Kritik der neoliberalen Bildungspolitik

„Mut zur Erziehung heißt vor allem Mut zur Disziplin"

Die pädagogischen Vorstellungen Bernhard Buebs

Juni 2008

Bernhard Bueb ist ehemaliger Schulleiter des Eliteinternats Schloss Salem (Doerry/Thimm 2006) und sorgt seit Herbst 2006 für Aufsehen mit seinem Buch „Lob der Disziplin – Eine Streitschrift“[1]. In Talkshows und Printmedien verkündet er, die 68er-Bewegung habe Sekundärtugenden wie Disziplin und Gehorsam diskreditiert und damit zum heutigen Bildungsnotstand beigetragen, der Folge eines Erziehungsnotstands sei. Durch seine Medienpräsenz – und weil das Buch ein Bestseller ist (Jens 2007) – gewinnen Buebs Thesen politische Relevanz, was eine nähere Beschäftigung mit ihnen rechtfertigt.

In seiner Rezension im „Argument“ hat Ulf Preuss-Lausitz auf die Unwissenschaftlichkeit von Buebs Argumentation hingewiesen: „Erziehungs- und sozialwissenschaftlich ist es unter jedem Niveau einer akzeptablen studentischen Hausarbeit: Es wimmelt vor Pauschalitäten, die ohne jeden Beleg hingesetzt werden, die gesamte empirische Sozialisations- und Familienforschung wird ignoriert.“ (Preuss-Lausitz 2007) In der Tat ist das fehlende wissenschaftliche Fundament des Buches bei der Lektüre nicht zu übersehen: So behauptet Bueb auf S. 68, der Erfolg von Summerhill, der ältesten demokratischen Schule der Welt, sei allein auf die Persönlichkeit ihres Gründers Neill zurückzuführen; die Schule habe aber den Sprung in die zweite Generation nicht geschafft. Er erklärt uns nicht, was er damit meint – schließlich existiert Summerhill noch, geleitet von Neills Tochter (Ehlers 2007). Sein Argumentationsstil ist sehr suggestiv, weil er oft unmerklich von einem Aspekt zu einem völlig anderen gleitet: „Das Sprichwort sagt, man müsse Menschen zu ihrem Glück zwingen. Wie viel Schweiß und Tränen kostet es, bevor ein Geigen- oder Klaviervorspiel Glücksgefühle auslösen kann, wie viel Disziplin fordert das Ballett oder der Sport, wie viele Konflikte lösen die erzwungenen Konzert- und Museumsbesuche aus. Aber ohne solche Zwänge erfährt ein Mensch nicht das Glück des ‚Weihnachtsoratoriums’, der ‚Zauberflöte’ oder der Betrachtung der Sixtinischen Kapelle.“ (S. 41f.) Hier wird die Notwendigkeit von Disziplin zum Erreichen eines Ziels mit der angeblichen Notwendigkeit der Bevormundung bei der Wahl von Zielen vermischt.

In diesem Artikel soll es jedoch weniger um die empirische Auseinandersetzung mit Buebs Thesen gehen, sondern um die in seinem Buch transportierten Deutungsmuster. Dies ist auf der einen Seite Voraussetzung einer in die Tiefe gehenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Nicos Poulantzas hat darauf hingewiesen, dass Theorien nicht rein empirisch widerlegbar sind, sondern nur über eine Kritik ihres Kategorienrasters, das darüber entscheidet, was sie überhaupt als „Empirie“ anerkennen können (Poulantzas/Miliband 1976, S. 8). Zum anderen ist die Massenwirksamkeit des Buches nur erklärbar über eine Analyse der transportierten ideologischen Inhalte.

Ausgangspunkt ist dabei zum einen der Hegemoniebegriff Antonio Gramscis, zum anderen Leo Koflers Kritik des repressiven Menschenbilds. Gramsci weist darauf hin, dass fortgeschrittene kapitalistische Gesellschaften nicht nur über offenen Zwang Herrschaft ausüben, sondern auch über Hegemonie, die Erzeugung von Konsens der Beherrschten zur Herrschaft. Um Hegemonie wird in der Zivilgesellschaft gekämpft; unter Zivilgesellschaft versteht Gramsci den Bereich der Organisationen, die keinen staatlichen Charakter im engeren Sinn haben, wie Vereine, Verbände, Kirche, Schule, Familie etc. (Neubert 2001, S. 61ff.) Gramsci zeigt in seiner Fordismusanalyse außerdem, dass zu grundlegenden gesellschaftlichen Wandlungen die Durchsetzung eines neuen Menschenbildes und -typs gehört (Haug 2005, S. 132) – daraus ergibt sich die Relevanz des Bildungs- und Erziehungsbereichs.

Das „repressive Menschenbild“ im Sinne Leo Koflers ist ein Komplex aus Vorstellungen über die Natur des Menschen, die so alt wie die Klassengesellschaft insgesamt sind. Dazu gehören Überzeugungen wie die von der Sündhaftigkeit des Menschen, die Diffamierung des Genusses, die Annahme eines unaufhebbar leidvollen Charakters der Arbeit etc. Für heutige Formen der ideologischen Manipulation bildet dieses Menschenbild nach wie vor einen wichtigen Anknüpfungspunkt (Kofler 1967, S. 195-197).

Ich halte beide Theoretiker für verknüpfbar: Kofler liefert einen Maßstab für die sich historisch wandelnden Menschenbilder, deren Analyse Gramsci in den Vordergrund stellt. Anhand der Frage, ob sie (wer/was ist gemeint?) mit den Prämissen des repressiven Menschenbildes brechen oder sie reproduzieren, kann ihr emanzipatorischer Gehalt bestimmt werden.

Buebs Kategorien

Anknüpfend an Gramsci und Kofler soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, auf welche Weise Buebs Buch einen Beitrag zur Reproduktion bürgerlicher Herrschaft leistet. Dies umfasst zwei Aspekte: Gibt es Berührungspunkte zum repressiven Menschenbild? Gibt es Verbindungen zur gegenwärtigen neoliberalen Hegemonie? Ein erster Hinweis auf eine ganz direkte Förderung durch das Kapital besteht in der Unterstützung einer Podiumsdiskussion mit Bueb durch die von den Unternehmerverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanzierte „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (2007a, 2007b)[2]. Ein Grund mehr, nach inhaltlichen Übereinstimmungen Buebs mit legitimatorischen Bedürfnissen des gegenwärtigen Kapitalismus zu fragen.

