Aktuelle Gewerkschaftsprobleme

„Wir können uns wehren – wir tun es nicht": Blick von unten auf Betrieb, Gewerkschaft und Staat

Befunde einer qualitativen Befragung von Vertrauensleuten, Betriebs- und Personalräten aus Produktion und Dienstleistung

von Richard Detje/Sandra Kawalec/Wolfgang Menz/Sarah Nies/ Dieter Sauer/Joachim Bischoff
September 2013

Hat letztlich doch das Systemvertrauen in den Kapitalismus obsiegt? Demoskopische Befunde des Instituts für Demoskopie (IfD) scheinen das nahe zu legen. Eine Mehrheit der Bevölkerung war in den unmittelbaren Krisenjahren 2008-2010 zunächst außerordentlich beunruhigt; die politischen Maßnahmen und die einsetzende Stabilisierung hätten das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft aber wieder hergestellt .

Zwar stimmt nahezu die Hälfte der Bundesbürger der Auffassung zu, „in seiner heutigen Form passe der Kapitalismus nicht mehr zu der Welt, die uns umgibt“ (IfD 2012a). Hinter dieser etwas sybillinischen Aussage steckt Erfahrungswissen. So wird Kapitalismus nicht nur abstrakt mit „sozialer Ungleichheit“, „Ausbeutung“ und „Gier“ assoziiert, sondern die Bundesrepublik Deutschland selbst wird von zwei Dritteln der Bundesbürger explizit als ein kapitalistisches System bezeichnet. Dennoch wird den ökonomischen und politischen Eliten von den Allensbacher Meinungsforschern Entwarnung signalisiert. Systemvertrauen nehme wieder zu. Erstens in der mittelfristigen Perspektive. Ein Höhepunkt der Systemkritik sei Mitte des vergangenen Jahrzehnts erreicht gewesen, als das Wirtschaftssystem nach dem Platzen der New-Economy-Blase und nachfolgender Stagnation als mit enormen Risiken behaftet wahrgenommen wurde und die Rot-Grüne Agenda 2010 zusätzlich zur Deregulierung des Arbeitsmarktes auch die soziale Polarisierung vorangetrieben hatte. „Noch 2006 zogen 37 Prozent die Bilanz, dass es ihnen wirtschaftlich schlechter gehe als fünf Jahre zuvor, Ende letzten Jahres meinten dies nur noch 25 Prozent. Umgekehrt nahm der Anteil der Wohlstandsgewinner von 19 auf 27 Prozent zu“ (ebd.). Diese Umkehrung werde – so das IfD – seit 2011 durch eine zweite Entwicklung verstärkt: Im wirtschaftliche Aufschwung erweise sich der zuvor in Frage gestellte deutschen Kapitalismus als effizient, wachstumsstark und seinen Konkurrenten überlegen. „Der wirtschaftliche Aufschwung hat das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft wiederhergestellt und den Rückhalt für das System gestärkt, der zuvor beunruhigend erodiert war.“ (Ebd.)[1]

Wir halten das für keine zutreffende Zeitdiagnose. Die Befunde verbleiben meist auf der Ebene punktueller Meinungsabfragen, Vermittlungsebenen sind unklar,[2] weite arbeitsgesellschaftliche Lebensbereiche werden nahezu systematisch nicht erhoben. Demoskopie ersetzt eben keine Analysen von Alltagsbewusstsein. Umso positiver ist es, wenn langsam wieder empirische Untersuchungen durchgeführt werden, mit denen neue Befunde sowie Brückenschläge zu grundlegenden Debatten über Arbeits- und Gesellschaftsbewusstsein in den 1970/80er Jahren geschlagen werden können (aktuell Dörre/Hänel/Matuschek 2013). Mit einer zweiten explorativen Studie (Detje/Menz/Nies/Sauer/Bischoff 2013) wollen wir dazu beitragen, diese Forschungsrichtung zu stärken.[3] Wir fassen unsere Befunde in zehn Thesen zusammen.

1. Keine Entwarnung: die permanente Krise dauert an

Die These aus Allensbach über im Aufschwung gewachsenes Systemvertrauen gilt für unsere spezifischen Befragungsgruppen gewerkschaftlicher und betrieblicher Funktionsträger nicht. Krisenwahrnehmung folgt nicht einfach dem konjunkturellen Auf und Ab, stellte 2008/2009 allerdings auch keine biografische Zäsur dar, wie man anhand von Vergleichen mit der „Great Depression“ der 1930er Jahre hätte vermuten können. Vielmehr steht die Erfahrung eines zur Permanenz gewordenen Krisenverlaufs im Vordergrund. Dabei wird auch ein wirtschaftlicher Aufschwung von als krisenhaft erfahrenen unternehmens- und arbeitspolitischen Restrukturierungsprozessen überformt.

