Berichte

Lenins und unser Imperialismus

Konferenz der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal und der Tageszeitung junge Welt am 12. und 13. März 2011 in Berlin

Juni 2011

Vor etwa 80 Teilnehmern eröffnete der Vorsitzende der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal, Lucas Zeise (Frankfurt am Main), am 12. März 2011 die gemeinsam mit der Tageszeitung junge Welt in deren Ladengalerie veranstaltete Konferenz zum Thema „Lenins und unserer Imperialismus“. Es gehe, so Zeise, dabei um „Klarheit über das Gesamtsystem“ des gegenwärtigen Kapitalismus. Das „Schöne am Imperialismus“ sei: „Man hört es im Gebälk knacken.“ Die Krise zeige aber auch, daß er nicht von allein stürze, man müsse etwas dazu tun. Der Redner erhoffte sich „etwas programmatische Klarheit für welche Partei auch immer“. Neu nachzudenken sei, wie schon Gedachtes anzuwenden ist, und zu prüfen, was verwendbar bleibt.

Hans-Peter Brenner (Bonn) hob in seinem Referat zur Frage „Was sagt uns Lenins Imperialismusschrift heute?“ hervor, daß Lenin die „Grundqualität des Imperialismus im Monopol“ bestimmt und damit den umfassendsten theoretischen Ansatz formuliert habe. Zwar seien andere Theoretiker in Einzelfragen tiefer vorgedrungen – Hilferding, Kautsky, Otto Bauer u. a. –, Lenin habe aber – nach einem Wort von Horst Heininger – trotz aller Kritik den bedeutendsten marxistischen Beitrag zur Imperialismustheorie geleistet. Seine Arbeit sei zugleich eine „Kampfschrift zum Sturz des Imperialismus“ gewesen. Allerdings müsse auch eine Kampfschrift wissenschaftlichen Anforderungen genügen, sonst sei sie ein Pamphlet. Lenins Studie sei daher mehr als eine Propagandaschrift, was sich daran zeige, daß die von ihm genannten fünf wichtigsten Merkmale des Imperialismus „uneingeschränkt gültig“ seien. Brenner hob hervor, dass in quantitativer (Umsatz der größten Konzerne auf der Welt) und in qualitativer Hinsicht (Internationalisierung des Kapitals) Monopole heute eine ungemein größere Dimension haben als vor hundert Jahren. Er kritisierte in diesem Zusammenhang die These, der jeweils nationale Standort von Großkonzernen habe für diese an Bedeutung verloren. Hervorzuheben, so Brenner, sei der „formationslogische“ Aspekt des Imperialismusbegriffs, der ihn im Bürgertum besonders verhaßt mache: Er werfe die Frage des Übergangs zum Sozialismus auf. Brenner kritisierte an dieser Stelle, die von Leo Mayer vertretene These, Lenins Schrift drehe sich nicht um das „höchste“, sondern um „das jüngste Stadium des Kapitalismus“, das Festhalten an der ersten Formulierung sei „Fundamentalismus“. Lenin selbst habe aber in seinen „Heften zum Imperialismus“ notiert, daß die Formulierung „neuestes Stadium“ der Zensur wegen zu verwenden sei. Brenner warf Frank Deppe und Georg Fülberth vor, Imperialismus auf der Ebene des Streits zwischen Lenin und Kautsky zu betrachten, wonach Imperialismus aggressive Politik bestimmter Kapitale sei. Das führe nach Lenin zu dem Appell, der Imperialismus möge sich bessern. Tatsächlich kenne der Imperialismus laut Lenin zwei Methoden der Herrschaftsausübung – eine von Gewalt geprägte und eine „liberale“. Mit der Durchsetzung der neoliberalen Doktrin habe es eine Zuspitzung der Monopolherrschaft gegeben, die eine antimonopolistische Strategie der Gegenkräfte erfordere. Wenn der staatsmonopolistische Kapitalismus ein Schritt hin zum Sozialismus sei, dann gehe es um eine revolutionär-demokratische Strategie, letztlich aber um den Bruch mit dem System.