Natur des Menschen

Bueb postuliert die Notwendigkeit einer Anthropologie für die Erziehung: „Erziehung ist immer Werteerziehung und folgt einem Bild vom Menschen.“ (S. 23) Sein Menschenbild sei das der Aufklärung, die Werte und Rechte wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Menschenliebe vertrete. (ebd.) Der Wille zur Freiheit wird von Bueb als „genuin menschliche Eigenart“ bestimmt. (S. 33) In diesem Freiheitsdrang sieht er jedoch ein Problem: „Mut zur Erziehung heißt vor allem Mut zur Disziplin. Disziplin ist das ungeliebte Kind der Pädagogik, sie ist aber das Fundament aller Erziehung. Disziplin verkörpert alles, was Menschen verabscheuen: Zwang, Unterordnung, verordneten Verzicht, Triebunterdrückung, Einschränkung des eigenen Willens.“ (S. 17f.) Aufgabe von Erziehung ist es nach Bueb also, den natürlichen menschlichen Freiheitsdrang zu brechen. Die „Angebotspädagogik“ sei „[...] gescheitert, weil sie der Natur des Menschen widerspricht.“ (S. 138) Seinen Anspruch an Erziehung formuliert er folgendermaßen: „Erziehung ist nur erfolgreich, wenn sie die zum Egoismus neigende menschliche Natur gegen den Strich bürstet.“ (S. 88) Der menschliche Egoismus stehe auch im Widerspruch zur prinzipiell unlustvollen Arbeit: „Verzicht auf Freizeit, auf Genuss, auf Ausruhen, auf Müßiggang, auf Unterhaltung, Verzicht also auf alles, was Spaß macht, das ist die Voraussetzung von Arbeit.“(S. 166) Arbeit müsse daher in der Erziehung so verinnerlicht werden, dass sie als natürlich erscheine: „Ziel der Erziehung zum Arbeiten muss ein Grad der Gewöhnung sein, die Arbeit zur zweiten Natur werden lässt.“ (S. 167) Ein Bedürfnis nach Hierarchie soll ebenfalls zur menschlichen Natur gehören: „Ich bin ein Befürworter des angelsächsischen Systems[3], weil es dem menschlichen Bedürfnis nach Hierarchie, nach damit verbundenen Vorteilen und nach ein wenig Glanz entspricht.“ (S. 89) Hier wird nicht ganz deutlich, ob lediglich die Einnahme einer Führungsposition in der Hierarchie der menschlichen Natur entsprechen soll oder auch die Unterordnung in der Hierarchie – letzteres wäre ein Widerspruch zu Buebs sonstigen Aussagen über den Menschen im allgemeinen.

Das Bild von Kindern und Jugendlichen

Das oben skizzierte Buebsche Menschenbild wirkt sich deutlich auf seine Aussagen über Kinder und Jugendliche aus: Diesen attestiert er, besonders deutlich der undisziplinierten, zügellosen menschlichen Natur zu entsprechen; bei ihnen muss daher die Kultivierungsarbeit des Erziehers ansetzen. „Freiwillig wird sich kein Kind und kein Jugendlicher einem Reglement unterordnen – Disziplin heißt eben Unterordnung –, das ihn an der unmittelbaren Befriedigung seiner Wünsche und Triebe hindert.“ (S. 44f.) „Jede Generation von Babys gleiche einem Einfall von Barbaren, hat Sigmund Freud einmal festgestellt. Ihnen mangelt es an Kultur, Einsichtsfähigkeit und Disziplin. Zu ihrer Kultivierung bedarf es einer klaren Autorität und der Bereitschaft, Unterordnung zu fordern.“ (S. 55) „Erziehung ist schließlich den Kindern täglich abgerungene Überwindung ihres Egoismus und ihrer Trägheit.“ (S. 96) Kinder und Jugendliche sind unreflektierte Spielbälle ihrer Emotionen: „Weil Kinder und oft noch Jugendliche keinen reflektierten Begriff von Gerechtigkeit haben, denken und handeln sie intuitiv und gefühlsmäßig.“ (S. 123) Ein Teil der Brechung der kindlichen Natur sei die frühzeitige Gewöhnung an Arbeit und damit an Verzicht. (S.166) Als zu kultivierende Natur wird außerdem die Sexualität gefasst: „Gerade Jugendliche sollten lernen, ihre erotischen Begegnungen zu kultivieren, das schützt sie vor Plumpheit und Torheit.“ (S. 99f.)

Der barbarischen kindlichen Natur werde jedoch heute allzu oft nachgegeben: „Statt dem naturgegebenen Egoismus der Kinder zu begegnen, indem wir sie zur Erfüllung ihrer Pflichten anhalten, bestärken wir sie in ihrer egoistischen Haltung, weil wir ihre Versuche zulassen, durch Diskussion fortwährend ihr Recht einzufordern.“ (S. 83) Schuld daran sind insbesondere die emotionalen – anscheinend ebenfalls zu naturhaften – Frauen: „In den letzten Jahren hat sich ein Typus von Verwahrlosung verbreitet, der sich vor allem in einer schwer erträglichen, ich-zentrierten Anspruchshaltung äußert. Diese Kinder erfahren [...] zu viel Liebe und zu wenig Disziplin [...] Die Eltern, oft die überbetreuenden Mütter, ebnen den Kindern alle Wege und sind immer für sie da.“ (S. 64f.)

