Marx-Engels-Forschung

Engels’ Umgang mit Marx’ Manuskripten zum zweiten Band des „Kapital"

März 2005

Die vollständige, historisch-kritische Edition des literarischen Nachlasses von Marx und Engels in der MEGA, insbesondere jener Manuskripte in der II. Abteilung, die beginnend mit den „Grundrissen“ letztendlich zur Herausgabe aller drei Bände des „Kapital“ führten, bringt uns der von Karl Kautsky bereits 1926 aufgeworfenen Problemstellung näher: wenn Engels’ Anordnung und Redaktion der Marxschen Texte im zweiten und dritten Band des „Kapital“ nicht immer dem Gedankengang des Autors entsprochen habe, müsse man sämtliche Marx’ Manuskripte veröffentlichen, wie sie sind. Achtzig Jahre nach dieser Aufforderung wird sie erfüllt sein. *

Engels nahm regen Anteil an Marx’ Ausarbeitung der Kritik der politischen Ökonomie. Viele Briefe befassen sich mit dem Stand der Arbeit und Detailfragen des „Kapital“. Oft wurde Engels von Marx mit ausweichenden Antworten auf Fragen nach dem Arbeitsstand bedacht. Nach Erscheinen des ersten Bandes (1867, MEGA² II/5) übernahm Engels die Rezensionstätigkeit und veröffentlichte in deutschen Zeitungen Besprechungen, fertigte selbst ein Konspekt an. Dabei ging es ihm vor allem um die Propagierung des Werkes in wichtigen Grundfragen, wie Mehrwertproduktion, Arbeitslohn, Ausbeutungsverhältnisse; um das Heranführen der organisierten Arbeiterbewegung an das Studium des „Kapital“. Es kann jedoch nicht übersehen werden, dass Engels kaum konkretere Vorstellungen über die von Marx geplanten weiteren Bücher des „Kapital“ hatte. Ihr schriftlicher Meinungsaustausch beschränkte sich auf Detailfragen. Wenn vielleicht auch manches mündlich besprochen wurde, zumal nach dem Umzug von Engels nach London, so kann wohl doch davon ausgegangen werden, dass für Marx selbst die Darstellung nicht abgeschlossen und Engels vor dessen Tode die Manuskripte nicht im Zusammenhang gelesen hatte. Insofern spielte Engels in bezug auf das „Kapital“ durchaus die „Zweite Violine“ (MEW 36, S. 218). Deshalb ist wohl nicht auszuschließen, dass Engels, als er in die Situation kam, selbst verantwortlich für das „Kapital“ zu sein, manche Fehler begangen hat oder manchen Gedankengang von Marx nicht nachvollziehen konnte.[1]

Nach Marx’ Tod wurde Engels als erstes mit dem Problem konfrontiert, dass eine neue Auflage des ersten Bandes notwendig sei. Nun musste er leisten, was Marx z.T. vorgedacht hatte und in einem speziellen Verzeichnis bereits 1877 (MEGA² II/8, S. 5–36) niedergelegt hatte: die Übernahme von Textstellen aus der französischen Ausgabe (MEGA² II/7) in die dritte Auflage 1883 (MEGA² II/8). Sieben Jahre später konnte er noch eine vierte Auflage herausgeben (1890, MEGA² II/10), wiederum mit einer Reihe von kleineren Veränderungen und Ergänzungen versehen. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang vor allem die von ihm verfassten Fußnoten, die historische Fakten, bzw. neue naturwissenschaftlicher Erkenntnisse mitteilten und die Kritik an den ökonomischen Auffassungen, besonders von Mill, Proudhon und Malthus, weiterführten.[2]

Einige der gravierendsten Texteingriffe von Engels sind schon länger in der Diskussion: die Ersetzung des Begriffs der einfachen Warenzirkulation durch den der einfachen Warenproduktion[3]; ebenso die Historisierungen, die Engels in der 3. und 4. Auflage des ersten Bandes des „Kapital“ vorgenommen hat. Deshalb wird hier nicht näher darauf eingegangen.

