Eine neue Phase des Kapitalismus

Die Große Krise und der Aufstieg des Südens

von Jörg Goldberg
Dezember 2014

Die Periode seit Mitte der 1970er Jahre ist in der Bundesrepublik Deutschland einerseits gekennzeichnet durch eine Kontinuität, die mit dem Stichwort ‚Modell Deutschland’ oder auch ‚Rheinischer Kapitalismus’ nur angedeutet ist. Abelshauser beschreibt dessen Grundlage als „stabiles soziales System der Produktion …, dessen Grundprinzip nicht in der Konkurrenz, sondern in der Kooperation zwischen den wirtschaftlichen Akteuren lag.“ (Abelshauser 2007, 38) Den Beginn dieses spezifisch deutschen Produktionssystems setzt er mit der „Großen Krise“ von 1873 an, in Deutschland auch als Gründerkrise bekannt, die erst Mitte der 1890er Jahre in eine neue Prosperitätskonstellation überging.[1] Abelshauser zufolge markiert diese „korporative Marktwirtschaft“ (ebd., 40) ein „in wirtschaftspolitischer Hinsicht ‚langes’ 20. Jahrhundert …, das im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzt und mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts noch nicht beendet sein muss.“ (ebd., 52) Für die Kontinuität dieses Produktionssystems sprechen – bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland – auch jüngere Entwicklungen: Der „Wettbewerbskapitalismus“ der Großen Koalition von 2013 steht in dieser Tradition (Goldberg/Leisewitz/Reusch 2014, 148 ff.).

„Große Krisen“ im globalen Süden

Andererseits überspannen diese 40 Jahre gleich zwei „Große Krisen“, die von 1973/75 und die (andauernde) von 2008ff. „Große Krisen“ gelten als tiefe Einschnitte, als Strukturbrüche im Kapitalismus, markieren also Diskontinuitäten. Dieter Boris hat (in diesem Heft, S. 8) deutlich gemacht, dass die Rede von Strukturbrüchen – weil dabei immer Momente von Kontinuität und Diskontinuität im Spiel sind – mit großer Vorsicht zu gebrauchen ist: Fast immer handele es sich um „partielle“ Umbrüche, „die regional, sachlich-sektoral sowie in ihren Zeitrhythmen ganz unterschiedlich ausfallen können bzw. sogar ausbleiben.“

Dies gilt auch für die Krisen von 1973/75 und 2008ff. Denn 2008 blieb genau das aus, was noch die Umbrüche von 1929/32 und 1973/75 markiert hatte: Der Übergang zu neuen Akkumulationsregimen, im ersten Fall der Siegeszug des Keynesianismus („Fordismus“) und im zweiten Fall dessen Ende und Ablösung durch den Neoliberalismus. Vergleichbares scheint der Einschnitt von 2008 nicht ausgelöst zu haben. Jörg Huffschmid ging schon 2009 davon aus, „dass trotz der aktuellen Einbrüche…die realen Machtstrukturen des FMK (Finanzmarktkapitalismus), der sich in den letzten drei Jahrzehnten herausgebildet hat, nicht wesentlich geschwächt sind.“ (Huffschmid 2009, 47). Das kann man heute nur unterschreiben, derzeit spricht mehr für eine weitere Verstärkung des neoliberalen Kurses. Ein neues kapitalistisches Akkumulationsregime ist jedenfalls nicht in Sicht.