Mehrere Formulierungen legen nahe, dass Bueb den Umgang mit Kindern als permanenten Kampf versteht: „Da Kinder nicht gehorsam geboren werden, ignorieren sie Anweisungen, rebellieren gegen Erziehungsmaßnahmen, missachten Gebote und wenden alle Mittel an, um ihren eigenen Willen durchzusetzen. Wutanfälle eines dreijährigen Kindes auszuhalten, dessen Äußerungen ohne Verstand sind, und sich nicht ab und an zu Klapsen oder gar Schlägen hinreißen zu lassen bedarf gehöriger Selbstdisziplin von Vater oder Mutter.“ (S. 17) „Das Kind [...] zückt [...] die emotionalen Waffen, erst eine Charmeoffensive, dann Weinen oder Wut.“ (S. 21)

Als Mittel, der kindlichen Barbarei Herr zu werden, empfiehlt Bueb zum einen die strikte Ordnung des Tagesablaufs: „Kinder müssen früh lernen, ihre Gefühle, ihre Wünsche, ihre Beziehungen, ihre Zeit, ihr Glück und ihren Kummer zu ordnen. [...] Die Eltern müssen eine äußere Ordnung schaffen, die sich Kinder durch Übung aneignen und die sie eines Tages mit eigenem Leben füllen können. [...] Viele Übungen äußerer Ordnung dienen Kindern als Training, ihr Seelenleben zu meistern. Wie schwer fällt es uns allen, die dahinfließende Zeit einzuteilen. Der regelmäßige Rhythmus des Tages gewöhnt Kinder an ein Schema, Zeit zu ordnen, und befähigt sie, eines Tages ein eigenes Schema zu entwerfen.“ (S. 93f.). Zum anderen hält er Strafen gegen Verwahrlosung für wichtig: „Wer versucht, Jugendliche ohne Strafen vor Drogen, Alkohol und Rauchen zu bewahren, wird scheitern. Jugendliche sind ungefestigte Persönlichkeiten und solchen ‚Verführern’ nicht gewachsen, insbesondere wenn sie in der Gruppe von Gleichaltrigen angeboten werden.“ (S. 109f.) Andererseits attestiert er Kindern (S. 48) und Jugendlichen (S. 54) einen Wunsch nach Unterordnung unter eine Autorität[4]; Kinder wollten durch die Macht der Eltern vor den Gefahren der äußeren Welt beschützt werden, Jugendliche brauchten eine Grenzen setzende Instanz, um ihre Persönlichkeit durch Reibung zu entwickeln. Dies ist so allgemein formuliert, dass es als naturgegeben erscheint. Hier wird ein Widerspruch in Buebs Argumentation sichtbar: Einerseits soll die Kultur die „böse“ Natur brechen, andererseits wird die Kultur selbst naturalisiert. Dies zeigt sich auch am wiederholten Gebrauch des Begriffs „Reife“: „Am Beispiel der Schülermitverwaltung lässt sich gut zeigen, wie nachteilig sich demokratische Strukturen aufgrund der Unreife von Kindern und Jugendlichen auswirken können.“ (S. 54) „Wir haben Jugendlichen demokratisches Denken und Handeln abverlangt, bevor sie entwicklungspsychologisch die innere Reife besitzen konnten, die zu mündigen Urteilen befähigt.“ (S. 90) „Reife“ ist ein naturalistisches Bild (als würden Menschen reifen wie Früchte), kulturelle Einrichtungen sollen nach Bueb also auf Naturgegebenheiten basieren.

Individualistischer Freiheitsbegriff vs. repressiver Kollektivismus

Bueb vertritt einen ausgeprägten Individualismus in dem Sinne, dass er dem Individuum die Verantwortung für seinen persönlichen (Miss-)Erfolg zuschreibt: Wenn der Einzelne an sich glaubt, wird ihm auch alles gelingen, und dieser Glaube an sich selbst soll durch Erziehung erreicht werden. „Wenn die PISA-Studie an den Tag bringt, wie unzureichend Jugendliche lesen und rechnen können, dann sind das Folgen eines mangelnden Glaubens der Jugendlichen an ihre eigenen Fähigkeiten, oder anders ausgedrückt: Der Bildungsnotstand ist eine Folge des Erziehungsnotstandes.“ (S. 155) Dieser Individualismus steht oberflächlich betrachtet im Widerspruch zu einem repressiven Kollektivismus, d.h. zur Auffassung, der Einzelne solle sich dem „Gemeinwohl“ unterordnen. Auf diese Position Buebs habe ich bereits im vorherigen Abschnitt am Beispiel seiner Polemik gegen den ausufernden Egoismus von Kindern verwöhnender Mütter hingewiesen. Die Familie wird seiner Meinung nach ihrer Funktion als Kollektiv, das Unterordnung fordert, zu wenig gerecht. Hinzu kommt die häufige Verwendung militärischer Metaphern: „Das Experiment[5] erinnerte an eine Situation im Stellungskrieg 1915 an der österreichisch-italienischen Front...“ (S. 38) „Die Menschen warten zu viel darauf, dass sie Glück haben. Die Redensart lautet aber, das Glück sei mit den Tüchtigen. Friedrich II. von Preußen pflegte ironisch zu sagen, der Herrgott sei immer mit den besten Bataillonen.“ (S. 41) „Gehorsam verlor in den letzten vierzig Jahren jedes Ansehen in der Pädagogik, aber nicht in der Armee, nicht in den Rettungsdiensten und nicht im Sport.“ (S. 58) „Soziale Tugenden, die Menschen für Extremsituationen qualifizieren, wie sie der Krieg mit sich bringt, bedürfen der Übung wie andere Tugenden auch.“ (S. 151) Insbesondere im letzten Zitat wird das Militärische zum Vorbild erhoben. Hinzu kommt die Nation als Identifikationsbild: „Die Zukunft Deutschlands wird davon abhängen, dass wir die bewusste Erziehung unserer Kinder [...] zum ersten Thema der Nation machen [...].“ (S. 32) Es geht Bueb also um das Opfer des Einzelnen für das Kollektiv, das Kollektiv der Nation und das Kollektiv der Armee.

Welchen Begriff von individueller Freiheit kann er unter diesem Vorzeichen überhaupt haben? Freiheit ist bei Bueb durchgehend eng an Unfreiheit gekoppelt. „Disziplin beginnt immer fremdbestimmt und sollte selbstbestimmt enden, aus Disziplin soll immer Selbstdisziplin werden.“ (S. 18) Er kritisiert an Jugendlichen, sie verwechselten Freiheit mit Unabhängigkeit; Freiheit bedeute jedoch, sich ein Ziel zu setzen und dieses auch erreichen zu können (S. 33f.). Es wirkt zunächst eigenartig, dass zwischen diesen beiden Aspekten von Freiheit ein Gegensatz bestehen soll, denn Unabhängigkeit von Bevormundung ist doch eine elementare Voraussetzung, um sich eigene Ziele setzen zu können. Verständlich wird diese Argumentation vor dem Hintergrund seiner oben zitierten Aussagen zum Individuum, das trotz fehlender Zukunftsaussichten an sich glauben soll. Mit Freiheit ist bei Bueb gerade nicht die erweiterte Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen gemeint, sondern lediglich die „freiwillige“ Unterwerfung unter vorgegebene Bedingungen. Diese soll im Erziehungsprozess so verinnerlicht werden, dass sie schließlich als freiwillig erscheint. Das vorgeschlagene Mittel dazu ist die Verlagerung der Fremdbestimmung ins Lernmaterial: „Die Führung delegiert der Lehrer an die vorgefertigte Ordnung, die Schüler erleben diese Situation als Selbstbestimmung. Es ist eine erlaubte Täuschung der Schüler, denn schließlich hat der Lehrer seine Autorität auf das Material verlagert [...].“ (S. 38).