Darin sehen wir auch einen zentralen Befund unserer ersten Studie bestätigt (Detje/Menz/Nies Sauer 2011). Zum damaligen Zeitpunkt – im Frühjahr 2010 – war das ökonomische Krisenerlebnis noch unmittelbar präsent, ein im Sommer 2009 einsetzender wirtschaftlicher Aufschwung hatte den Schock des Absturzes noch nicht kuriert. Zwei Jahre später wurde das Vorkrisenniveau in den industriellen Leitsektoren bereits wieder überschritten. Doch damit ist das Krisenbewusstsein nicht verschwunden. Aus dem zwischenzeitlichen Boom der exportorientierten Industrie resultiert kein neues Sicherheitsgefühl. Die „permanente Krise“ dauert an. Mit der Rückkehr zu dauerhafter ökonomischer Stabilität rechnet niemand. Der „kurze Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) ist schon lange ausgeträumt. Krisenhaftigkeit wird zum Charakteristikum der wirtschaftlichen Entwicklung – aber zugleich auch der routinisierte Umgang mit Krisen. Damit erweitert sich zugleich das Verständnis von „Krise“; neben dem ökonomischen Gehalt kommen betriebs- und maßgeblich arbeitspolitische Erfahrungen hinzu. Nimmt man diese erweiterte Dimension von Krisenverständnis, kann von neuer Systemlegitimation keine Rede sein. Das Krisenverständnis ist sehr viel komplexer, als demoskopische Erhebungen erfassen.

2. Aufschwung: Von der Arbeitsplatz- zur Arbeitskraft-
gefährdung

Dieses Krisenverständnis kann durchaus mit betrieblicher Prosperität einhergehen – beides schließt sich nicht aus. Einschneidende Reorganisationsprozesse, Arbeitsplatzabbau, Verlagerungspläne, die Übernahme durch einen Finanzinvestor, die Schließung von Produktionsstätten bleiben ebenso prägend wie wachsender Leistungsdruck und Arbeitszeitverlängerung. Doch die Problemzonen verändern sich. Das Gefühl der Arbeitsplatzgefährdung hat bei vielen Beschäftigten eher abgenommen. Zugenommen hat dagegen, was wir Arbeitskraftgefährdung nennen: Die Beschäftigten fürchten vermehrt, den Leistungsanforderungen nicht mehr zu genügen. Dagegen schützt auch nicht die ökonomische Prosperität des eigenen Unternehmens – gerade Reorganisationen und Verlagerungen finden schwerpunktmäßig außerhalb eminenter ökonomischer Krisenzeiten statt. Die Anforderungen verschärfen sich überall, im Exportsektor wie im Pflegebereich. Taktzeiten werden verkürzt, Stellen gestrichen, immer mehr muss in derselben Zeit erledigt werden. Im Krankenhaus heißt das zum Beispiel: immer weniger Personal pro Patient. Wir sprechen deshalb von einem Übergang von arbeitsmarkt- zu arbeitskraftbezogenen Risiken und Gefährdungen.

Zugleich sind Boom und Krise immer schwerer voneinander zu unterscheiden. Befinden sich die Betriebe in einem anhaltenden ökonomischen Aufschwung oder werden sie von den gesamtökonomischen Krisentendenzen bald wieder eingeholt? Solche Fragen zu beantworten, fällt den Beschäftigten immer schwerer.

Dies lässt sich als Tendenz zur Desintegration von Krisenerfahrungen bezeichnen: Von der Gesamtökonomie kann nicht in einer Linie auf die Betriebe geschlossen werden und zugleich fällt die Situation zwischen Betrieben und Beschäftigten wiederum auseinander. Prosperitätstendenzen auf einer dieser Ebenen scheinen nicht mehr automatisch auf andere Bereiche überzugreifen.

3. Diskrepanz: unsichere Ökonomie – persönliches
Selbstvertrauen

Auffallend ist eine Kluft, die zwischen den verschiedenen Existenzweisen des „Klassenindividuums“ und des „persönlichen Individuums“ (Herkommer 1979) verläuft. Offenbar kann das private Individuum mit seinem persönlichen Lebensbereich gesamtökonomische Krisentendenzen in erheblichem Maße abpuffern. Trotz aller Unsicherheiten im nationalen und mehr noch europäischen Krisenprozess überwiegt Optimismus für den persönlichen Bereich. Der Widerspruch ist konstitutiv: Die düsteren Aussichten für die gesellschaftliche Entwicklung (Krise und anhaltende Arbeitslosigkeit) stellen den Optimismus für die persönliche Entwicklung der befragten Beschäftigten kaum in Frage. Dies gilt aber auch nur für die eigene Perspektive. In der längeren Sicht nimmt Zukunftspessimismus hinsichtlich der Lebenschancen der nachfolgenden Generationen wiederum zu. Die für Nachkriegsgenerationen prägende Formel, dass es die Kinder mal „besser“ haben sollten, trägt nicht mehr. Man würde sich das wünschen, aber die sozialen Realitäten werden als dem entgegenstehend wahrgenommen. Der Blick in die weitere Zukunft verheißt Verschlechterung.

Die „Gelassenheit“, die unsere Befragungsgruppen trotz permanenter Krisenerfahrung zum Ausdruck bringen, signalisiert kein Systemvertrauen, auch kein Sicherheitsversprechen des „guten Betriebs“ (Dörre u.a. 2013), sondern erklärt sich maßgeblich aus dem Bewusstsein der eigenen Leistungsfähigkeit, der individuellen Handlungskompetenzen, der Qualifikation und der eigenen Ressourcen.[4] Prägend ist persönliches Selbstvertrauen. Anders ausgedrückt: Es ist das Wissen, dass es die eigene lebendige Arbeit ist, die für betriebliche Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit steht, und das Selbstbewusstsein, mit den eigenen Kompetenzen auch andernorts unterkommen zu können. Sicherheit geben auch die Familie, soziale Netzwerke und auch Ersparnisse. Und wenn es hart auf hart kommen sollte, ist man immer noch in der Lage, den eigenen Lebensstil veränderten Verhältnissen anzupassen, im Zweifelsfall Genügsamkeit an den Tag zu legen.