Auf der anderen Seite aber markiert die Krise von 2008 Veränderungen globaler Machtstrukturen, die in den vorangegangenen „Großen Krisen“ (wenn man vom Verschwinden des sozialistischen Lagers absieht) nur wenig berührt worden waren. Im Mittelpunkt stehen die Beziehungen und Kräfteverhältnisse zwischen der alten kapitalistischen Welt des Westens (den „fortgeschrittenen Ländern“ in der Terminologie des Internationalen Währungsfonds) einerseits und den „Schwellen- und Entwicklungsländern“ andererseits. Die Krisen von 1929/32 und 1973/75 hatten die kolonialen und halbkolonialen bzw. die Länder der kapitalistischen Peripherie noch voll einbezogen. Bezogen auf die vergangenen 40 Jahre sind die Veränderungen besonders auffällig: Die Krise von 1973/75 hatte eine Periode eingeleitet, die in großen Teilen des Südens mit dramatischen Einbrüchen verbunden war. Die Auflösung des Systems von Bretton Woods ab 1971[2] führte im Verein mit dem Anstieg der Rohölpreise und der scharfen Rezession ab 1973 zu einem Anstieg der Auslandsverschuldung der Länder der Dritten Welt, die durch die vorübergehende Verbesserung der Terms of Trade in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre noch angetrieben wurde. Schon ab 1975 zeigten kleinere Schuldenkrisen in Zaire/Kongo und Peru, dass hier Grenzen überschritten worden waren. Issam El-Zaim hatte diesen Zusammenhang auf einer Tagung des IMSF 1985 so beschrieben: „Die übermäßige Inanspruchnahme von Krediten durch die Entwicklungsländer in den siebziger Jahren … war die Folge eines verzweifelten Versuchs dieser Länder, ihre ökonomische Wachstumsrate unter ungünstigen internationalen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Daß internationale Finanzmittel zu günstigen Bedingungen aufgrund der Gewinne der ölexportierenden Länder verfügbar waren, machte diese Kreditaufnahme erst möglich. Zu einem Problem wurde dies hauptsächlich dadurch, dass die wichtigsten Gläubigerbanken beschlossen, alle Beschränkungen für den privaten Banksektor aufzuheben und ihm das Recycling zu überlassen.“ (38). Die Schuldenkrise brach offen aus, als die USA ihre Geldpolitik strafften, was zu einem steilen Anstieg der Zinsen und dem Verfall der Wechselkurse vieler Entwicklungsländer führte. Diese wurde zahlungsunfähig (zuerst das Erdölland Mexiko 1982) und damit Objekt westlicher, mit neoliberalen Konditionalitäten bewehrter Umschuldungsaktionen. In Lateinamerika und in Afrika begannen die „verlorenen Jahrzehnte“ der 1980er und 1990er Jahre. So führte die Krise 1973/75 in der Konsequenz zu einer Festigung der westlichen Dominanz über die Dritte Welt.

Die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg war in allen Weltteilen eine Zeit starken, im historischen Vergleich außergewöhnlichen Wachstums gewesen. Dies galt auch für Asien, Afrika und Lateinamerika. Dieses Wachstum setzte sich nach 1973 nur in Asien unvermindert fort. Es schwächte sich im Westen deutlich ab, führte aber in Afrika und Lateinamerika zu einer annähernden Stagnation der Pro-Kopf-Einkommen. Afrika und Lateinamerika laborierten – im Ergebnis der ihnen aufgezwungenen neoliberalen Strukturanpassungsprogramme – bis Ende der 1990er Jahre an den Folgen des Einbruchs von 1973/75. Anders Asien: Vor allem China konnte sich dem Druck der neoliberalen Austeritätspolitik entziehen und – dank der wirtschaftspolitischen Steuerungsfähigkeit des Zentralstaats – einen mächtigen Prozess nachholender Industrialisierung einleiten. Dagegen erlebten Afrika und Lateinamerika Tendenzen der De-Industrialisierung und der Informalisierung der Wirtschaft, die vorangegangene Entwicklungserfolge zunichte machten.

Tab.1: Jahresdurchschnittliche Veränderung des BIP bzw. BIP pro Kopf
(in Prozent)

Tabelle siehe PDF!

Quelle: Maddison 2006, 126

Die Krise von 2008 und der Aufstieg des Südens

Zum Beginn des 21. Jahrhunderts begannen sich die Kräfteverhältnisse zwischen dem altkapitalistischen Westen und den neukapitalistischen Ländern des Südens nachhaltig zu verschieben. Aber erst die Krise von 2008ff. markiert einen Umbruch in den internationalen Kräfteverhältnissen. Die Krise begann im Zentrum des westlichen Kapitalismus, in den USA, und erfasste rasch die übrigen „fortgeschrittenen Länder“. Anders als nach 1973/75 konnten die „Schwellen- und Entwicklungsländer“ des Südens die Auswirkungen der globalen Krise aber begrenzen. Schon ein Jahr später wurde der alte Wachstumspfad wieder erreicht, während der Westen bis heute an den Folgen laboriert. Als äußeres Merkmal der veränderten globalen Strukturen kann der Anteil der Regionen an der globalen Produktion gewertet werden (Tab. 2).