Georg Fülberth (Marburg) erinnerte in seinen Überlegungen zu „Epochen, Stadien, Formationen, Regulierungsformen“ an den Ausgang des mittelalterlichen Universalienstreits. Deren eine Partei, die Nominalisten, hätten sich „revisionistisch“ mit der Wirklichkeit befaßt, die Realisten auf der anderen Seite an der Wirklichkeit von Allgemeinbegriffen festgehalten und so die Theologie zu einer „Restwissenschaft“ gemacht. Lenin habe den Imperialisus 1916 als höchstes und letztes Stadium des Kapitalismus charakterisiert, was eine erfolgreiche Revolution voraussetze. Die sei aber nicht erfolgreich gewesen, so daß neu über Stadien der Entwicklung nachzudenken sei. Als Kriterien für Zäsuren sind nach Fülberth Systemkrisen und industrielle Revolutionen anzusetzen. Aus den Systemkrisen – dem Abbau von Überakkumulation und Transformation des Kapitalismus – entwickele sich stets ein neuer Typ des Kapitalismus. Beispiel 1873: Der Manchesterkapitalismus, das vorherrschende Einzelkapital sei in der bis in die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts anhaltenden Depression durch Monopole ersetzt worden, die allerdings noch von einzelnen Industriekapitänen geführt worden seien. Die erneute Überakkumulation – gefördert durch eine von Chemie- und Elektroindustrie gekennzeichnete industrielle Revolution – habe zum Kapitalexport u. a. in die Kolonien geführt, zur Herausbildung des Imperialismus und schließlich zum imperialistischen Weltkrieg.

In den 20er Jahren habe es in den USA eine Überakkumulation gegeben, die sich in der 1929 beginnenden Krise bemerkbar machte, deren Dauer Fülberth bis 1975 ansetzte. Die neue Kapitalismusformation sei durch „Big Business, Big Labour, Big Government“ charakterisiert gewesen, d. h. durch Korporatismus. Bis 1945 habe es sich um einen staatsmonopolistischen Kriegskapitalismus gehandelt, danach um einen staatsmonopolistischen Wohlstandskapitalismus. Die Frage sei, ob Imperialismus bestimmend gewesen oder nur ein Merkmal gewesen sei. Nach 1945 habe der Imperialismus auf Grund der Systemkonkurrenz „kooperative Züge“ angenommen und sei tatsächlich nur noch ein Merkmal unter anderen gewesen.

Dann habe die „verschüttgegangene“ Krise 1975 begonnen, aus Fülberths Sicht die „dritte systemische Krise“. Die Mikroelektronik bestimme die neue industrielle Revolution, ermögliche die Einsparung von Arbeitskraft in einem Maß, die das Kräfteverhältnis zugunsten des Kapitals verschiebe. Mit dem Ende des Systems von Bretton Woods sei Geld zur Ware geworden, das der Produktion entzogen und für Spekulation verwendet werde. Die Zäsur 1989 – Ende des realen Sozialismus in Europa – bedeute allerdings eine Zäsur, die möglicherweise den Imperialismus wieder auf die Tagesordnung gesetzt habe.

Erich Hahn (Berlin), der über „Die Ideologien des Imperialismus“ sprach, unterstrich allerdings, daß es eine Kontinuität imperialistischer Herrschaft gebe, die sich nicht hinter dem Rücken der Akteure herstelle, sondern auf bewußten Entscheidungen beruhe. Die damit verbundene Ideologie ziele „darauf, den geistigen Boden für reaktionäre Veränderungen zu bereiten“ – bis hin zum Faschismus. Prägende Inhalte imperialistischer Ideologien seien Antiliberalismus und Irrationalismus, d. h. die Konzentration auf Macht, Gewalt und Reaktion, sowie „Zynismus“ in der Diktion, eine Kombination von Machtarroganz und Krisenahnung, eine „ungeschminkte Sprache“, die allerdings die Verhältnisse nicht kritisiere, sondern rechtfertige. Beispiel sei etwa, wenn Karl-Heinz Bohrer das „Überhandnehmen des Mangels an Willen zur Macht“ in Deutschland beklage und das am Satz „Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen“ festmache. Und es gehe um Machtkonzentration, die Proklamation einer anonymen Logik der Macht im Verhältnis von Zentrum und Peripherie mit dem Huntingtonschen „Clash of Civilizations“ als Muster.

