Diskussion – Kritik – Zuschriften

Anmerkungen zu Thomas Metschers Rezension des Athen-Auschwitz-Buches von Christian Meier in Z 64, Dezember 2005

März 2006

Thomas Metscher hat in seiner Rezension des Buches von Christian Meier zum „europäischen Sonderweg“ deutlich gemacht, daß Meier seinem Anspruch unzureichend gerecht wird, die faschistischen Greueltaten als Teil und Teilergebnis eines besonderen europäischen Geschichtsgangs zu „denken“, obwohl dieser die Augen vor Gewalttätigkeiten keineswegs immer verschließt, die die Gesellschaftsgeschichte in diesem Teil der Erde bereits vor der Zeit des Faschismus gekennzeichnt haben. (Metscher 2005, bes. 217ff; Meier 2002, 132f, 159 - 165) Ich stimme bis zu einem gewissen Grade der an Meier anschließenden Auffassung Metschers zu, daß „Auschwitz [...] vollständig nur aus der europäischen Geschichte erklärbar“ sei (ob „vollständig“, sei dahingestellt), und teile jedenfalls seine Meinung, daß dies einen „radikal anderen Zugriff auf diese Geschichte“ erfordert, als ihn der renommierte Althistoriker in seinem manchmal (nicht immer) flach dahinplätschernden Wörterfluß zuwege bringt. (Metscher 2005, 219) Aus Metschers Besprechung geht allerdings nicht genau hervor, wie sein eigener wissenschaftlicher „Zugriff“ auf die europäische Geschichte aussieht, außer, daß er betont, daß die Geschichte des europäischen Zivilisationstyps „zugleich eine Geschichte der Gewalt ist“. (Metscher 2005, 216) Doch gibt es dazu längere Erläuterungen in seinem früher veröffentlichten Text „Europa und die Gewalt“, dessen erster Teil ungefähr mit der Besprechung identisch ist und an den wir uns bis zum Erscheinen seines angekündigten Buchs zur selben Frage halten müssen. (Metscher 2004) Ich habe aus dieser früheren Darstellung viel gelernt, wenngleich ich in einigen Punkten nicht der Auffassung ihres Verfassers bin. Die wichtigsten dieser Punkte werden hier kurz benannt, für Details vergleiche man die angegebene Literatur.

(1) Thomas Metscher macht sich die geschichtsblinde Auffassung Christan Meiers (sozusagen dessen Markenzeichen) zu eigen, daß Europa seinen „Sonderweg in der Weltgeschichte“ „mit den Griechen einschlug“ (Meier 2002, 9, vgl. auch 98): die „europäische Geschichte als Geschichte der Gewalt“ lasse sich „auf den Ursprung der europäischen Zivilisation, das antike Griechenland zurückverfolgen“. (Metscher 2004, 218) Nun gibt es zweifellos einen durch das westliche Europa verlaufenden Strang der Geschichte menschlicher Gesellschaften, der sich von der Historie anderer Zivilisationstypen unterscheidet (darauf hatte nicht zuletzt Marx mit seiner Idee der Formationssequenz angespielt). Zumindest die Meiersche Fassung des „europäischen Sonderwegs“ läuft aber auf die Bekräftigung des Vorurteils hinaus, daß die Errungenschaften und Erfolge der Europäer in der Weltgeschichte (recte: deren Durchsetzungsvermögen und Übermacht) in diesen selber (und in niemandem sonst) gründeten – einer Vorstellung, die eben der gedankliche Ursprungsort der von Metscher zu Recht als „Mythe Europa“ gekennzeichneten eurozentrischen Ideologie ist. Lars Lambrecht hat in einem zeitgleich erschienenen Aufsatz (erneut) die Idee einer voraussetzungslosen europäischen, nämlich griechischen, insbesondere athenischen Entstehung „Europas“ kritisiert und auf Ursprünge des westlich-europäischen Entwicklungswegs im Vorderen Orient verwiesen, wobei er zugleich nach den Bedingungen der Schlüsselrolle gefragt hat, die Griechenland (im Unterschied zu den Phöniziern und zu den Hebräern) für den Transfer frühhochkultureller Traditionen in Gesellschaften auf europäischem Boden tatsächlich erlangt hat. (Lambrecht 2004; vgl. auch Lambrecht u.a., 2004, 25 - 28)