Sicherlich: Wäre es im Krisenjahr 2009 nicht gelungen, die Beschäftigung der Stammbelegschaften zu sichern und die Arbeitsmärkte stabil zu halten, wären schnell die Grenzen der eigenen Krisenbewältigungsstrategie erreicht worden. Doch die Entschärfung der Arbeitsplatzrisiken hat die Wahrnehmung der eigenen „Krisenkompetenz“, die wir bereits in der Ausgangsstudie beobachten konnten, eher noch verstärkt. Es ist eben nicht Sicherheit im Kontext von Systemvertrauen und weniger das Organisationsvertrauen in den eigenen Betrieb, sondern das Vertrauen in die eigene Kompetenz, auch im Umgang mit langjährig erfahrenen Krisenprozessen.

4. Vergleichbare arbeitspolitische Zumutungen in Industrie und sozialen Dienstleistungen statt fortschreitender
Fragmentierung

Betrachtet man nicht nur die Entwicklung in führenden Branchen des industriellen Sektors – in unserer Befragung der Metall- und der textilen Automobilzulieferindustrie –, sondern auch die Situation in sozialen Dienstleistungsberufen – hier: Pflegekräfte und ErzieherInnen –, könnte man fortschreitende soziale Fragmentierung vermuten, weil sich der Bogen auf dem Arbeitsmarkt – und umgekehrt in den Verteilungsverhältnissen – weiter spannt: Den Risiken industrieller Beschäftigung steht eine überschießende Nachfrage nach Pflegekräften und ErzieherInnen gegenüber, während umgekehrt einem vergleichsweise hohen Durchschnittslohnniveau in industriellen Leitsektoren oft kaum existenzsichernde Einkommen, in jedem Fall aber keine Einkommensverhältnisse gegenüberstehen, die eine vergleichbare Beteiligung am gesellschaftlichen Reichtum ermöglichen. Können da Interessen überhaupt noch auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, gebündelt werden?

In unserer Befragung haben wir Hinweise darauf erhalten, dass das gelingen kann. Die Erfahrungen von Industrie- und Dienstleistungsbeschäftigten sind hinsichtlich ihrer Arbeits- und Leistungsbedingungen erstaunlich ähnlich. Eine Arbeitsplatzgefährdung wird im Bereich Erziehung und Pflege angesichts des dortigen Arbeitskräftemangels kaum wahrgenommen. Virulent ist aber wachsende Arbeitskraftgefährdung: Wachsende Arbeitsanforderungen, ein immenser Verantwortungsdruck bei gleichzeitiger Reduzierung von qualifiziertem Personal, entgrenzte Arbeitszeiten, aber auch steigende körperliche Anstrengungen bringen die Beschäftigten immer mehr an Belastungsgrenzen.

Ein seriöser Vergleich von Ausmaß und Höhe der Belastungen zwischen den von uns in Augenschein genommenen Tätigkeitsfeldern ist mit unserer gewählten Forschungsmethodik nicht möglich; uns scheint gerade der Klinikbereich besonders hohen Belastungen ausgesetzt zu sein. Aber im Grundsatz zeigen die arbeitspolitischen Zumutungen keine sektoralen Differenzen.[5]

Wenn dieser Befund zutreffend ist, dürften die gewerkschaftspolitischen Schlussfolgerungen weitreichend sein. Zum einen, was die Aufwertung einer kritischen Arbeitspolitik als zentralem gewerkschaftlichen Handlungsfeld – und damit einer kritischen Industriesoziologie – anbelangt. Zum anderen für eine Strategieentwicklung, die sehr viel stärker – einige meinen: überhaupt erst einmal – einzelgewerkschaftliche Erfahrungshorizonte in Beziehung zueinander setzt, kooperativ überschreitet und Plattformen für gemeinsames Handeln schafft.

5. Politisierung: Entschärfung der Ausgrenzung prekärer Beschäftigung?

Im Vergleich zwischen den beiden Erhebungsphasen fällt die verstärkte Politisierung prekärer Beschäftigung auf. Dies gilt nicht nur für die „große“ gewerkschaftliche Politik, sondern auch für die Betriebsräte vor Ort. Der Kampf gegen Leiharbeit und für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Leiharbeiter ist unseren Befragten ein wichtiges Anliegen, mehr als zwei Jahre zuvor. Damals erfolgte in der Tat Beschäftigungssicherung für Stammbelegschaften auch dadurch, dass umgehend nach Ausbruch der Krise Leiharbeit und Werkvertragsverhältnisse abgebaut wurden. Das kann man als reale soziale Spaltung deuten. Doch worauf wir auch unter dem Eindruck des Krisenschocks nicht stießen, war mental nachvollzogene Spaltung.