Noch bis Anfang der 1990er Jahre dominierten die altkapitalistischen Länder Weltproduktion und Weltmärkte. Die ‚Trendwende’ zugunsten des Südens wurde zum Beginn der 2000er Jahre sichtbar, unübersehbar wurde sie erst mit der Krise von 2008. Die wachsende globale Rolle des Südens kann auch an anderen Indikatoren festgemacht werden: Der Anteil des Südens am Welthandel übersteigt heute 50 Prozent, dort liegen inzwischen zwei Drittel der globalen Devisenreserven. Auch auf der Ebene der Direktinvestitionen (DI) haben sich einschneidende Veränderungen vollzogen: Seit 2011 geht mehr als die Hälfte (53 Prozent im Jahre 2013) der globalen DI in Schwellen- und Entwicklungsländer. Der Anteil der aktiven DI dieser Ländergruppe erreicht 39 Prozent (UNCTAD 2014, xiv). Selbst auf der Ebene der globalen Produktionsketten (Global Value Chains – GVC), die immer noch mehrheitlich von Transnationalen Unternehmen des Westens gesteuert werden, vollziehen sich Veränderungen: Heute entfällt immerhin ein Viertel des globalen Komponentenhandels (der etwa die Hälfte des Welthandels ausmacht) auf Länder des Südens, einige von ihnen (Südkorea, Taiwan, China, Indien, die Philippinen) haben es geschafft, in werthaltigere Teile der GVC vorzudringen (WTO 2014, 6/7).

Tab. 2: Globales Bruttoinlandsprodukt zu Kaufkraftparitäten
(Anteile in Prozent)

Tabelle siehe PDF!

Quelle: IMF, World Economic Outlook Database, October 2014[3]

Natürlich sind die Schwellen- und Entwicklungsländer alles andere als ein einheitlicher Block. Verlauf und Triebkräfte des ‚Aufstiegs des Südens’ sind unterschiedlich: Ausgangspunkt war die nachholende Industrialisierung Chinas, die wiederum von den engen Verflechtungen im ostasiatischen Raum nicht zu trennen ist. Die dadurch angetriebene Nachfrage nach Rohstoffen hat zu einer historischen Trendumkehr bei den Rohstoffpreisen und damit zu einer Verbesserung der internationalen Austauschverhältnisse zugunsten der Rohstoffexporteure Lateinamerikas und Afrikas geführt. Diese erhalten dadurch größere Spielräume zur Entwicklung ihrer Ökonomien, die allerdings in unterschiedlichem Ausmaß genutzt werden.

Traditionelle Institutionen und Weltmarkt

Der Aufstieg des Südens hat die Glaubwürdigkeit der in den 1960er und 1970er Jahren dominierenden Entwicklungstheorien erschüttert, denen zufolge die Strukturen des Weltmarkts verantwortlich waren für Entwicklung und Unterentwicklung des Südens. Während die modernisierungstheoretisch ausgerichteten Erklärungsmuster dem Süden die Übernahme westlicher Wirtschaftsmodelle empfahlen (Unterentwicklung also mit der Beibehaltung traditioneller Institutionen erklärten), hielten Dependenztheorien eigenständige Entwicklungswege in einem durch den Westen dominierten weltwirtschaftlichen Milieu für unmöglich.