Durch die intensive Beschäftigung mit dem ersten Band prägten sich auch bestimmte Voraussetzungen für die Herausgabe des zweiten und dritten Bandes des „Kapital“ durch Engels heraus. Während es ihm gelang, in relativ kurzer Zeit die Marxschen Manuskripte als Band 2 zu veröffentlichen, zog sich die Bearbeitung der Manuskripte für den dritten Band über zehn Jahre hin. Die Situation war auch äußerst paradox: Engels sprach einerseits vom „ersten Entwurf“, andererseits versucht er, bei der Edition dieses Marxschen Manuskripts von 1864/65 (MEGA² II/4.2) den Text zu verbessern, wo es nur geht (MEGA² II/14[4]). Und er veröffentlicht den Text nicht als Entwurf, sondern als „Karl Marx: Das Kapital. Dritter Band“ (MEGA² II/15).[5] Die Vorentscheidung darüber war allerdings schon 1885 gefallen, als er die Manuskripte von Marx zum zweiten Buch als „Das Kapital. Zweiter Band“ herausgegeben hatte (MEGA² II/13[6]).

Das überlieferte Redaktionsmanuskript von Engels für den zweiten Band des „Kapital“ (Juni 1884–Februar1885), das für die Edition in MEGA² II/12 vorbereitet wird, beruht auf sieben von zehn Manuskripten unterschiedlichen Umfangs aus dem Nachlass von Marx: Das erste Manuskript entstand in der ersten Hälfte 1865 (Manuskript I. MEGA² II/4.1); nach weiteren zwei Teilausarbeitungen (MEGA² II/4.3) schrieb Marx in der Zeit von Anfang Dezember 1868 bis Mitte 1870 eine zweite vollständige Fassung nieder (Manuskript II. MEGA² II/11). Als er Ende März 1877 sich erneut der Problematik des zweiten Buches zuwandte, stellte er zunächst Hinweise auf seine früheren Hefte zusammen, um dann 1877/1878 weitere Teilausarbeitungen für die ersten beiden Kapitel vorzunehmen. Ende 1880/Anfang 1881 arbeitete er die Textgrundlage für das dritte Kapitel aus (Manuskript VIII. MEGA² II/11).

Engels beschrieb den Zustand dieser Manuskriptsammlung von Marx im Vorwort der ersten Auflage des zweiten Bandes folgendermaßen: „Die Hauptmasse des Materials war, wenn auch grösstentheils sachlich, so doch nicht sprachlich fertig ausgearbeitet; abgefasst in der Sprache, worin Marx seine Auszüge anzufertigen pflegte: nachläßiger Styl, familiäre, oft derbhumoristische Ausdrücke und Wendungen, englische und französische technische Bezeichnungen, oft ganze Sätze und selbst Seiten Englisch; es ist Niederschrift der Gedanken in der Form, wie sie sich jedesmal im Kopf des Verfassers entwickelten. Neben einzelnen, ausführlich dargestellten Partien andere, gleich wichtige nur angedeutet; das Material illustrirender Thatsachen gesammelt, aber kaum gruppirt, geschweige verarbeitet; am Schluss der Kapitel, unter dem Drang zum nächsten zu kommen, oft nur ein paar abgerissne Sätze als Marksteine der hier unvollendet gelassnen Entwicklung; endlich die bekannte, dem Verfasser selbst manchmal unleserliche Handschrift.“ (MEW 24, S. 7) In Engels’ Ermessen lag es nun, eine redaktionelle Bearbeitung der Texte vorzunehmen. Das vorliegende Redaktionsmanuskript ermöglicht, die Arbeitsphasen der Auswahl, Zusammenstellung, Redaktion und Korrektur vor der Veröffentlichung des zweiten Bandes im Detail zu rekonstruieren.