Hier spielt das Spezifikum unserer Befragungsgruppen ohne Zweifel eine große Rolle: Befragt wurden InteressenvertreterInnen, für die kollektiver Zusammenhalt, Solidarität über Berufsgruppen und beruflich-sozialen Status hinaus gleichsam interessenpolitische Arbeitsgrundlage ist. Und es spielt mit Sicherheit eine größere Rolle, dass sich insbesondere ver.di und die IG Metall zum Zeitpunkt unserer Befragung vehement für die strikte Begrenzung von Leiharbeit, die Übernahme in unbefristete Beschäftigungsverhältnisse und Equal Pay eingesetzt haben. Aber Solidarität kann verschiedene, teilweise gegensätzliche Formen annehmen. Die Jenaer Forschungsgruppe ist in ihren Befragungen auf Formen exkludierender Solidarität gestoßen – kurz: der Sicherung der Stammbelegschaften durch einen relativ ungeschützten, flexiblen Randbereich prekärer Beschäftigung. Nicht, dass große Belegschaftsteile das in jedem Fall rechtfertigen, aber solange die soziale Spaltung nicht durch allgemeine politische Lösungen überwunden wird, werde sie nicht nur hingenommen, sondern auch als Sicherheitsreserve für das Stammklientel genutzt, so die These.

Wir können das mit unserer Untersuchung nicht in Abrede stellen – aber eben auch nicht bestätigen. Unsere These ist, dass hier vor, in und nach der Krise Beschäftigtenlernen und Organisationslernen stattgefunden hat. Denn was einmal als möglicher Schutz erschien, kann zur Bedrohung werden. Unter anderem dadurch, dass prekäre Beschäftigung weit über soziale Ränder des Arbeitsmarktes und der betrieblichen Beschäftigungsverhältnisse hinausreicht. Der dynamische Wiederanstieg der Leiharbeit auf nahezu eine Million ist zwar gemessen an allen Beschäftigungsverhältnissen mit drei Prozent in überschaubarer Größenordnung geblieben. Doch in Teilbereichen der Metallindustrie und in Pflegeberufen sind die Anteile sehr viel höher – Leiharbeit ist dort keine Randbeschäftigung mehr, sondern in Kernbeschäftigungsfelder vorgedrungen. Damit ist sie nicht nur Flexibilitätspolster, sondern zu einem Druckfaktor für die Einkommens- und Arbeitsverhältnisse insgesamt geworden, der neue Anläufe von Regulierung und Eindämmung verlangt. Wir meinen: Hier haben Lernprozesse in Richtung inkludierender Solidarität stattgefunden. Auch hier: berufsübergreifend, im industriellen wie im Dienstleistungssektor.

6. Interessenvertretungen industrieller Arbeit sehen sich in einem Mobilisierungsdilemma

Generell lautet die Einschätzung der Befragten, dass sich nach der Überwindung des ökonomischen Einbruchs die „objektiven“ Bedingungen für erfolgreiche Interessenpolitik verbessert haben; die tarifpolitische Entwicklung der letzten Jahre gibt dem Recht. Bei anziehender Auftragslage erhöhen sich die Einflussmöglichkeiten von Beschäftigten und ihren VertreterInnen, Streiks könnten die Unternehmen empfindlich treffen. Dennoch werden die Handlungsmöglichkeiten als restringiert geschildert. Die befragten InteressenvertreterInnen im industriellen Bereich sehen sich in einem Mobilisierungsdilemma. Dafür werden vor allem subjektive Faktoren als maßgeblich angeführt: Weite Teile der Belegschaften seien in Passivität zurückgefallen; von „unten“ komme wenig an Aktivität. Warum das so ist, bleibt im Dunkeln – Individualismus, Lethargie sind bestenfalls Hilfsargumente. So sehen sich die InteressenvertreterInnen in eine Rolle von Stellvertreterpolitik gedrängt.[6] Sie sehen sich in der Rolle derer, die die Initiative ergreifen, voranmarschieren und sich rückblickend versichern müssen, nicht alleine zu gehen.

Die andere Seite des Mobilisierungsdilemmas: In dieser Konstellation erwarten die betrieblichen InteressenvertreterInnen mehr unterstützende Vorgaben von „oben“ – von der Gewerkschaft. Nicht nur von der Verwaltungsstelle als der untersten Gliederung, sondern auch von der Spitze, von der „Gesamtorganisation“. Es sind weitere Befragungen erforderlich, dies näher auszuleuchten. Schließlich handelt es sich um ein sehr rationelles Kalkül betrieblicher und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, kollektive Organisationsmacht über die eigenen Vor-Ort-Potenziale hinaus in Stellung zu bringen (sich ihrer zumindest zu versichern). Und die Verknüpfung von betrieblicher und überbetrieblicher Interessenvertretung, mehr noch: das stärkere Wiedereinbringen der Gewerkschaft als wichtigem Akteur auch in betrieblichen Auseinandersetzungen, verbindet Primär- mit Organisationsmacht und optimiert damit die Machtressourcen. Aber in dieser Konstellation kann auch stecken, worauf wir gestoßen sind: Die Anrufung des „kollektiven Ganzen“ aufgrund selbst nicht mobilisierbarer Machtressourcen.