(2) Thomas Metscher spricht zu Recht von einer „Gewaltspur“ in der europäischen Geschichte (genauer wohl: Geschichte des westlichen Europa), „die nach Auschwitz führt“, aber er meint zugleich, sagen zu können, er „zögere nicht, hier vom Gewaltgesetz zu sprechen“, das „die Form dieser Geschichte bestimmt“. Dieses „Gesetz der Gewalt“ sei „die Logik der Unterwerfung“. (Metscher 2004, 222 ff, im Original kursiv). Ich bin etwas mißtrauisch, wenn von Logik und von geschichtlichen Gesetzen die Rede ist, und möchte daher genauer wissen: Unterwerfung wessen, wie, und vor allem: weswegen? Thomas Metscher nennt hier die abhängigen Arbeitskräfte, deren Ausbeutung und den Profit, und er erwähnt gelegentlich, in bezug auf die Antike, das Patriarchat. Doch vor allem führt er als Beleg für die Gewaltgeschichte Europas die immer neuen Kriege an, insbesondere diejenigen zu kolonialistischen und imperialistischen Zwecken. Das sind sehr beeindruckende Schilderungen, aber man erfährt nicht, ob und ggf. wie und weshalb Exploitation, Patriarchat und Kolonialismus zusammenhängen – sei es aufgrund jenes „Gewaltgesetzes“ oder sonstwie. Dabei liegt es nahe, daß z. B. kolonisierende Gewaltanwendung und die patriarchale Gewaltausübung (deren europäische Geschichte und Erscheinungsformen neuerdings von Sperling u.a. 2004 und Tjaden-Steinhauer 2005 skizziert und interpretiert worden sind) miteinander zu tun haben: jedenfalls in der früheren Geschichte des „europäischen Sonderwegs“ sind die Eroberung und gewaltsame Nutzung zusätzlicher Lebensräume und die väterliche bzw. ehemännliche Verfügungsgewalt über das Gebärvermögen der Frauen durch die Entwicklung von landwirtschaftlichen Nutzflächen und Bevölkerungszahl vielfältig miteinander vermittelt. Was das seinerseits mit der Ökonomie zu tun hat, wäre eine weitere Frage.

(3) Was die Anwendung und Steigerung von Gewalt in der Geschichte der westlich-europäischen Gesellschaften betrifft, so kommt in den eindrucksvollen Illustrationen dieser Historie, die uns Thomas Metscher präsentiert, der Bereich der (ökonomischen) Arbeit, auf den er sonst eigentlich viel Wert legt und der mit dem Konzept der „doppelten [internen und externen] Exploitation“ (Metscher 2004, 218ff) immerhin prinzipiell angesprochen wird, seltsamerweise so gut wie nicht vor, ganz zu schweigen vom technischen Inhalt dieser Vermittlung von „Mensch“ und „Natur“. Dabei spielt Gewalt in Gestalt ökonomischer Verfügungsgewalten und damit verbundener Verfügungsrechte (wie z. B. des Privateigentums an Grund und Boden und anderen Arbeitsgegenständen und -mitteln) in der Geschichte des europäischen Westens vielleicht sogar, verglichen mit anderen Zivilisationstypen, eine besonders große Rolle. Der bloße Hinweis auf Ausbeutungsverhältnisse kann nicht befriedigen, schließlich gab bzw. gibt es solche Exploitation auch in allen nicht-europäischen Klassengesellschaften. Die wachsende und letztlich hervorragende Bedeutung der Ökonomie und ihrer Expansion in der westlich-europäischen Geschichte dürfte nicht zuletzt auch technische Gründe gehabt haben, die ihrerseits aus Besonderheiten der diversen geographisch-historischen Milieus im Westen des Kontinents hervorgingen, insbesondere aus solchen ökologischer Art. Was solche Rahmenbedingungen für die Dynamik der ökonomischen, insbesondere agrarischen Verhältnisse im Mittelalter bedeuteten und damit auch für die Entwicklung der inneren und äußeren gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse in diesem Europa, hat Michael Mitterauer in seiner Darstellung „mittelalterlicher Grundlagen eines Sonderwegs“ gezeigt. (Mitterauer 2003, auch Mitterauer 2001) Ich erlaube mir abschließend, unbescheiden auf einige meiner bisherigen Versuche hinzuweisen, die besondere Geschichte gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse und Formationen im westlichen Europa unter dem Gesichtspunkt der ökonomisch-technischen Subsistenzstrategien und ihrer geschichtlichen Verkettungen zu skizzieren. (Tjaden 1999, 2000)