Engels sah seine Aufgabe darin, aus den von Marx hinterlassenen Manuskripten einen fertigen Text zu edieren. Seine Redaktion sollte sich an folgenden „Richtlinien“ messen lassen: das Werk soll „einerseits als zusammenhängendes und möglichst abgeschlossnes Werk, andrerseits aber auch als das ausschließliche Werk des Verfassers, nicht des Herausgebers“ erscheinen. Zu diesem Zweck hielt er es für wichtig, seine Arbeit auf „bloße Auswahl zwischen den verschiednen Redaktionen“ zu beschränken. Als Kriterium sollte dabei gelten, dass „die letzte vorhandne Redaktion unter Vergleichung der frühern“ benutzt wird. (Ebd., S. 12) Falls er während seiner Redaktionsarbeit auf inhaltliche, nicht rein technische Schwierigkeiten gestoßen sei, habe er sie „ausschließlich im Geist des Verfassers“ gelöst. Allerdings ist damit auch ein bestimmter Ermessungsspielraum verbunden, der eine Interpretation nach dem „Geist des Verfassers“ und dem „des Herausgebers“ einschließt.

Diese Aufgabe war in der Realität jedoch mit einigen Schwierigkeiten verbunden, die im Verlauf der Arbeit an dem Manuskript zu umfangreichen Eingriffen in den Text führten, wie z.B. Änderungen in der Strukturierung, Überarbeitungen und Ergänzungen einzelner Textpassagen, Anpassungen in der Terminologie usw. Diese Veränderungen tauchen nicht nur in der ersten Hälfte des ersten Kapitels auf, die Engels selbst abschrieb, sondern ebenso in den später von ihm diktierten Textteilen. Auch änderte Engels nicht nur während des Diktierens selbst. Als sein Sekretär fungierte Oscar Eisengarten.[7] Der Großteil der handschriftlichen Manuskripte von Marx befand sich in einem solchen Zustand, dass Engels, um auch nur provisorisch einen kohärenten Basistext zu erhalten, jeden Abend die diktierten Teile überarbeitete. Eingriffe und Änderungen dieser Art finden sich über das gesamte Redaktionsmanuskript verteilt; sie sind Gegenstand des Verzeichnisses der innerhandschriftlichen Varianten.

Engels ging bei der Redaktion immer vom zuletzt verfassten Manuskript von Marx unter Hinzuziehung früherer Manuskripte aus. Beim Redigieren des ersten Abschnitts (erst in Manuskript V führte Marx den Strukturbegriff des Abschnitts ein, zuvor als Kapitel bezeichnet) nahm Engels prinzipiell das letzte vorhandene Manuskript VII auf, da das Manuskript VIII einen Teil des 3. Abschnitts (unter der Überschrift „Ch. III) b. II)“ geschrieben) enthielt und damit nicht für den Beginn in Frage kam. Manuskript VII besteht nur aus sieben Seiten in Folio und wurde im großen und ganzen fast vollständig benutzt, obwohl Engels einige Passagen daraus auswechselte. Es endet jedoch in der halbfertigen Form in dem Paragraph: „I) Kreislaufsprocess des Geldcapitals: G — W W...P...W’ — G’“. Engels musste seine Redaktion also damit fortsetzen, dass er aus dem vorletzten Manuskript VI, d.h. mit dem gerade unmittelbar vor Manuskript VII geschriebenen, einen Teil ergänzte. Dazu schloss er noch eine vermeintliche Lücke durch eine kurze Ergänzung, die er dem Manuskript V entnahm.

Manuskript VI, bestehend aus 17 Seiten in Quart, umfasst auch nur den Anfangsteil des ersten Kapitels: „Die Metamorphosen des Kapitals und ihr Kreislauf“. Deshalb schloss Engels die inhaltlich mit dem Manuskript VII überschneidenden Textteile aus und nahm nur die letzte Hälfte (Seiten 10–17) als die auf den letzten Teil des Manuskripts VII folgenden Passagen auf. Gleichfalls erscheint, wo Manuskript VI wieder halbfertig endet (im Paragraph: „Drittes Stadium. W’–G’“), Manuskript V als sein nächster Vorgänger, aber von Engels werden nur dessen folgerichtig entwickelten Textteile übernommen. Manuskript V besteht aus 56 Folio-Seiten und ist, nach Engels, „die letzte vollständige Darstellung dieses wichtigsten Theils [Kapitel 1–4] des ersten Abschnitts“. (MEW 24, S. 11) Aufgrund dieser Erkenntnis hat er – die Seiten 1–8 und 10–11 ausgenommen, wo gemeinsame Themen mit den anderen Manuskripten behandelt werden – dieses Manuskript zum größten Teil in das Redaktionsmanuskript übernommen. Somit konnte Engels die Bearbeitung der Kapitel 1 bis 4 abschließen.