7. Neue Mobilisierungsperspektiven in sozialen
Dienstleistungsfeldern

Einen scharfen Kontrast zum Mobilisierungsdilemma in den Industriebetrieben bilden die beiden Dienstleistungsfelder. Insbesondere im Erziehungsbereich (Kitas) ist die Protest- und Widerstandsbereitschaft in den letzten Jahren erheblich gestiegen und hält sich auch nach dem öffentlichkeitswirksamen ErzieherInnen-Streik 2009 auf hohem Niveau. Auch in den Krankenhäusern ist nicht nur das Bewusstsein für Veränderungsnotwendigkeiten – solche artikulieren unsere Befragten aus allen Branchen –, sondern gleichfalls das Bewusstsein für Handlungsmöglichkeiten hoch. Das Einverständnis unter den Beschäftigten, den Weg kollektiven Handelns zu gehen, ist ausgeprägt. Offizielle Rhetoriken von Alternativlosigkeit und Verzichtsnotwendigkeiten verfangen weniger. Das Vertrauen in bestehende politische Institutionen und Akteure ist auch hier nicht sonderlich hoch – dafür aber das Bewusstsein, dass politisch gehandelt werden muss: durch eine möglichst breite Mobilisierung an der Basis.

Hier macht sich ein Unterschied zwischen Industrie und öffentlicher Daseinsvorsorge geltend. In den sozialen Dienstleistungsbereichen herrschen keine vermeintlich „ehernen“ Gesetze von globaler Wettbewerbsfähigkeit, die bei „Strafe des Untergangs“ befolgt werden müssen. Prägend ist vielmehr, dass Fragen der Beschäftigung, der Arbeitsbedingungen und der Entlohnung durch das Nadelöhr der Politik gehen. Es sind politische Entscheidungen unter anderem darüber, welche pflegerischen Antworten auf die Alterung der Gesellschaft und welche erzieherischen Antworten auf veränderte Familienstrukturen, Rollenmuster und Erwerbsverläufe gegeben werden. Hier wirkt der Krisenverlauf anders als in industriellen Strukturen. Neue Legitimationsprobleme sind durch das Spezifikum der Finanzmarktkrise aufgerissen: Das TINA-Argument (there is no alternative) hat zumindest bei den von uns Befragten erheblich an Überzeugungskraft eingebüßt, oft war es auch ohnehin mehr zähneknirschendes Zugeständnis. Denn plötzlich stand sehr viel Geld zur Verfügung, als es darum ging, „Banken zu retten“ oder auch nur offenkundig fehlgeplante städtebauliche Großprojekte nachzufinanzieren. Der simple Verweis auf krisengebeutelte öffentliche Einnahmen und wachsende Staatsverschuldung ist dann kein überzeugendes Argument mehr. Vor allem nicht, wenn damit eine Personalpolitik begründet wird, die die Beschäftigten im leistungspolitischen Überlastbereich krank macht und mit der auskömmliche Einkommen verweigert werden. „Krise“ erscheint dann mehr noch in diesen Bereichen als machtpolitische Legitimationsformel.

8. Stärkung autonomer Gewerkschaftspolitik mit Distanz zum politischen Feld

Trotz Kritik: Gewerkschaften bleiben diejenigen Institutionen, die das größte Vertrauen genießen. Gefordert wird von ihnen, wie zuvor in der ersten Studie, ein stärkeres politisches Engagement. Das politische Mandat der Gewerkschaften erscheint unstrittig. Man könnte von einem impliziten Minimalkonsens politischer Regelungserfordernisse sprechen: Entprekarisierungspolitik im Sinne der Begrenzung und stärkeren Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen, existenzsichernde Lohnuntergrenzen durch einen gesetzlichen Mindestlohn. Ebenso betrifft dieser Konsens klassische Felder des Arbeitsschutzes und der Arbeitszeit sowie des Kündigungsschutzes und schließlich sozialstaatliche Regulierungen von Lohnersatzleistungen über soziale Daseinsvorsorge bis zu Chancengleichheit bei Bildung und Ausbildung. Aus „Krise ohne Konflikt?“ wissen wir, dass diesem Mandat in Teilen auch ein sehr traditionell-repräsentatives Verständnis von politischen Aushandlungsprozessen unterliegt: Es gelte, mit der politischen Spitze (der Bundesregierung) „auf gleicher Augenhöhe“ zu verhandeln.

Im Krisenverlauf nach 2008 hätte man erwarten können, dass dieses in Repräsentativstrukturen eng geführte Mandat eine Aufwertung erfährt, und zwar dahingehend, dass ein beschäftigungs- und letztlich auch verteilungspolitisch erfolgreiches Krisenmanagement von Gewerkschaften, Unternehmen und Staat als Win-win-Situation geschätzt würde. Doch das ist – bei unseren Befragungsgruppen – nur in einem sehr eingeschränkten Sinne der Fall.

Die Orientierung geht in eine andere Richtung: Gewerkschaftliche Akteure sollen sich aus dem professionellen politischen Feld fernhalten. Gefordert wird eine oppositionelle „Politik aus der Distanz“, kein Eindringen in die politischen Institutionen. Legitimitätsverluste wären die Folge, wenn die Gewerkschaften sich auf eine stärkere politische Einbindung einließen. Mehr Unterstützung hätten dagegen Strategien autonomer Revitalisierung.