Elitäres Gesellschaftsbild

Bueb fordert nicht nur eine hierarchische Unterordnung von Kindern und Jugendlichen, sondern tritt in der Gesamtgesellschaft für die Herrschaft von Eliten ein. Dies wird schon durch das Zitat von Theodor Fontane angekündigt, das das Buch einleitet: „Freiheit freilich. Aber zum Schlimmen/Führt der Masse sich selbst Bestimmen“ (S. 7), sowie durch das Vorwort, wo eine „vorbehaltlose Anerkennung von Autorität und Disziplin“ (S. 11, ähnlich S. 60 u. 61) gefordert wird, die diskreditiert seien, weil der „Nationalsozialismus“ sie missbraucht habe. (S. 11f) Den Begriff der Gleichheit lehnt er ab: „Wir Erwachsenen müssen es als ständigen Auftrag ansehen, den Begriff der Gerechtigkeit bei jungen Menschen von der Idee der Gleichheit zur Idee einer individuellen Zumessung, also jedem das Seine, zu wandeln.“ (S. 118) Die Begabung zu Führungspositionen wird seiner Meinung nach in deutschen Schulen nicht geschätzt (S. 165). Echte Eliten gebe es in Deutschland nicht mehr (S. 13). Lehrer ohne natürliche Autorität müssten durch ihre Amtsautorität geschützt werden (S. 56). Aufgabe der Erziehung ist es laut Bueb, Menschen einen „Habitus“ (Bourdieu) anzudressieren[6], der sie als Teil der Elite ausweist: „Noch als Erwachsener profitiert man davon, wenn man durch viel Übung gelernt hat, solche Umgangsformen zu beherrschen. Wer selbstverständlich damit umgehen kann, wird selbstbewusst in einer Gesellschaft angesehener Leute oder bei Bewerbungen auftreten.“ (S. 95)

Seine Nähe zum Konservatismus und Neoliberalismus wird an den Stellen besonders deutlich, wo er sich zur Elitenherrschaft in der Ökonomie bekennt. So hält er Schülern, die Mitbestimmung einfordern und über alles diskutieren wollen, die strikte betriebliche Hierarchie als Vorbild entgegen: „Wir haben das Leben von Kindern und Jugendlichen radikaler demokratisiert als das Leben der Erwachsenen. Von Erwachsenen wird im beruflichen Alltag erwartet, dass sie sich unterordnen, ob sie es einsehen oder nicht. In welchem Betrieb würde es einem Arbeitnehmer einfallen, eine Anordnung mit dem Meister oder Abteilungsleiter zu diskutieren? [...] In Salem absolvieren die Schüler der zehnten Klassen während des Schuljahrs ein Betriebspraktikum [...] Unter den vielen neuen Erfahrungen, die sie dabei machen, ragt eine ganz besonders hervor: In den Betrieben gibt es klare Regeln, die nicht zur Diskussion stehen.“ (S. 81f.) Er lobt die disziplinierende Wirkung von Armut (S. 64), während ihm kämpferisch ihre Interessen vertretende ArbeiterInnen ein Gräuel sind: Auf S. 86 wirft er der Schülermitbestimmung vor, sie produziere eine „Gewerkschaftsmentalität“. Selbst die Kritik an gewalttätigen Erziehungsmethoden nutzt er zu einer elitären Abgrenzung nach unten: Die Selbstdisziplin, die es koste, Kinder nicht zu schlagen, wachse mit dem Bildungsgrad der Eltern (S. 17).

Als elitär ist schließlich sein Konservatismus zu betrachten, der sich in Äußerungen ausdrückt wie derjenigen, in der Pädagogik gebe es keine neuen Erkenntnisse (S. 171). Hier werden die Vertreter des Überlieferten zur unantastbaren Elite erklärt.

Antiintellektualismus vs. Expertentum

Auch die von Bueb favorisierte Erkenntnisweise ist elitär: Rationales Denken lehnt er ab und setzt auf Intuition. So polemisiert er gegen die Psychologie, die das Verhalten von Kindern und Jugendlichen entschuldige (S. 73); stattdessen sollten Pädagogen sich von Wertvorstellungen und Intuition leiten lassen. (S. 75) Die Erziehung durch seine Mutter sei „herrlich irrational“ (S. 80) gewesen. Manieren müssten „ohne Einschaltung des Verstandes“ (S. 101) funktionieren, und die Begabungen „jenseits des Akademischen“ (S. 165) seien stärker zu fördern. Dies ist eine Argumentationsweise, die der präventiven Abdichtung gegen alle wissenschaftlichen Widerlegungsversuche dient.

Auf der anderen Seite präsentiert er sich als durch Erfahrung gereifter Experte, der den emotional vorgehenden Antiautoritären überlegen sei. So attestiert er den antiautoritären Modellen der siebziger Jahre, an ihren „romantischen Prämissen“ (S. 68) gescheitert zu sein. Auch er habe lange an demokratische Mitbestimmung der Schüler geglaubt, sei aber eines besseren belehrt worden. (S. 88)

Hier zeigt sich erneut ein Widerspruch in seiner Argumentation: Verstand und Gefühl stehen einander unvermittelt gegenüber, und je nach Bedarf wird die eine oder andere Seite verabsolutiert.

Die Widersprüche in Buebs Argumentation

Bei der inhaltlichen Analyse von Buebs Buch sind mehrere Widersprüche in der Argumentation aufgetaucht: Widersprüche zwischen Natur und Kultur, Individualismus und Kollektivismus, Verstand und Gefühl. Es ist im folgenden zu überprüfen, worauf diese Widersprüchlichkeit zurückzuführen ist – will man sie nicht auf ein subjektives Unvermögen des Autors reduzieren, wovor Adorno schon gewarnt hat.[7] Es stellt sich also die Frage, ob die Widersprüche in der Argumentation mit Widersprüchen in der Wirklichkeit zusammenhängen.