Heute erleben wir, dass ausgerechnet jene Wirtschaftsmächte florieren, denen bis heute grobe Verstöße gegen so ziemlich alle marktwirtschaftlichen Grundprinzipien des Westens bescheinigt werden. Douglass C. North, einer der Väter der marktwirtschaftlich ausgerichteten ‚Neuen Institutionenökonomik’, stellt mit Erstaunen fest, dass China keine jener institutionellen Voraussetzungen erfüllt, die seiner Ansicht nach konstitutiv sind für kapitalistische Dynamik: Es fehlten klar definierte Eigentumsrechte, die nach den Reformen 1978 überall entstandenen städtischen und dörflichen Unternehmen erfüllten nicht die Definition klassischer Unternehmen und zudem sei China eine kommunistische Diktatur.[4] Insgesamt bleibt festzuhalten, dass viele der aufstrebenden Schwellenländer inzwischen nicht nur auf eigenen Füßen stehen, sondern dabei auch ganz eigenen Mustern kapitalistischer Entwicklung folgen, die ihre jeweiligen historisch gewachsenen Institutionen integrieren. Der weltweite Siegeszug des Kapitalismus geht nicht einher mit einer Übernahme der Institutionen der europäischen ‚Moderne’ durch den Süden.[5] Der Aufstieg gelingt in einem Milieu forcierter wirtschaftlicher Internationalisierung, die von vielen Ländern des Südens genutzt werden konnte. Dies, obwohl die Internationalisierung bis noch vor kurzer Zeit nach Regeln verlief, die allein von den altkapitalistischen Ländern, vor allem den USA, festgelegt wurden. „Viele der Institutionen und Grundsätze, die derzeit die internationale Governance prägen, wurden für eine Welt konzipiert, die ganz anders war als die heutige“, kritisieren die Vereinten Nationen (UNDP 2013, 9). Weder die ‚vormodernen’ Institutionen des Südens noch die westliche Dominanz des Weltmarkts haben den Aufstieg des Südens verhindert.

Diese Dominanz wird aber seit 2008 ernsthaft in Frage gestellt. Während sich die äußere Struktur der globalen Institutionen und Organisationen darstellt wie vor 70 Jahren, funktionieren diese nur noch eingeschränkt. Den Schwellen- und Entwicklungsländern gelingt es, die Vorhaben der immer noch westlich dominierten globalen Agenda zu blockieren bzw. die Spielregeln dort zu modifizieren, wo die Interessen der großen Akteure des Südens auf dem Spiel stehen. Die Folge ist eine Krise des Multilateralismus, wie vor allem das Scheitern der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) deutlich macht (Wahl 2014, 9). Aber während die absolute Hegemonie des Westens gebrochen ist, zeichnen sich keine Konturen einer neuen, möglicherweise gerechteren Weltwirtschaftsordnung ab. Die Hoffnung der UN, dass „eine stärkere Beteiligung des Südens, der umfangreiche finanzielle, technologische und personelle Ressourcen sowie wertvolle Lösungen kritischer weltweiter Probleme beisteuern kann, ...alle zwischenstaatlichen Prozesse mit neuem Leben erfüllen (könnte)“ (UNDP 2013, 9), hat sich bislang nicht erfüllt. Die großen neuen Wirtschaftsmächte, argumentiert Andreas Nölke, hätten teilweise „von den bestehenden Institutionen der Weltwirtschaft erheblich profitiert“, bzw. konnten sich jene Elemente heraussuchen, die für sie nützlich waren, während sie sich jenen Regeln entzogen, die ihren Spielraum beschränkten. Daher gab es bisher nie ernsthafte Versuche, die Funktionsweise der globalen Ordnung grundlegend zu verändern, im Sinne jener Forderungen nach einer gerechteren „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ (NWWO), die die Gemeinschaft der südlichen Länder in den 1970er Jahre aufgestellt hatte, wegen ihrer Schwäche bzw. der Stärke des Westens aber nicht durchsetzen konnte.[6] Diese Asymmetrie in den internationalen Kräfteverhältnissen ist heute nicht mehr gegeben, die großen Länder des Südens sind selbst zu mächtigen globalen ‚playern’ geworden. Nölke: „Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass die großen Schwellenländer, welche nun mit erheblich mehr Verhandlungsmacht ausgestattet sind, zwar wieder Forderungen nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung artikulieren, jedoch praktisch auf pragmatische Kooperation in bestehenden Regulierungsinstitutionen (wie die G 8 bzw. G 20) hinarbeiten.“ (Nölke 2014, 418). Das ist in Wirklichkeit – wie auch Nölke sieht – nicht so erstaunlich: Die kapitalistischer Logik folgenden neuen Wirtschaftsmächte verfügen über ausreichende Ressourcen, um ihre Interessen international durchsetzen zu können bzw. über Spielräume, sich dem globalen Druck dort zu entziehen, wo sie ihn als hinderlich ansehen. Dies ist der Hintergrund für die Schwächung bzw. Blockierung multilateraler Regeln, wobei Nölke der Ansicht ist, dass auch in Zukunft „eine weitere Stärkung der globalen liberalen Institutionen (nicht zu erwarten ist), da eine solche Stärkung potenziell problematische Auswirkungen für Unternehmen in großen Schwellenländern haben können.“ (ebd., 428)