Mit der aktuellen Bedeutung des Begriffs „staatsmonopolistischer Kapitalismus“ befaßte sich Gretchen Binus (Berlin). Sie hob die neuen Dimensionen, die Monopolmacht und Finanzkapital im Vergleich zu Lenins Zeiten angenommen haben, hervor. Der Finanzmarkt stelle jene Struktur monopolistischen Eigentums her, die den Erhalt und die Weiterentwicklung des Kapitalismus gegenwärtig gewährleiste. Der Staat sei darin in widerspruchsvoller Weise eingebunden. Dem schloß sich Zeise an, der die Rolle des „Finanzsektor(s) im staatsmonopolistischen Kapitalismus“ analysierte: Monopol bedeute Umverteilung. Die „prinzipiell unendliche“ Kreditgewährung, d. h. Geldschöpfung, sei ein wesentliches Instrument gewesen, um Gewinn in Richtung der Monopole zu leiten. Dieses Modell sei aber mit der Krise von 2007 an sein Ende gelangt. Diese sei nicht beendet – im Gegenteil: Mit etwa zehn Prozent Entwertung fiktiven Kapitals bislang habe die Krise noch nicht ihre bereinigende Funktion erfüllt.

Den zweiten Tag eröffnete Leo Mayer (München) mit einer Erläuterung seines Konzepts einer gegenwärtig im Imperialismus vorherrschenden kooperativen Tendenz. Er betrachtet diese als „methodischen Vorschlag“, um das Verhältnis von Monopol einerseits und Politik sowie Staat andererseits zu analysieren. Mayer sieht einen „transnationalen Monopolkapitalismus“ als bestimmend an und transnationale Monopole als „strukturbestimmendes Kapitalverhältnis“ der Gegenwart. Der Verwertungskreislauf sei in allen Phasen transnational, ein Drittel des Welthandels daher konzernintern. Die jüngste Krise bedeute einen Einschnitt, aber keine Trendumkehr. Im Unterschied zu Lenins Zeiten gebe es keine Konkurrenz um Rohstoffe, vielmehr schüfen die transnationalen Konzerne Produktionsstätten in Peripherieländern, deren Beschäftigte in Konkurrenz zu den Arbeitenden der Industrieländer träten. Statt durch wachsenden Protektionismus, sei die Krise durch weitere Deregulierung gekennzeichnet. Dafür werde der Staat heute benötigt, d. h. die Staatenkonkurrenz werde systematisch befördert. Statt einer Renationalisierung wachse das Interesse an internationaler Regulierung – von G 20 bis zur Anpassung der Militärstrategien.

Jörg Miehe (Göttingen), dessen Referat den Titel „Der kollektive Imperialismus ist eine Chimäre“ trug, vermißte in Myers Darlegungen „Imperialistisches“, das er vor allem im Kampf um Öl und Energieressourcen sieht. Anders als Meyer meine, gebe es keine Weltbourgeoisie und keine Weltregierung, obwohl die USA durch ihre hegemoniale Macht koordinierend wirkten und einen „Ersatzstaat“ spielten. Sein Fazit: Es gebe weder Monopole, die sich „national verbarrikadieren“ ließen, noch weltweit beherrschende. Für die Durchsetzung ihrer Interessen benötigten sie immer noch eine nationale Regierung.

Winfried Wolf (Berlin), der über „InnerimperialistischeKonkurrenz und unterjochte Welt“ sprach, betonte, daß im Verhältnis von imperialistischen und armen Ländern die Leninsche Theorie völlig ihre Gültigkeit behalten habe und verwies auf den Umgang innerhalb der EU mit den sogenannten PIIGS-Staaten sowie auf den enormen Anstieg der Hungernden auf der Welt als Folge der Krise. Noch immer gelte für den Süden, daß er um so ärmer werde, je größeren Anteil er am Welthandel habe. Zum Abschluß forderte Herbert Schui (Hamburg), eine ökonomische Theorie zu formulieren, „die die Massen ergreift“ und stellte unter der Überschrift „Keynesianismus als Wirtschaftspolitik ist möglich“ ein Modell vor, das die Konzepte von Marx und Keynes zusammenführte. Entscheidend sei, ein Verteilungskonzept im Interesse der großen Mehrheit der Beschäftigten zu formulieren – von Vollbeschäftigung über Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich bis zur sozialen Sicherheit. Das allerdings sei ohne Eingriffe in die Unternehmensautonomie und damit ins Privateigentum nicht zu machen, gehe also über kapitalistisches Wirtschaftsverständnis hinaus, ersetze daher nicht eine Gesellschaftstheorie.1

Arnold Schölzel

1 Die Tagungsbeiträge sind dokumentiert in „junge Welt“ v. 13. April 2011 (Beilage) sowie in Marxistische Blätter, Essen, H. 2/2011. [Anm. der Red.]