Es fällt auf, dass es sich um Widersprüche handelt, die in der marxistischen Theorietradition seit langem als Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft selbst benannt werden. In seinem Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (1923) charakterisiert Georg Lukács den Kapitalismus als einen Zustand, „in dem die Menschen einerseits in ständig steigendem Maße die bloß ‚naturwüchsigen’, die irrationell-faktischen Bindungen zersprengen, ablösen und hinter sich lassen, andererseits aber gleichzeitig in dieser selbstgeschaffenen, ‚selbsterzeugten’ Wirklichkeit eine Art zweiter Natur um sich errichten, deren Ablauf ihnen mit derselben unerbittlichen Gesetzmäßigkeit entgegentritt, wie es früher die irrationellen Naturmächte (pünktlicher: die in dieser Form erscheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse) getan haben.“ (Lukács 1970, S. 235f.) Den auf dem Markt gegeneinander konkurrierenden Individuen erscheint die Bewegung der Waren als eigenständige Macht, die sie allenfalls zu ihrem Vorteil ausnutzen, aber nicht verändern können (ebd. S. 175). In einer ähnlichen Situation befindet sich der Arbeiter im kapitalistischen Produktionsprozess: Hier findet eine „ständig zunehmende Rationalisierung, eine immer stärkere Ausschaltung der qualitativen, menschlich-individuellen Eigenschaften des Arbeiters [...]“ (ebd. S. 176f.) statt, „[e]inerseits, indem der Arbeitsprozeß in stets wachsendem Maße in abstrakt-rationelle Teiloperationen zerlegt wird [...,][a]ndererseits, indem in und infolge dieser Rationalisierung die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die Grundlage der rationellen Kalkulation, zuerst als bloß empirisch erfaßbare, durchschnittliche Arbeitszeit, später durch immer stärkere Mechanisierung und Rationalisierung des Arbeitsprozesses als objektiv berechenbares Arbeitspensum, das dem Arbeiter in fertiger und abgeschlossener Objektivität gegenübersteht, hervorgebracht wird. Mit der modernen, ‚psychologischen’ Zerlegung des Arbeitsprozesses (Taylor-System) ragt diese rationelle Mechanisierung bis in die ‚Seele’ des Arbeiters hinein: selbst seine psychologischen Eigenschaften werden von seiner Gesamtpersönlichkeit abgetrennt, ihr gegenüber objektiviert, um in rationelle Spezialsysteme eingefügt und hier auf den kalkulatorischen Begriff gebracht werden zu können.“ (ebd. S. 177)

Die bei Bueb auftretenden Widersprüche werden hier angesprochen. Einerseits der Widerspruch zwischen Individualismus und Kollektivismus: Die Individuen können zwar frei von der direkten Reglementierung persönlicher (etwa feudaler) Herrschaft eigene Entscheidungen treffen, das gesellschaftliche Ganze wird jedoch nicht von ihren Bedürfnissen bestimmt, sondern trifft sie mit der Gewalt von Quasi-Naturgesetzen. Damit sind sie gleichzeitig frei und unfrei: frei von persönlicher Herrschaft, aber gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und damit der Herrschaft eines repressiven Allgemeinen unterworfen. Andererseits der Widerspruch zwischen Natur und Kultur[8]: Einerseits tritt an das Individuum die kulturelle Anforderung heran, seine Naturhaftigkeit (im Sinne von Nichtkalkulierbarkeit) zu unterdrücken, andererseits erscheinen die gesellschaftlichen Verhältnisse als zweite Natur. Also Unterdrückung der Natur bezogen auf das Individuum und gleichzeitig Naturalisierung des Sozialen.

Diese Natur-Kultur-Dichotomie hat Oskar Negt auf das Verhältnis zu Kindern bezogen: „Erst in dem Augenblick, da im bürgerlichen Individuum eine Entmischung von kalkulierender Vernunft und Affekten stattfindet, wird das Kind als etwas `Unvernünftiges`, bloß Naturhaftes aus diesen Lebenszusammenhängen ausgegliedert. Und in dem Maße, wie es zur Beherrschung der eigenen Gefühle und alles dessen, was die körperliche Triebstruktur bestimmt, kommt, erscheinen die Kinder als ungesellschaftliche, reine Naturwesen [...] Die Kinder werden zu Projektionsobjekten dessen, was sich die Erwachsenen an Natürlichem versagen, die ihr eigenes Verdrängtes, Natürliches an dem ‚unzivilisierten’ Verhalten der Kinder bestrafen.“[9]

Bei Bueb ist folglich eine unreflektierte Reproduktion von Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft festzustellen.

Repressives Menschenbild und neoliberale Hegemonie

Ich komme zu meiner Ausgangsfrage nach Buebs Beitrag zur ideologischen Reproduktion bürgerlicher Herrschaft zurück. Konkretisiert habe ich diese Fragestellung durch Gramscis Hegemoniebegriff und Koflers Theorie des repressiven Menschenbildes.

Die von Kofler genannten Bestandteile des repressiven Menschenbildes seien zunächst ausführlich zitiert:

„Das Leben kann nur so weit Freiheit und Genuß bieten, so weit sie erkauft werden durch Mühsal und Opfer.

Die Sünde (in theologischer und profaner Auffassung) ist sein Grund, die Schuld sein Weg und die Arbeit im Schweiße des Angesichts sein Schicksal.

Das Beglückende erscheint als Versprechen von Lohn in einem Strom von Leid, und es ist niemals sicher, ob sich dieses Versprechen jemals erfüllt.

Die Hinnahme des bedrohlichen und düsteren Schicksals ist als Festigkeit des Charakters und als Heroismus zu werten.

Da der Mensch von Natur sündig und böse ist, ist der Kampf aller gegen alle natürlich.

Die sich daraus heraushaltende Ausnahme ist der lebensfremde Heilige (wiederum in religiöser und profaner Gestalt).

Das eigentliche und normale Kennzeichen der Erhöhung des Individuums ist der Erfolg (Nützlichkeitsethik).

Die ‚höheren Werte’ werden als nicht der Welt zugehörig begriffen verinnerlicht und erscheinen besonders dazu berufen, das Individuum zu Opfern, Unterwerfung, Leistung und Disziplin bereit zu machen.

