehenden Auseinandersetzungen? Siehst Du Defizite, die die Entwicklung von Gegenwehr beeinträchtigen können? Welcher Stellenwert kommt Vertrauenskörper und IG Metall in diesem Zusammenhang zu?

J. St.: Für die Auseinandersetzungen, die wir zu führen haben, registrieren wir zumindest, daß Befürchtungen, die wir noch vor sechs bis acht Wochen hatten, daß nämlich die Kampagne, die über uns herniedergeht und die uns selbst emotional enorm mitnimmt, zu einer Austrittswelle aus der IG Metall führt, daß das nicht eingetroffen ist. Wir haben hier am Standort Kassel seit Beginn der Kampagne 17 Austritte. Was die ganze Frage Gewerkschaft-Vertrauenskörper betrifft, da sind wir jetzt in einer Phase – durch die ganzen Angriffe und durch das, was als Sparprogramm angekündigt worden ist - wo wir dabei sind, uns neu zu formieren. Bei der Tarifrunde im letzten Jahr haben wir bereits gezeigt, daß wir mobilisierungsfähig sind. Wir haben noch nie erlebt, daß wir so eine Beteiligung an Warnstreikaktionen hatten, quer durch alle Bereiche. Zugespitzt möchte ich sagen, wenn wir hier im Werk morgen beispielsweise mit der Situation konfrontiert wären, daß die Gießerei verkauft werden soll, dann bräuchten wir keine fünf Minuten, um den Laden zum Stillstand zu bringen. Ob wir das Unternehmensziel damit abwehren könnten, steht auf einem anderen Blatt. Am Ende zählen immer die Ergebnisse. Ich glaube aber, daß wir bei unseren Mitgliedern noch mehr Vertrauen gewinnen können. Wir gehen, hier auf VW-Kassel bezogen, ziemlich stringent den Weg, die Mitglieder stärker an Entscheidungen zu beteiligen. So haben wir ein anderes Informationskonzept an die Belegschaft entwickelt, bei dem sich auch die Rolle der Vertrauensleute wandeln und wieder erhöhen wird. Beispielsweise haben wir jetzt einen festen Rhythmus von Vertrauensleute-Vollversammlungen (mindestens einmal im Monat durch alle Schichten), in denen nicht nur die Bereichsbetriebsräte, sondern auch die Betriebsratsspitze sich zur Diskussion stellen. Wir sind auch dabei, Instrumente zu entwickeln, mit denen wir uns schneller differenzierte Meinungen (nicht bloß „Ja“ oder „Nein“) einholen können. Beispielsweise lassen wir uns durch betriebliche Umfragen spiegeln auf Zufriedenheitsbarometern und auf bestimmte Themengebiete bezogen. Aktuell etwa zur Integration der Angestellten, weil wir die getrennte Vertretung der Angestellten aufgehoben haben. Außerdem werden wir in wenigen Tagen eine Wahlordnung für die Kandidatenaufstellung zur Betriebsratswahl beschließen, bei der zwar weiterhin die Vertrauensleute das Vorschlagsrecht haben und eine Liste wählen. Allerdings wird diese Liste allen IG Metall-Mitgliedern zur Abstimmung vorgelegt, so daß diese schon vor der Betriebsratswahl Einfluß auf die Liste nehmen können. Wir haben im Rahmen des veränderten Informationskonzeptes auch eine neue Form von Betriebsversammlungen erfolgreich erprobt. Wir haben in einer Woche insgesamt 39 Betriebsversammlungen in kleineren Einheiten durchgeführt; in der Früh-, Spät- und Nachtschicht über jeweils eineinhalb bis zwei Stunden. Dabei haben wir auch einen neuen Umgang praktiziert, in dem wir in einer offenen Form, quasi in so einer Art „Belegschaftsgespräch“, um einen Stehtisch herum versammelt waren und auf Fragen aus der Belegschaft direkt eingegangen sind. Die Bilanz ist schon recht überzeugend: So viele Leute haben wir mit Betriebsversammlungen noch nie erreicht. Traditionell sind auf unseren Betriebsversammlungen maximal 4.500 bis 5.000 Beschäftigte, jetzt haben wir gezählt und sind auf 9.052 gekommen. Über 340 Fragen zu den verschiedensten Themen wurden gestellt und beantwortet, so eine rege Beteiligung hatten wir noch nie. Auch so gelingt es uns, wieder stärker Vertrauen in der Belegschaft zu gewinnen und Terrain zurückzuerobern, das insbesondere in den letzten Wochen und Monaten verlorengegangen ist.

[1][2] Vgl. das Gespräch mit Rainer Einenkel zum Arbeitskampf 2004/2005 bei Opel in Z 62 (Juni 2005), S. 52-62 (Anm. der Red.)

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