Im übrigen stimme ich Thomas Metscher zu, wenn er schreibt, daß „die Frage nach dem ‚europäischen Sonderweg’“ – der freilich im Vorderen Orient beginnt – „heute in der Tat eine geschichtliche [...] Grundfrage“ ist. (Metscher 2005, 14; auch 2004, 203) Ich denke, daß zur Beantwortung dieser Frage noch allerlei wissenschaftliche Arbeit vonnöten ist, zusätzlich zu dem, was Meier und Metscher dazu zu sagen haben.

Literatur

Lambrecht, Lars, 2004: Phönizier, Hebräer, Griechen – Weichenstellungen für den west-europäischen Entwicklungsweg? Neue Fragen zu einem Forschungsprogramm. In: Sperling, Urte/Tjaden-Steinhauer, Margarete, Gesellschaft von Tikal bis irgendwo, europäische Gewaltherrschaft, gesellschaftliche Umbrüche, Ungleichheitsgesellschaften neben der Spur, Kassel, S. 64 - 91 (Studien zu Subsistenz, Familie, Politik. 3)

Lambrecht, Lars, [u.a.], 2004: Statt einer Einleitung: Anmerkungen zum Fortschritt in der Geschichte. In: Sperling, Urte/Tjaden-Steinhauer, Margarete, Gesellschaft von Tikal bis irgendwo, europäische Gewaltherrschaft, gesellschaftliche Umbrüche, Ungleichheitsgesellschaften neben der Spur, Kassel, S. 7 - 42 (Studien zu Subsistenz, Familie, Politik. 3)

Meier, Christian, 2002: Von Athen bis Auschwitz, Betrachtungen zur Lage der Geschichte, München

Metscher, Thomas, 2004: Europa und die Gewalt. In: Paech, Norman [u. a.], Hrg., Völkerrecht statt Machtpolitik, Beiträge für Gerhard Stuby, Hamburg, S. 2002 - 225

Metscher, Thomas, 2005: „Von Athen bis Auschwitz“ – eine Variante der Mythe Europa. In: Z - Zeitschrift Marxistische Erneuerung 16, Nr. 64, S. 214 - 219

Mitterauer, Michael, 2001: Roggen, Reis und Zuckerrohr, Drei Agrarrevolutionen des Mittelalters im Vergleich. In: Saeculum, Jahrbuch für Universalgeschichte, 52, II. Halbband, S. 245 - 265

Mitterauer, Michael, 2003: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München

Sperling, Urte, [u. a.], 2004: Generative Körpervermögen und gesellschaftliche Gewalt gegen Frauen. In: Sperling, Urte/Tjaden-Steinhauer, Margarete, Gesellschaft von Tikal bis irgendwo, europäische Gewaltherrschaft, gesellschaftliche Umbrüche, Ungleichheitsgesellschaften neben der Spur, Kassel, S. 179 - 236 (Studien zu Subsistenz, Familie, Politik. 3)

Tjaden, Karl Hermann, 1999: Das Problem der Progression gesellschaftlicher Formationen, Bemerkungen aus soziologischer und historischer Sicht. In: Topos, Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 14/14, S. 251 - 269

Tjaden, Karl Hermann, 2000: Techniklinien und Geschichtsverkettungen, Stoff- und Energieumsätze in ausgewählten Gesellschaften. In: Z - Zeitschrift Marxistische Erneuerung 11, Nr. 42, S. 91 -107

Tjaden-Steinhauer, Margarete, 2005: Gesellschaftliche Gewalt gegen Frauen: Ehe und Prostitution. In: Das Argument Nr. 263, S. 184-198