Kontemplation und Genuß gelten als gleichsam außerhalb des eigentlichen Lebens stehend [...].

Damit hängt zusammen die Neigung zur Diffamierung der Freizeit, die als zum Bösen verführend gewertet wird [...].

Die Diffamierung der Freizeit ist eng verbunden mit jener des Erotischen, des Lustvollen überhaupt, besonders der Sexualität.

Die gleichzeitige Gleichsetzung des vielschichtigen Eros [...] mit Sexualität erstrebt nicht nur deren Diffamierung, sondern auch die Isolierung der Massen von aller einheitlichen erotischen Kultur, deren Genuß in Widerspruch steht zu den Anforderungen der repressiven Ordnung.“ (Kofler 1967, S. 195f.)

An verschiedenen Punkten ist zu erkennen, dass Buebs Menschenbild eine Variante dieses repressiven Menschenbildes ist. Freiheit und Genuss sind für ihn nur durch Mühsal und Opfer zu erkaufen, denn Freiheit ist für ihn freiwillige Selbstdisziplin, die durch aufgezwungene Disziplin erlernt wird. Glück ist für ihn der Lohn für Leid, denn Glück entsteht durch den erfolgreichen Abschluss von Arbeitsprozessen, die bei Bueb mit Mühsal und Triebverzicht gleichgesetzt werden. Hiermit wird der Wert des Individuums auch vorwiegend am Erfolg gemessen. Außerdem ist niemals sicher, ob das Glück erreichbar ist, denn Jugendliche sollen ja für ein Leben mit geringen Zukunftsaussichten „stark“ gemacht werden. Das Lustvolle wird diffamiert: Bei der Sexualität hält er es für nötig, Jugendliche zur Kultivierung zu ermahnen; Alkohol und Rauchen erscheinen ausschließlich als gefährliche Verführer, vor denen Jugendliche durch Strafen geschützt werden müssten. Der Kampf aller gegen alle ist natürlich: Wie oben zitiert, hat für ihn der Mensch ein natürliches Bedürfnis nach Hierarchie, und auch die Beziehung zu Kindern ist ein ewiger Kampf gegen die böse kindliche Naturhaftigkeit. Die Anhänger der antiautoritären Erziehung erscheinen als weltfremde Heilige. Höhere Werte wie das Gemeinwohl werden benutzt, um die Massen zum Verzicht aufzurufen.

Bueb steht also in der Tradition der ideologischen Leitbilder, die Kofler als klassengesellschaftliches Erbe benennt. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob es bei ihm auch Berührungspunkte zur gegenwärtigen neoliberalen Hegemonie gibt. Wie oben zitiert, ist etwa sein Bild von betrieblichen Strukturen sehr traditionell geprägt: hier herrschen strikte Hierarchien und das Prinzip von Befehl und Gehorsam. Herrschaftsformen, die erst in den letzten Jahrzehnten aufgekommen sind, wie die Verlagerung unternehmerischer Verantwortung auf die Lohnabhängigen selbst (vgl. Glissmann/Peters 2001), geraten nicht in sein Blickfeld. Auch seine Forderung nach einer vorbehaltlosen Anerkennung von Autorität und Gehorsam scheint auf den ersten Blick dem neoliberalen Kult des „eigenverantwortlichen Individuums“ zu widersprechen. Es sei hier jedoch darauf verwiesen, dass es Bueb durchaus darum geht, den Freiheitsbegriff zu besetzen: Autorität und Gehorsam empfiehlt er ja nicht als Selbstzweck, sondern als Weg zur Freiheit. Er negiert den Freiheitsanspruch der antiautoritären Strömung nicht einfach, sondern ist bestrebt, ihn konformistisch zu wenden. Frei wird der Mensch, sobald er von außen gesetzte Zwänge so verinnerlicht hat, dass offene Bevormundung überflüssig wird. Diese Freiheit ist nichts anderes als die freiwillige Fügung ins Unvermeidliche. Das ist auch bei der Freiheit des „eigenverantwortlichen Individuums“ der Neoliberalen nicht anders: Freiheitsgewinne etwa durch neue Arbeitsformen werden durch die Zwänge des Marktes allzuoft konterkariert; das gilt selbst für hochqualifizierte Beschäftigte, etwa in der IT-Industrie (Boes/Trinks 2006, S. 193). Studien zu prekärer Beschäftigung haben die Unsicherheit herausgearbeitet, die sich gesamtgesellschaftlich – bei Gewinnern wie Verlierern – ausbreitet und eine Suche nach stabilen Kollektividentitäten und damit eine Anfälligkeit etwa für Rassismus auslöst (Brinkmann/Dörre/Röbenack 2006, S. 64ff.). Diese soziale Verunsicherung ist die Kehrseite des neoliberalen Freiheitsversprechens. Bueb macht nun ein Angebot einer stabilen Kollektividentität: Akzeptiert man seine Thesen, ist die persönliche Anerkennung sicher, sobald man erwachsen ist. Dann nämlich ist man „reif“ und kann den persönlichen Wert durch Abgrenzung gegen die „unreifen“ Kinder und Jugendlichen erhöhen.

Dieses Bild von Kindern und Jugendlichen schafft sich seine eigene Bestätigung. Durch Gängelung hervorgerufene Widerstandshandlungen können leicht als Ausdruck der ihnen innewohnenden „Unreife“ interpretiert und damit wirkungslos gemacht werden. Ein Beispiel für diesen Mechanismus liefert Bueb selbst: Er beschreibt, wie er einmal Schülern in der zehnten Klasse mehr Freiheit bei der Unterrichtsgestaltung geben wollte und scheiterte, weil nur ein kleiner Teil engagiert mitarbeitete; daraus schließt er dann umstandslos eine anthropologische Notwendigkeit, durch Unterordnung zur Freiheit geführt zu werden (S. 37ff.). Diese Argumentationsweise erinnert an das von Erving Goffmann analysierte Verfahren der Psychiatrie, Widerstandshandlungen von Patienten gegen die Bedingungen in der Anstalt in Krankheitssymptome umzuinterpretieren (Goffmann 1972, S. 51). Dazu passt auch, dass Bueb Kinder pathologisiert, die nicht in sein Bild passen: „Umgekehrt kann es als Zeichen psychischer Störung oder als mangelnde Spielerfahrung gedeutet werden, wenn Kinder nicht in der Lage sind, sich den Anweisungen eines Spielleiters zu fügen oder bestimmten Regeln unterzuordnen.“ (S. 147) Demgegenüber ist mit Manfred Liebel darauf zu verweisen, dass Kinder und Jugendliche Subjekte, bewusst und kompetent handelnde Personen sind (Liebel 1999, S. 5); Verweigerungshandlungen wie die von Bueb beschriebene sind dann nicht als Ausdruck einer naturgegebenen „Unreife“, sondern etwa als erfahrungsgeleitetes Misstrauen gegen von oben Angeordnetes – und sei es von oben gewährte Selbstverantwortung – zu verstehen.