In den Manuskripten I und II plante Marx, dass das 2. Buch des „Kapital“ aus drei Abschnitten (Kapitel) bestehen sollte, und der erste Abschnitt (Kapitel) wiederum aus drei Unterabschnitten. Die oben erwähnten Manuskripte VII, VI und V umfassen als gemeinsames Thema: „Erster Abschnitt. Der Kreislaufsprozess des Kapitals“ und „Erstes Kapitel. Die Metamorphosen des Kapitals und ihr Kreislauf.“ Danach sollten die Kapitel folgen: 2) Die Circulationszeit (Manuskript I), 2) Produktionszeit und Umlaufszeit (Manuskript IV), 2) Die Umlaufszeit (Manuskript II), 2) Die Cirkulations- oder Umlaufszeit (Manuskript II, Überschrift), 2) Cirkulationszeit. 3) Productionszeit. 4) Umlaufszeit (Hinweisung auf meine alten Hefte), 3) Die Zirkulationskosten (in fast allen Manuskripten so bezeichnet). Fraglich ist also, welches von den Manuskripten I bis IV Engels hier zur Grundlage nehmen sollte? Nach seinem Kriterium hätte es keinen Zweifel geben können, weil er – wenigstens nach dem Vorwort zu urteilen – sich darüber im klaren war, dass Manuskript IV früher als Manuskript II geschrieben worden war. Aber hier hielt er ausnahmsweise nicht an seinem Grundsatz fest, und zog für den fortsetzenden Text im 5. Kapitel das Manuskript IV vor. Der Grund dafür lautete, dass es „vollendeter in der Form“ sei; „es genügte, […] einige Zusätze zu machen.“ (MEW 24, S. 11) Vor allem im 6. Kapitel „Die Cirkulationskosten“ befinden sich relativ viele Zusätze aus dem Manuskript II.

Nun aber beinhaltet Manuskript IV 58 Seiten und endet wieder unvollständig. Es umfasst inhaltlich den Bereich bis zum zweiten Abschnitt (Kapitel): „Der Umschlag des Kapitals. 2) Fixes Kapital und cirkulierendes Kapital (Anlagekapital u. Betriebskapital.)“, und zwar nur den Anfangsteil. So war Engels gezwungen, den Text bis zum Ende des zweiten Abschnitts ausschließlich auf der Basis von Manuskript II zu redigieren. So könnte seine Bemerkung verstanden werden, dass „der Rest des ersten und der ganze zweite Abschnitt (mit Ausnahme des siebzehnten Kapitels) [...] keine bedeutenden theoretischen Schwierigkeiten“ boten. (Ebd., S. 12) Im Redaktionsmanuskript fehlen ab Kapitel 12 noch die Überschriften für jedes Kapitel, die er offenbar erst nach einer erneuten Kontrolle in der Reinschrift ergänzte.