9. Institutionelle Politik ist entlegitimiert

Dieses Distanzgebot wird plausibel, wenn man die Einschätzungen zum politischen System näher betrachtet. Sie bleiben weiterhin – wie schon in „Krise ohne Konflikt?“ – desaströs. Dem unterliegt eine Wahrnehmung des politischen Feldes, das sich von lohnabhängiger Interessenvertretung weitgehend entkoppelt hat. In unseren Gruppendiskussionen und Interviews wird Postdemokratie gespiegelt: Demokratische Fassaden stehen noch, doch was dahinter passiert, hat mit Herrschaft des Demos wenig zu tun. Erstens, weil die Professionellen das Feld nach ihren aparten Regeln und selbstbezüglichen Interessen gestalten.[7] Bezugnahme auf die „kleinen Leute“ ist in rhetorischen Formeln erstarrt. Täuschen lässt man sich damit nicht: Desinteresse und Nicht-Verständnis hören unsere Befragungsgruppen als Subtext heraus, mitunter auch elitäre Verachtung. Der Begriff der „politischen Klasse“ erhält hier Substanz: eine aparte gesellschaftliche Gruppe, die ihre eigenen Interessen verfolgt. Nur machtbewährte eigensinnige Interessenvertretung vermag korrigierend zu intervenieren.

Doch da gilt zweitens: Die maßgeblichen politischen Apparate werden als gekapert angesehen. Gerade im Krisenverlauf habe sich gezeigt: Primat der Ökonomie statt Vorrang politischer Gestaltung. Das Wort der Kanzlerin von der „marktkonformen Demokratie“ ist kein begrifflicher Ausrutscher, sondern bezeichnet den Erfahrungshorizont unserer Befragungsgruppen: als Beschreibung einer Realität, die von den ökonomisch Mächtigen – dem Kapital – bestimmt wird. Die im betrieblichen und überbetrieblichen Bereich als herrschend erfahrenen Interessen haben sich – in der Bewertung unserer Befragungsgruppen – auch im politischen Feld durchgesetzt. Die Krisenbewältigungspolitik 2009/2010 wird in diesem Kontext auch nicht als (keynesianischer) Politikwechsel gesehen, sondern als Systemerhalt in Zeiten einer systemischen Krise.

Hoffnungen auf seine zumindest partielle Wiederaneignung des politischen Feldes im Sinne einer Interessenpolitik der Beschäftigten hegen unsere Befragten nicht. Charakteristisch ist, dass sie kaum noch Ansprüche an die staatliche und parteiförmige Politik stellen. Die SPD ist auch zehn Jahre nach der Strategiewende der Agenda 2010 in den Augen unserer Befragungsgruppen erheblich diskreditiert – es fehlt an Glaubwürdigkeit und ernsthaftem Einsatz für das gesellschaftliche Unten. Auch die wenigen Parteimitglieder, die wir unter unseren Befragten hatten, haben einen kritischen Blick auf die Partei, halten aber an der Notwendigkeit parteipolitischen Engagements fest. Der LINKEN werden durchaus Sympathien entgegengebracht, ohne dass damit aber reale Veränderungsperspektiven verbunden sind. Einige sahen zum Zeitpunkt unserer Befragung in den PIRATEN eine neue Artikulationsform von Protest, allerdings nicht als soziale Interessenvertretung sondern vielmehr im Sinne der „Aufmischung“ des politischen Feldes. Wir haben es ganz offensichtlich nicht einfach mit Delegitimierungstendenzen zu tun, sondern mit einer regelrechten Ent-Legitimierung der institutionellen Politik. Die Politik befindet sich bereits jenseits von Legitimationsproblemen – denn Legitimitätsansprüche, die enttäuscht werden können, werden gar nicht mehr formuliert.

10. Der Staat wird als Institution der „anderen Seite“
wahrgenommen

Der Staat wird nach einer drei Jahrzehnte umfassenden neokonservativ-neoliberalen Epoche als nicht mehr nur enteignete und entfremdete, sondern vielfach auch als feindliche Institution wahrgenommen: als der Staat „der anderen“. Was politisch gestaltet werden muss – Beispiel: gesetzlicher Mindestlohn –, muss ihm abgetrotzt werden. Der Staat gilt ganz und gar nicht als neutrale Instanz, die ausgleichend über den sozialen Interessen stünde, sondern wird durch die Brille eines wieder geschärften dichotomischen Gesellschaftsbildes gesehen. Dem Staat werden durchaus Funktionen zugewiesen, aber soweit es sich dabei um soziale Aufgabenzuweisungen handelt, wird deren Einlösung ohne sozialen Druck als wenig wahrscheinlich unterstellt.

Hier ist noch einmal zu betonen, dass die von uns befragten gewerkschaftlichen InteressenvertreterInnen kein repräsentatives Sample darstellen. Dennoch könnten wir es hier mit einer Grundstruktur von Alltagsbewusstsein zu tun haben, auf die bereits in Untersuchungen Mitte der 1970er Jahre verwiesen wurde: „Gerade weil von den Arbeitern in Bezug auf die Wahrnehmung ihrer zentralen ökonomischen Interessen der Staat nicht in der Verantwortung gesehen wird, bleibt die eigene Interessenvertretung, bleiben die Gewerkschaften von ... zentraler Bedeutung. (…) Von hier aus bietet sich eine andere Interpretation des in vielen Studien festgestellten Verständnisses der Arbeiter von angemessener Gewerkschaftspolitik an, wonach sich die Gewerkschaften aus der ‚Politik’ raushalten sollten und ganz auf soziale Interessenvertretung sich zu beschränken haben … (Danach) dürfte diese Festlegung von Gewerkschaftshandeln weniger als eine restriktive zu verstehen sein denn als eine Konzentration auf die für die materielle Reproduktion zentrale Sphäre der unmittelbaren und damit auch für die Arbeiter kontrollierter geführten Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit.“ (Baethge/Schumann 1975: 68f.)[8]

Fazit

Was in unserer Befragung letztlich zum Ausdruck kommt, sind Systemerfahrungen. Wir waren darauf ebenfalls bereits in „Krise ohne Konflikt?“ gestoßen und hatten diese als „adressatenlose Wut“ bezeichnet: Nicht die einzelnen Akteure – auch nicht das Management oder der Banker vor Ort – werden als Verursacher der Krise gesehen, da letztlich auch sie Systemlogiken und -parametern folgen. Unsere aktuelle Befragung legt nun nahe, dass auch der Staat und seine aus der Lohnarbeiterperspektive relevanten Apparate in die Systemerfahrungen eingeordnet werden.