Die Veränderungen in der Architektur des Weltmarkts und von ‚global governance’ sind bisher begrenzt bzw. punktuell geblieben. Die G7 der westlichen Länder wurde durch die G20 abgelöst, die die großen Schwellen- und Entwicklungsländer einbezieht. Diese Gruppe definiert sich selbst als „das führende Forum für unsere internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit.“ (Adams/Luchsinger 2014, 1). Trotz neuer Mitglieder bleiben die Starken unter sich. Auf der sechsten Tagung der BRICS-Länder 2014 (genau 70 Jahre nach der Gründung des Bretton Woods System 1944) wurde die Errichtung einer Entwicklungsbank und eines Währungsfonds beschlossen, die das Gegenstück zu den reformunfähigen, US-dominierten Einrichtungen Weltbank und Internationaler Währungsfonds bilden sollen – zunächst mit bescheidener Finanzausstattung. Möglicherweise bedeutsamer ist der Beschluss von 21 asiatischen Ländern, eine „Asiatische Infrastruktur-Investment Bank“ (AIIB) als Gegengewicht zur von den USA und Japan dominierten Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) zu gründen. Denn hier sind, neben China und Indien, auch andere Länder von „Developing Asia“ wie Pakistan, die Philippinen und Vietnam beteiligt, nicht aber Länder des westlichen Machtblocks wie Australien. Die USA hatten versucht, das von China vorangetriebene Vorhaben zu blockieren – zeigt es doch, dass der Versuch der USA, Konflikte zwischen China einerseits und Indien, Vietnam und anderen Nachbarländern Chinas andererseits auszunutzen, nur begrenzt erfolgreich ist. Ob die Versuche des Südens, ein Gegengewicht gegen die vom Westen beherrschten Internationalen Finanzierungsinstitutionen wie IWF und Weltbank zu bilden, „die Geburtsstunde einer autonomen politischen Formierung des globalen Südens gegen den globalen Norden“ ist, wie Elmar Altvater hofft, bleibt abzuwarten (4). Derzeit sieht es jedenfalls nicht so aus, als ob der Aufbau alternativer globaler Regelungssysteme eine Priorität der großen Länder des Südens ist. Denn auch wenn das bestehende globale Regelungssystem die Muttermale des Westens trägt, so können die großen Länder des Südens damit bis jetzt ganz gut leben, weil sie westliche Auflagen – wenn nötig – umgehen können. Daher, so meint Nölke, bestünde seitens der großen Länder des Südens kein wirkliches Interesse an neuen global gültigen Regeln.

Neue Partnerschaft oder neue Konflikte?

Dies ist eine pessimistischer Sichtweise, da sie in der Konsequenz auf den Abbau globaler Regeln hinausläuft, auf „ein neues Zeitalter der Großmächtekonkurrenz“, auf „Renationalisierungstendenzen und … neue Nationalismen mit zunehmendem Protektionismus, Balkanisierung und Xenophobie“ (Adams/ Luchsinger 2014, 1). Dies wäre mittelfristig eine katastrophische Perspektive. Die aktuellen Krisen in Ökonomie, Ökologie und Politik zeigen, dass viele Probleme nur noch im Rahmen globaler Vereinbarungen geregelt werden können, die so transparent und partizipativ zustande kommen, dass sie von allen Akteuren akzeptiert werden können. Auch wenn derzeit einiges für Nölkes pessimistische Variante, die Blockade multilateraler Regelungen, spricht, so beruht seine Annahme auf der einfachen Fortschreibung bisheriger Entwicklungen.

Dies ignoriert die Tatsache, dass die Wirtschaftsmächte des Südens, in dem Maße, wie sie (als Regierungen und als transnationale Unternehmen) zu eigenständigen globalen Akteuren werden, ihrerseits in verstärkte wirtschaftliche Abhängigkeit von globalen Entwicklungen geraten. Eine international handelbare chinesische Währung, global tätige indische Banken, global agierende brasilianische Unternehmen können sich nicht darauf beschränken, aus der bestehenden internationalen Wirtschaftsordnung die ‚Rosinen’ zu picken und sich dort, wo sie keine Vorteile sehen, den oft noch freiwilligen Regeln zu entziehen. Auch Konzerne des Südens, die Auslandsinvestitionen tätigen, die technologische Innovationen generieren, die in GVC nicht mehr nur untergeordnete Funktionen ausüben, werden gezwungen sein, sich aktiv um die Gestaltung globaler Regeln zu kümmern.