Im dritten Abschnitt hat sich der Bearbeitungsgrundsatz von Engels weitgehend durchgesetzt. Das heißt, das als letztes verfasste Manuskript VIII sollte die Grundlage bilden und dessen Lücken durch das frühere Manuskript II ergänzt werden. Wäre es jedoch „nur eine vorläufige Behandlung des Gegenstands, bei der es vor Allem darauf ankam die gewonnenen neuen Gesichtspunkte gegenüber Manuskript II festzustellen und zu entwickeln, unter Vernachlässigung der Punkte, über die nichts Neues zu sagen war“ (ebd. S. 12), wäre die Redaktion nicht einfach gewesen. Denn die beiden Manuskripte sind ursprünglich zu einer sich gegenseitig ergänzenden Thematik entstanden. Und wenn dies so ist, müsste das Redaktionsmanuskript eine wesentlich kompliziertere, ineinander durchflochtene Gestaltung haben. Jedenfalls hat Engels vermutlich auf der Grundlage eines solchen Gedankenganges zuerst versucht, das ganze Manuskript VIII ins Reine zu schreiben. Dabei war er jedoch der Versuchung unterlegen, eine Vielzahl von Umstellungen und Einfügungen aus Manuskript II vorzunehmen und den Text teilweise umzuarbeiten.

Diese redaktionelle Arbeit von Engels am zweiten Band des „Kapitals“ wird im MEGA²-Band II/12 durch drei spezielle Verzeichnisse dokumentiert. Die von ihm eingeführte Strukturierung des Textes wird im „Gliederungsvergleich“ der Kapiteleinteilungen der Manuskripte von Marx gegenübergestellt. Auf diese Weise wird ein Überblick über die Gestaltung der Titel und Überschriften der einzelnen Kapitel und Unterkapitel durch Engels gegeben. Aus dem „Provenienzverzeichnis“ lässt sich ablesen, welche Textteile aus Marx’ Manuskripten Engels an welchen Stellen des Redaktionsmanuskripts konkret zugrunde gelegt hat. Aus dieser Übersicht geht z.B. hervor, dass die Struktur bzw. Reihenfolge der Erörterung, wie sie sich in den Originalmanuskripten von Marx findet, verschiedentlich geändert wurde. Des weiteren wird deutlich, dass Engels Kürzungen vorgenommen hat und dass der Text der einzelnen Abschnitte, Kapitel und Paragraphen eine Synthese aus verschiedenen Manuskripten darstellt. Im „Abweichungsverzeichnis“ wird konkret aufgeführt, wie Engels in die Formulierung der einzelnen Passagen eingegriffen hat, d.h. welche Sätze oder Begriffe er änderte bzw. welche Ergänzungen oder Tilgungen er vornahm. Umgekehrt lässt sich aus dieser Aufstellung auch erkennen, an welchen Stellen das Redaktionsmanuskript direkt einem der Marx’ Manuskripte folgt.

Aus diesen drei speziellen Verzeichnissen sollen einige Beispiele herausgegriffen werden. Der „Gliederungsvergleich“ belegt, dass die Gliederung bzw. die Zusätze in den Überschriften vor allem im ersten und zweiten Abschnitt mit der Gliederung und den Überschriften in den von Marx nachgelassenen Manuskripten übereinstimmen; im Hinblick auf die Anordnung der einzelnen Argumentationspunkte gibt es jedoch auch sehr augenfällige Unterschiede. Das zweite Buch des „Kapital“ besteht insgesamt aus drei Kapiteln (Abschnitten). Nach der Gliederung von Marx wird der Kreislaufprozess des Kapitals in Kapitel (Abschnitt) 1, sein Umschlag in Kapitel (Abschnitt) 2 und der Reproduktionsprozess in Kapitel (Abschnitt) 3 diskutiert. An dieser Gliederung hat Marx seit Manuskript I konsequent festgehalten. Die Konzeption bzw. Gliederung der einzelnen Kapitel sowie die theoretischen Ideen und Begriffe, die der Erörterung zugrunde liegen, lassen sich jedoch nicht als „sachlich fertig ausgearbeitet“ bezeichnen. Aus dem „Gliederungsverzeichnis“ geht hervor, dass die Kapitel (Abschnitte) 1 und 2 in jedem Manuskript neu gegliedert wurden; auch die Kapitel-Überschriften wurden jeweils geändert, dabei steht die Formulierung der Kapitelüberschriften durch Engels mehrfach im Widerspruch zum behandelten Gegenstand. Bei Kapitel (Abschnitt) 3 hat sich Marx letzten Endes auf keine endgültige Gliederung festlegen können. So wird z.B. das Problem der „Produktionszeit“ in den Manuskripten I, IV und II jeweils an unterschiedlicher Stelle diskutiert. Wurde es ursprünglich bei der Erörterung des Kreislaufsprozesses des Kapitals aufgegriffen, so ist es später in die Erörterung des Umschlags des Kapitals umgestellt worden.