Ein zweiter Befund ist neu. In der ersten Studie lautete die zusammenfassende These aus den Interviews und Gruppendiskussionen: „Wir wollen uns wehren, aber wir können nicht!“ In der neuen Untersuchung lautet die summarische Einschätzung: „Wir können uns wehren, wir tun es nicht“. Wieder scheinen die Handlungsoptionen verriegelt, diesmal aber nicht nur aufgrund eines mangelnden Adressaten von Protest, sondern auch aufgrund mangelnder Mobilisierungsbereitschaft und Inaktivität der Belegschaften. Hier wird ein Unterschied zu unserer vorhergehenden Befragung deutlich: Die Wut auf die heftig kritisierten Verhältnisse ist nicht kleiner geworden und auch die Protestfantasien sind geblieben, aber es gibt eine stärkere Rückbesinnung auf die eigenen Möglichkeiten, auf die individuelle Kraft. Damit wächst aber auch die Kritik an der eigenen Bewegungslosigkeit: Zwar wird diese meist auf die anderen verschoben, die sich nicht trauen oder zu bequem und zu selbstzufrieden sind, aber es werden auch selbstkritisch die eigenen nicht genutzten Widerstandspotentiale thematisiert.

Und es werden erfolgreiche Beispiele sichtbar, in denen Passivität – die nicht immer Desinteresse oder mangelnder Widerstandsgeist bedeutet – aufgebrochen werden kann. Statt Protestfantasien wird die Vorstellung einer möglichst breiten Mobilisierungsperspektive, eines eigenen Wegs des organisierten Massenprotests verfolgt. Über den notwendigen Weg kollektiven Handelns herrscht weitgehendes Einverständnis: „Wenn der Druck nicht von unten kommt, dann erreicht man nichts“. Symbolische Protestformen haben ihren Sinn, entscheidend bleibt eine dauerhafte Veränderung der Kräfteverhältnisse.

Literatur

Martin Baethge/Michael Schumann (1975): Legitimation und Staatsillusion im Bewusstsein der Arbeiter, in: Martin Osterland (Hrsg.): Arbeitssituation, Lebenslage und Konfliktpotential. Frankfurt a.M./Köln.

Achim Bigus (2012): Krise, Widerspruchserfahrungen und Klassenbewusstsein, in: Z 92, Dezember 2012, S. 43-56.

Pierre Bourdieu (2001): Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz.

Richard Detje/Wolfgang Menz/Sarah Nies/Dieter Sauer (2011): Krise ohne Konflikt? Interessen- und Handlungsorientierungen im Betrieb – die Sicht der Betroffenen. Hamburg.

Richard Detje/Wolfgang Menz/Sarah Nies/Dieter Sauer/Joachim Bischoff (2013): Krisenerfahrungen und Politik. Der Blick von unten auf Betrieb, Gewerkschaft und Staat. Hamburg.

Klaus Dörre/Anja Hänel/Ingo Matuschek (Hrg.) (2013): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Soziologische Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben. Hamburg.

Thomas Goes (2012): Legitimationsprobleme im Gegenwartskapitalismus? Überlegungen zu neueren Befunden der Arbeits- und Krisenbewusstseinsforschung, in: Z 92, Dezember 2012, S. 57-69.

Sebastian Herkommer (1979): Gesellschaftsbewusstsein und Gewerkschaften. Hamburg.

Institut für Demoskopie (2012a): Das Unbehagen am Kapitalismus, in: FAZ, 23. Februar.

Institut für Demoskopie (2012b): Optimistisch ins Jahr 2013. Allensbacher Kurzbericht, 28. Dezember.

Burkart Lutz (1984): Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Frankfurt a.M./New York.

Iris Nowak/Jette Hausotter/Gabriele Winker (2012): Entgrenzung in Industrie und Altenpflege: Perspektiven erweiterter Handlungsfähigkeit der Beschäftigten, in: WSI-Mitteilungen Heft 4: 272-279.

[1] Das IfD argumentiert hier mit einer Unterscheidung zwischen „Kapitalismus“ und „Marktwirtschaft“, wobei ersterer für Krise und soziale Ungerechtigkeit, letztere für Unternehmergeist und Effizienz stehe. Wie weit das durch die Befragung des IfD abgedeckt ist, sei angesichts des Befundes, dass 66 Prozent der Bundesbürger Deutschland als ein kapitalistisches System klassifizieren, dahingestellt. Für Deutschlands größten privaten Think Tank, die Bertelsmann Stiftung, sind Umfragen wie diese allerdings willkommener Anlass, das Projekt „Soziale Marktwirtschaft“ neu einzubringen.