In dem Maße, wie sich Länder des Südens aktiv in die Weltwirtschaft integrieren und anfangen, diese zu beeinflussen, werden sie auch eigene Vorstellungen zur Gestaltung der globalen Ordnung entwickeln und umsetzen müssen. Keine der neuen Wirtschaftsmächte ist stark genug, um ihre Vorstellungen der Welt – nach dem Muster der USA – aufzwingen zu können. Eine neue Hegemonialmacht ist nicht in Sicht, auch China kann diese Rolle nicht spielen.[7] Dazu müssen neue Bündnisse und Koalitionen eingegangen werden. Dies eröffnet auch kleineren Ländern des Südens gewisse Möglichkeiten, da sie ggf. als Bündnispartner eine Rolle spielen könnten, die über ihr jeweiliges wirtschaftliches Gewicht hinausgeht. Ob diese erneuerte, die bisherige Hegemonialmacht USA auf ihren Platz verweisende globale Ordnung wirklich „eine neue Ära der Partnerschaft“ (UNDP 2013, Vorwort) im Rahmen einer besseren globalen Ordnung einleiten wird, ist derzeit eher unwahrscheinlich. Vieles spricht für das Gegenteil, eine neue Ära globaler Konflikte. Die USA und der Westen versuchen derzeit mit allen – auch militärischen – Mitteln, ihre Hegemonialposition verteidigen, „wie die aktuelle Vorwärtsverteidigung der absteigenden Hegemonialmacht mit ihren multiplen Interventions- und Kriegsschauplätzen deutlich vor Augen führt.“ (Komlosy 2013, 6/7) Die USA versuchen, ihre ungebrochene militärische Überlegenheit zu nutzen, um den Verlust wirtschaftlichen Einflusses zu kompensieren (Grätz 2013, 30). Handelspolitik und militärisches Drohpotential werden verknüpft, der Aufbau einer „ökonomischen Nato“ (H. Clinton, zit. bei Schmid 2014, 17/18) steht auf der Tagesordnung. Dass diese Entwicklung ohne größere militärische Konflikte ablaufen wird, wie Andrea Komlosy hofft, ist eine optimistische Annahme. Dies ist umso unwahrscheinlicher, wie bei globalen Interessenkonflikten von den Akteuren auf nationale, ethnische und religiöse Identitäten zurückgegriffen wird. Obwohl die Ursachen der Konflikte in der Regel ökonomischer und sozialer Natur sind, so beinhaltet ihre Verknüpfung mit national, ethnisch und religiös gefärbten Motiven immer eine Tendenz zur Verselbständigung: Wirtschaftliche, politische und soziale Konflikte können zumindest zeitweise durch Kompromisse befriedet werden, nicht aber ethnisch-religiös gefärbte. Die Mobilisierung nationaler und religiöser Vorurteile zur Durchsetzung von Interessen erschwert die Konfliktregulierung. Unter solchen Bedingungen wird es schwer, Konflikte unter Verweis auf gegenseitige ökonomisch-ökologische Abhängigkeiten zu begrenzen bzw. Kompromisse zu finden: Wenn es angeblich um grundlegende ‚Werte’ geht – dieses Muster ist bei der Agitation für ‚humanitäre’ Interventionen auch hierzulande bekannt – dürfen wirtschaftliche oder politische Rücksichten keine Rolle spielen. Das Bedürfnis, sich seiner Identität durch Abgrenzung gegen andere zu versichern, wächst in dem Maße, wie die Gruppen sich näher rücken (müssen). Das gilt im Kampf für ‚Freiheit’, ‚Demokratie’ und ‚Marktwirtschaft’ ebenso wie beim Schutz des ‚wahren Glaubens’ oder bei der Verteidigung der ‚richtigen’ Lebensweise.