Engels gibt im Anschluss an das Vorwort zur Erstausgabe des zweiten Bandes eine Übersicht über die von ihm in den Abschnitten im einzelnen verwandten Manuskripte von Marx; im Redaktionsmanuskript informiert er teilweise, welches Manuskript er zugrunde gelegt hat. Seine Redaktionsarbeit bestand gerade darin, wie bereits geschildert, die Textpassagen auszuwählen und anzuordnen. Dabei ergaben sich Textumstellungen, Einfügungen von Passagen usw. Diese Arbeitsphase wird in der „Provenienzliste“ widergespiegelt. Das „Provenienzverzeichnis“ legt das Verhältnis zwischen dem Redaktionsmanuskript und dem jeweiligen Originalmanuskript von Marx, das der redaktionellen Arbeit von Engels zugrunde lag, offen. Es wird erkennbar, wenn Textpassagen nicht aufeinander folgen, bzw. wenn sie verschiedenen Manuskripten entnommen wurden. Das fertige Redaktionsmanuskript durchbricht die Strukturierung der von Marx übernommenen Textteile an erheblichen Stellen; diese Eingriffe in die ursprüngliche Gedankenführung lassen sich an der doppelten bzw. dreifachen Paginierung, die sich an zahlreichen Stellen findet, ablesen. Es werden also sämtliche Textpassagen aufgelistet, die Engels aus Marx’ Manuskripten tatsächlich übernommen hat. Dadurch können umgekehrt aber auch die Textpassagen festgelegt werden, die Engels nicht im Redaktionsmanuskript berücksichtigt hat. Insofern bietet das „Provenienzverzeichnis“ den Benutzern der MEGA² gleichzeitig einen Ausgangspunkt für eingehendere Forschungen zu den nicht aufgenommenen Textteilen.

Eine wesentliche Arbeitsphase von Engels am Redaktionsmanuskript war davon geprägt, dass er entweder bereits während des Diktats oder während der Durchsicht der Abschrift Marx’ Formulierungen veränderte, terminologische Begriffe austauschte und Übersetzungen vornahm. Insgesamt handelt es sich dabei um ca. 5000 Textänderungen. Als Beispiele aus dem „Abweichungsverzeichnis“ sollen erwähnt werden: die Ersetzung des Begriffs des produktiven Kapitals durch industrielles Kapital, die Einführung des Begriffs Zirkulationskapital statt zirkulierendes Kapital, Vereinheitlichung der von Marx’ verwandten Begriffe Abteilung, Klasse, Zweig, Sphäre u.a. in „Abteilung“ sowie die konsequente Veränderung der Produktion von Produktionsmitteln („Kategorie II“) in „Abteilung I“ und der Produktion von Konsumtionsmitteln („Kategorie I“) in „Abteilung II“ (entsprechend Marx’ Manuskript VIII). Außerdem erfolgten Historisierungen, z.B. durch die Ersetzung des Begriffs von einem „modernen Pächter“ durch den eines „altmodischen kontinentalen Kleinbauern“, wodurch verschiedene Produktionsweisen angesprochen werden, statt im Rahmen des kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses zu bleiben.

Welche Schlussfolgerungen können aus den neu veröffentlichten bzw. in Bearbeitung befindlichen Manuskripten gezogen werden? Wir wissen nunmehr, dass Engels nicht in jedem Fall seinen in den Vorworten zu allen drei Bänden des „Kapitals“ formulierten Editionsgrundsätzen treu geblieben ist. Der Umfang seiner Texteingriffe (Verkürzungen, Erweiterungen, Umformulierungen, Anordnung) ist weitaus größer, als bisher angenommen. Allerdings wissen wir wohl: Engels konnte nicht immer dem Gedankengang von Marx folgen, wenn dieser Gedankengang vom Autor selbst nicht klar formuliert war und ebenso keine Anweisungen über Anordnung bzw. Auswahl vorlagen.