Politische Schlussfolgerungen

Es bleibt nun noch zu klären, welche Aufgaben sich der Linken im Umgang mit dem durch Bueb repräsentierten Denken stellen. Zunächst muss man feststellen, dass die Demokratisierung des Verhältnisses zu Kindern und Jugendlichen für die Existenz demokratischer Verhältnisse insgesamt Bedeutung hat. Dies wird daran deutlich, dass bei Bueb ein autoritäres Bild von Kindern und Jugendlichen zusammen mit einem insgesamt autoritären Gesellschaftsbild auftritt. Er bietet Erwachsenen eine Kollektividentität durch Abgrenzung von den „unreifen“ Minderjährigen an; dafür zahlen die Erwachsenen aber einen hohen Preis: Sie werden nur anerkannt, wenn sie sich auch wie „reife Erwachsene“ benehmen – und das heißt für Bueb, sich freiwillig in die bestehenden Verhältnisse zu fügen und bloß keine „Gewerkschaftsmentalität“ an den Tag zu legen. Die Möglichkeit, alles an sich selbst Unterdrückte auf Kinder und Jugendliche zu projizieren und an ihnen zu bekämpfen, verhindert eine Auflehnung gegen die Unterdrückungsformen, denen Erwachsene in dieser Gesellschaft ausgesetzt sind, und verhindert so eine Demokratisierung der Gesellschaft insgesamt. Auf der anderen Seite erhält ein humaner Umgang mit Kindern und Jugendlichen erst durch die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise und damit die Überwindung der Deformationen, denen Erwachsene unterliegen, ein stabiles Fundament. Beide Kämpfe sind also zwei Momente desselben Prozesses.

Es ist also für die Linke eine dringliche Aufgabe, sich dem Buebschen Denken entgegenzustellen und Konzepte für demokratische Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen zu entwickeln.[10]

Dies setzt auch eine Klärung des eigenen Freiheitsbegriffes voraus – schließlich ist Bueb ja bemüht, den Freiheitsbegriff konservativ zu besetzen. In der marxistischen Theoriegeschichte war es Engels, der eine Freiheitsdefinition geliefert hat: „Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit [...] Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebnen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen. Es gilt dies mit Beziehung sowohl auf die Gesetze der äußern Natur, wie auf diejenigen, welche das körperliche und geistige Dasein der Menschen selbst regeln – zwei Klassen von Gesetzen, die wir höchstens in der Vorstellung, nicht aber in der Wirklichkeit voneinander trennen können. Freiheit des Willens heißt daher nichts andres als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiednen und widersprechenden Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande, den sie grade beherrschen sollte. Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur [...]“ (Engels 1983, S. 106). Dagegen hat Alfred Schmidt eingewandt, hier würden tatsächlich nur bewusst anwendbare Naturgesetze und überwindbare gesellschaftliche Gesetze unzulässig gleichgesetzt (Schmidt 1971, S. 201). Wichtiger in diesem Zusammenhang ist jedoch etwas anderes: Verabsolutiert man die zitierte Engels-Passage, könnte man leicht schlussfolgern, da Kindern und Jugendlichen noch häufiger als Erwachsenen die Sachkenntnis fehle, seien sie sowieso nicht frei; Bevormundung nehme ihnen daher auch nicht die Freiheit. Damit wäre dem Buebschen Denken nichts mehr entgegenzusetzen. Der berechtigte Kern bei Engels ist jedoch die Einsicht, dass die Verfügung über die äußeren Lebensbedingungen konstitutives Moment von individueller Freiheit ist. Um diesen wahren Kern zu retten, ist Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit mit Freiheit als Entscheidungsfreiheit zu verbinden: Einsicht in die Notwendigkeit (im Sinne von Einsicht in äußere Lebensbedingungen, die für die eigenen Handlungsmöglichkeiten konstitutiv sind) kann sich nur herausbilden, wenn der Einzelne das Recht hat, eigene Entscheidungen zu treffen, eigene Erfahrungen zu sammeln und eigene Fehler zu machen. Ansonsten entsteht keine Einsicht in die Notwendigkeit, sondern nur die Unterwerfung unter die von einer Elite diktierten „Notwendigkeiten“.

Dass die Wichtigkeit demokratischer Rechte für Kinder und Jugendliche keinesfalls Allgemeingut in der Linken ist, zeigt ein Artikel von Maxi Wartelsteiner in den „Marxistischen Blättern“ vom Mai diesen Jahres, wo sie Stellung zur Debatte um den Ausbau von Kinderkrippen nimmt. Darin heißt es: „Apropos Gefühl: Verbliebene Erzieherinnen aus DDR-Zeiten werden nur zu gerne mit Begriffen wie ‚Wohlfühlkindergarten’ in die Enge getrieben. Das sei etwas ganz anderes als das in der DDR Praktizierte. Wohlfühlkindergarten soll heißen, Kinder machen das, wozu sie Lust haben, und sie machen nichts, wozu sie keine Lust haben. Zu einem geordneten Tagesablauf haben Kinder meistens gar keine Lust. Also fällt er weg. Zu bestimmten Pflichten wie Tischdecken oder Blumengießen sind sie auch nicht immer freiwillig zu bewegen. Also fällt dieser ‚Zwang’ weg. Manche wollen partout nicht malen, zeichnen oder basteln, also wird es ihnen erlassen. [...] Gewiss nicht aus Menschen- oder gar Kinderliebe hat inzwischen in der BRD ein Umdenkungsprozess begonnen. Schließlich, was bei den Kleinsten versäumt wird, wirkt nach, bis in die Schulen, die Berufsausbildung...Facharbeitermangel ist nur ein Stichwort.“ (Wartelsteiner 2007, S.9) Hier werden uns nicht nur wie bei Bueb unbelegte Behauptungen in großer Zahl präsentiert; auch inhaltlich könnten diese Sätze genauso von Bueb stammen. Auch hier wird das Vorurteil gepflegt, man müsse Kindern Lernaktivitäten aufzwingen, sonst werde nichts aus ihnen. Hellhörig sollte uns machen, dass es bei dem Konservativen Bueb hier und da durchaus einen positiven Bezug auf realsozialistische Überbleibsel gibt: „Mir berichtete neulich eine junge Mutter, in der Kinderkrippe ihrer Tochter im Osten Berlins würden alle Kinder jeden Morgen zur gleichen Stunde auf den Topf gesetzt [...] Ihre westlichen Freundinnen sind empört über diese ‚Zwangsmaßnahme’. Dabei lernen die Kinder Regelmäßigkeit, ein Segen für ihren Körper.“ (S. 98)