[2] Letzteres wird beispielsweise deutlich, wenn nach Zukunftserwartungen gefragt wird. In der kurzen Frist scheint sich dabei die „Konjunkturthese“ zu bestätigen, wonach ein wirtschaftliche Aufschwung positiver in die Zukunft blicken lässt. Doch in der mittleren bis längeren Sicht laufen die Befragungsbefunde der These wachsender Systemzuversicht nach dem Verblassen der Agenda 2010 entgegen, wenn eine Mehrheit der Bundesbürger davon ausgeht, dass der schlimmste Abschnitt der Krise noch bevorsteht (IfD 2012b). Unseres Erachtens gehen in derartige Statements unterschiedliche Kontexte ein. In Jahresausblicken werden die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten stärker kalkuliert, in die weitere Perspektive geht dagegen mehr die gesellschaftliche Erfahrung mit restringierten Handlungsmöglichkeiten ein, dabei insbesondere die äußerst beunruhigende Erfahrung deutlich schlechterer Chancen für die nachwachsende Generation. Damit liegen den Statements auch unterschiedliche Begrifflichkeiten von „Krise“ zugrunde.

[3] In dieser Studie verfolgen wir eine doppelte Fragestellung: (a) Krisenwahrnehmungen in den Jahren 2010-2012, wobei wir vergleichend an unsere erste Befragung anschließen können (Detje/Menz/Nies/Sauer 2011) und (b) Einschätzungen zu staatlicher Politik, Parteien und Gewerkschaften. Die Befragungsgruppen sind gegenüber der Vorgängeruntersuchung ausgeweitet worden: Erneut handelt es sich im Wesentlichen um gewerkschaftliche InteressenvertreterInnen (Vertrauensleute, Betriebs- und Personalräte), aber neben Betrieben aus der Metall-/Elektroindustrie und der textilen Zulieferindustrie haben wir Interviews und Gruppendiskussionen mit KrankenpflegerInnen und ErzieherInnen aus Kindertagesstätten durchgeführt. Dabei ging es uns angesichts des begrenzten Zugriffs um betriebliche „arbeitsgesellschaftliche“ Erfahrungen. Die Befragung besteht aus zehn Gruppendiskussionen und zwölf leitfadengestützte Interviews mit insgesamt 70 Befragungspersonen (m/w) aus 29 Betrieben/Arbeitsstätten. Die Befragungen wurden in den Monaten Februar, Mai, September, November, Dezember 2012 durchgeführt. Die Studie wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert, wofür wir uns auch an dieser Stelle bedanken möchten.

[4] Dörre u.a. subsumieren dies alles unter dem Begriff des „guten Betriebs“ – wir würden die unterschiedlichen Ebenen („Firmenbewusstsein“, betriebliches Leistungs- und Sozialregime, individuelle Kompetenzen etc.) eher auseinanderhalten. In gemeinsamen Diskussionen könnte dies näher geklärt werden. Achim Bigus (2012) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass divergierende Befunde unserer und der Jenaer Untersuchungen teilweise auf die unterschiedlichen Personengruppen zurückzuführen sind, die befragt wurden. Kontrovers bleibt aber, wie auch Thomas Goes (2012: 65ff.) hervorhebt, die These eines qualitativen Bruchs zwischen positivem Betriebs- und negativem Gesellschaftsbewusstsein. Goes wirft in diesem Zusammenhang weitergehende Fragen u.a. nach den „Quellen der (Gesellschafts-)Kritik“, betrieblich-institutionellen Integrationsprozessen und Mechanismen der Problemreduzierung auf, die weitere Untersuchungen erfordern.

[5] Hier ordnen sich unseres Erachtens auch Befunde der Befragungsstudie von Nowak/Hausotter/Winker (2012) über Entgrenzungsprozesse von Arbeits- und Lebensverhältnissen in Industrie und Altenpflege ein. Wenn über AltenpflegerInnen, FacharbeiterInnen und IngenieurInnen von ihnen jedoch das große Dach der „Prekarisierung“ gespannt wird, droht unseres Erachtens der kritische Gehalt von Prekarität in einem catch-all-Begriff eher verloren zu gehen.

[6] Die Reichweite eines sich hier andeutenden Zurückgeworfenseins auf Stellvertreterpolitik wäre näher zu klären. Siehe hierzu auch Bigus 2012: 47f., 53f.

[7] Hierauf wäre im Sinne der Feldtheorie Bourdieus näher einzugehen: „Das Feld ist ein Universum mit eigenen Bewertungskriterien, die in einem anderen Mikrokosmos keine Gültigkeit haben.“ (Bourdieu 2001: 42) Daran schließen sich die Unterscheidung zwischen Laien und Professionellen und spezifische Entfremdungs- und Ausgrenzungsprozesse („Schließungen“) an. „Je mehr sich ein politischer Raum verselbständigt, desto mehr entwickelt er eine eigene Logik, desto mehr tendiert er dazu, nach den dem Feld inhärenten Interessen zu funktionieren, und desto größer wird der Bruch mit den Laien.“ (Ebd.: 47)

[8] Allerdings würden wir nicht so weit gehen, „dass der Arbeiter keine Selbstdefinition als Staatsbürger entwickelt, die der Trennung des bürgerlichen Individuums in Bourgeois und Citoyen innerhalb der klassischen liberalen Theorie zugrunde liegt“ (Baethge/Schumann 1975: 58).

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