Kautsky meinte, wenn alles von Marx veröffentlicht werden würde, ergäbe dies ein „ganz unleserliches Buch, das bloß für einige Dutzend Marxforscher von Interesse wäre“. Die weltweite Resonanz der MEGA-Bände der II. Abteilung gibt ihm unrecht. Wir erfahren viel mehr über den Gedankenreichtum der Manuskripte, die Marx hinterlassen hat, können uns auch mit seinen „Abwegen“ vertraut machen. Ebenso würdigen wir die Leistung von Engels, „lesbare“ Bücher herausgegeben zu haben. Es ist falsch, Marx und Engels als „eineiige Zwillinge“ darzustellen, wie es ebenso falsch ist, einen unlösbaren Gegensatz zwischen beiden zu konstruieren.

* Überarbeiteter Vortrag, der auf der Konferenz von Actuel Marx am 30. September 2004 in Paris präsentiert wurde (siehe http://netx.u-paris10.fr/actuelmarx/index4.htm). Der Beitrag beruht auf Forschungsergebnissen, die im Zusammenhang mit der Edition des MEGA²-Bandes II/12 entstanden. Der Band, an dem der Autor mitwirkt, wird von einer japanischen Arbeitsgruppe an der Tohoku-Universität Sendai unter Leitung von Prof. Dr. Izumi Omura vorbereitet; sein Erscheinen ist für Ende 2005 vorgesehen. Siehe Rolf Hecker, Internationale Marx/Engels-Forschung und Edition. Ein Literaturbericht. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 33, März 1998 (Frankfurt/M.), S. 8–25.

[1] Siehe die Aufsätze von Michael Krätke, Ljudmila Vasina und Carl-Erich Vollgraf in: Neue Texte, neue Fragen. Zur Kapital-Edition in der MEGA (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2001), Hamburg 2002.

[2] Siehe Rolf Hecker, Zur Herausgeberschaft des „Kapitals“ durch Engels. Resümee der bisherigen Edition in der MEGA². In: Utopie kreativ, H. 61, November 1995, S. 14–24.

[3] Siehe Rolf Hecker, Einfache Warenproduktion oder einfache Warenzirkulation – die Debatte um die Ausgangskategorie des Kapital. In: Wissenschaftliche Mitteilungen, H. 1, hrsg. v. Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition e.V., Hamburg 2002, S. 81–91.

[4] Siehe Carl-Erich Vollgraf, Kontroversen zum dritten Buch des Kapital: Folgen von und Herausforderungen für Edition. In: MEGA-Studien, Berlin 1996, Nr. 2, S. 86–108.

[5] Siehe Carl-Erich Vollgraf, Jürgen Jungnickel, „Marx in Marx’ Worten“? Zu Engels’ Edition des Hauptmanuskripts zum dritten Buch des Kapital. In: MEGA Studien 1994/2, Berlin 1995, S. 3–55. Zum Erscheinen des Bandes II/15 Ende 2004 vgl. den Aufsatz von Eike Kopf in diesem Heft.

[6] Das Erscheinen dieses Bandes, der ebenfalls von der genannten japanischen Arbeitsgruppe vorbereitet wird, ist, ebenso wie das der noch ausstehenden Bände II/4.3 und II/11, die in russisch-japanisch-deutscher Kooperation fertiggestellt werden, für die nächsten zwei/drei Jahre vorgesehen.

[7] Keizo Hayasaka, Oscar Eisengarten – Eine Lebensskizze. Sein Beitrag zur Redaktion von Band II des Kapital. In: Neue Texte, neue Fragen. Zur Kapital-Edition in der MEGA (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. NF 2001), Hamburg 2002, S. 83–110.