Dies führt zum letzten Punkt: Bei Bueb gibt es hier und an anderen Stellen einen positiven Bezug auf öffentliche Kinderbetreuung – was zeigt, dass es sich um eine modernisierte Form von Konservatismus handelt. Der „Keimzelle Familie“ wird nicht mehr zugetraut, die angepassten Staatsbürger hervorzubringen, die Bueb sich wünscht: „Gemeinschaftserziehung ist in Deutschland nicht populär. Sie bildet jedoch den einzigen Ausweg aus dem Erziehungsnotstand, der aus dem Zerfall der Familie resultiert. Es hat wenig Sinn, den Wert der Familie und ihren Vorrang gegenüber jeder Erziehung in der Gemeinschaft zu beschwören. Im Gegensatz zur Gemeinschaftserziehung lassen sich Familien nicht planen, Trennungen nicht verbieten, erziehungsunfähige Eltern nicht oder kaum erziehen.“ (S. 145) Dies wirft die Frage auf, wie sich die Linke zum Ausbau öffentlicher Erziehungseinrichtungen stellen soll, wenn sie von rechts im Sinne eines direkteren staatlichen Zugriffs auf die Kinder gefordert wird. Hier sei noch einmal Oskar Negt angeführt: Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft würden Kinder als reine Naturwesen aus der Gesellschaft ausgegliedert und im Namen der Erziehung Objekte eines besonderen Gewaltverhältnisses; dieses sei jedoch nicht durchsetzbar, ohne das Verhältnis zu Kindern zum Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit zu machen, was auch Chancen biete: „Indem nun die Kinder so in die öffentliche Aufmerksamkeit gelangen, gewinnen sie gleichzeitig die Chance, Eigensinn zu entfalten, Selbständigkeit und Protest zu artikulieren. Sie fordern die Erwachsenen heraus, sich mit ihnen zu beschäftigen, ihre Gefühle und Vorhaben ernst zu nehmen. Ihre Ausgliederung aus der Gesellschaft ist also ambivalent. Sie begründet ein spezifisches Gewaltverhältnis und zugleich die Möglichkeit, daß Kinder als Individualitäten im Blickfeld der Erwachsenen selber zu handeln beginnen.“ (Negt 1983, S. 54) Daraus ist zu folgern: Der Ausbau öffentlicher Kindererziehung, wie von Bueb gefordert, aber auch von der gegenwärtigen Familienministerin vorangetrieben, bietet Chancen, eine Debatte über die Demokratisierung des Verhältnisses zu Kindern anzustoßen. Es käme also nicht darauf an, gegen die konservative Verstaatlichung der Erziehung die Kleinfamilie zu verteidigen, sondern das Erscheinen von Kindern in der Öffentlichkeit progressiv statt konservativ zu füllen.

Literatur

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Brückner, Peter (1981): Zur Sozialpsychologie des Kapitalismus, Reinbek bei Hamburg

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Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (2007b): Hauptstadtforum „Werte verboten? Was Kinder stark macht.“ URL: http://www.insm.de/Veranstaltungen/Rueckblick_2007/ Rueckblick

Jens, Tilman (2007): Attacke gegen Bernhard Bueb – Micha Brumlik (Hg.): „Vom Missbrauch der Disziplin“. URL: http://www.hr-online.de/website/rubriken/kultur/ index.isp?rubrik= 8908&key=standard_document_29760532

Kofler, Leo (1967): Der asketische Eros, Wien

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Schmidt, Alfred (1971): Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt am Main

Wartelsteiner, Maxi (2007): Zurück in den DDR-Kindergarten? In: Marxistische Blätter 3/2007, S.7-10

[1] Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diesen Band.

[2] Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (2007b); zur Einflussnahme der INSM auf die Medien siehe auch Müller/Otto/Schmidt 2005.

[3] Hier geht es um die Privilegien von Schülern, die in angelsächsischen Internaten verantwortliche Positionen bekleiden.

[4] Hier ist er klarer als bei der Aussage, „der Mensch“ brauche Hierarchie; dort wird nicht klar, ob er ein Bedürfnis nach Über- oder Unterordnung meint, s.o.

[5] Gemeint ist ein Versuch zur Schülermitbestimmung.

[6] Der Unterschied zwischen Buebs Formulierung und dem Bourdieuschen Habitus-Begriff ist natürlich, dass Bourdieu diesen Begriff kritisch meint.

[7] „Der Widerspruch muß nicht [...] ein bloß ‚anscheinender’ zwischen Subjekt und Objekt sein, der dem Subjekt allein als Insuffizienz des Urteils aufzubürden wäre. Vielmehr kann er höchst real in der Sache seinen Ort haben und keineswegs durch vermehrte Kenntnis und klarere Formulierung aus der Welt sich schaffen lassen.“ (Adorno 1997, S. 551)

[8] Der Widerspruch zwischen Verstand und Gefühl kann als Teilaspekt dieses Widerspruchs behandelt werden.

[9] Negt 1983, S. 54; Peter Brückner hat dafür den Begriff des „extrapunitiven Verhaltens“ geprägt (Brückner 1981, S. 85).

[10] Dies schließt diverse Fragen ein, wie z.B. selbstbestimmte schulische Lernprozesse, Wahlrecht für Minderjährige, auch gegen die Eltern durchsetzbare Selbstbestimmung in Fragen der persönlichen Lebensgestaltung wie Religion und Sexualität etc.