Literatur

Abelshauser, Werner (2007): Deutsche Wirtschaftsgeschichte – Von 1945 bis zur Gegenwart, Bonn

Adams, Barbara/Luchsinger, Gretchen (2014): Den Multilateralismus neu einfordern, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, W&E-Hintergrund, Juni

Altvater, Elmar (2014): BRICS-Konkurrenz für IWF und Weltbank, in: Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung, W&E-Hintergrund, August

El-Zaim, Issam (1986): Die Verschuldung der Dritten Welt: Überblick und aktuelle Tendenzen, in: IMSF/ASK (Hrsg.), Die Dritte Welt in der Schuldenkrise – Rolle der Bundesrepublik –Diskussion um Alternativen, Frankfurt/M., S. 37-59

Goldberg, Jörg/Leisewitz, André/Reusch, Jürgen (2014): Was bringt die Große Koalition? In: Z 97, März 2014, S. 148-165

Grätz, Jonas (2013): The De-Westernisation of Globalisation, in: Centre for Security Studies, ETH Zürich, Strategic Trends 2013. Key Developments in Global Affairs, S. 15-35

Huffschmid, Jörg (2009): Nach der Krise: Das Ende des Finanzmarktkapitalismus?, in: Z 78, Juni 2009, S. 37-51

Komlosy, Andrea (2013): Hegemonialer Wandel im Weltsystem: der Aufstieg Chinas, GIGA Focus 04/2013, Hamburg

Maddison, Angus (2006): The World Economy: Volume 1: A Millennial Perspective, 2001; Volume II: Historical Statistics, 2003; Reprint OECD, Paris

Nölke, Andreas (2014): Brasilien, Indien, China und die Institutionen der globalen Wirtschaftsregulierung, in: Nölke, Andreas/May, Christian/Claar, Simone (Hrsg), Die großen Schwellenländer. Ursachen und Folgen ihres Aufstiegs in der Weltwirtschaft, Wiesbaden, S. 413-431

Schmid, Fred (2014): TTIP und TPP – der Handelsimperialismus der G 7, in: Wirtschafts-Nato TTIP Stop! Der globale Wettbewerb würde noch verheerender, ISW-Report Nr. 97, München, S. 16-25

UNCTAD (2014): World Investment Report 2014. Investing in the SDGs: An Action Plan, Geneva

UNDP (2013): Bericht über die menschliche Entwicklung 2013. Der Aufstieg des Südens: Menschlicher Fortschritt in einer ungleichen Welt, Berlin

Wahl, Peter (2014): Der kranke Mann des Multilateralismus, in: Z 98, August 2014, S. 8-17

WTO (2014): Annual Report. Trade and Development: Recent Trends and the Role of the WTO, Geneva

[1] Die Periode zwischen 1873 und 1896 gilt als „Große Depression“. (Abelshauser, 173)

[2] 1971 wurde die Goldkonvertibilität des US-Dollar aufgehoben, 1973 wurden flexible Wechselkurse eingeführt.

[3] Im Rahmen des International Comparison Program von 2011 wurden die Kaufkraftparitäten 2014 neu berechnet, wodurch der Vorsprung der Schwellen- und Entwicklungsländer noch größer wurde als in älteren Statistiken.

[4] The chinese menu (for Development), in: Wall Street Journal 07.04.2005, http://online.wsj.com/news/articles/SB111283514152300351

[5] Zum Zusammenhang zwischen Kapitalismus und westlichen Institutionen siehe: Jörg Goldberg, Der Aufstieg des Südens. Die Neuerfindung des Kapitalismus aus Tradition und Weltmarkt, Köln, im Erscheinen

[6] Die UN-Generalversammlung hatte 1974 eine „Erklärung über die Errichtung einer neuen Weltwirtschaftsordnung“ verabschiedet, mit den Eckpunkten Rohstoffpolitik, internationaler Handel, Industrialisierung, Schuldenentlastung, Erneuerung des Weltwährungssystems und Entwicklungshilfe.

[7] Komlosy dagegen meint, dass China dazu in der Lage wäre, u.a. „weil die frühere imperiale bzw. hegemoniale Position in der Struktur der Gesellschaft und der Mentalität der Bevölkerung nachwirkt und in der Situation eines hegemonialen Wandels im Weltsystem neu belebt werden kann.“ (2013, 5)