Zur Aktualität des Marx’schen „Kapital"

von Thomas Sablowski
September 2017

Der junge Karl Marx formulierte einmal den „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1: 385). Daher ist seine Theorie interessant für alle, die gegen Ausbeutung und Herrschaft kämpfen. Marx ging es um eine Wissenschaft der Geschichte der menschlichen Gesellschaften, und zwar in praktischer Absicht. Als Quintessenz seines Studiums der Philosophie kritisierte er, die Philosophen hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es komme drauf an, sie zu verändern (MEW 3: 7). Die Geschichte „aller bisherigen Gesellschaft“ sei „die Geschichte von Klassenkämpfen“, heißt es in dem gemeinsam mit seinem Freund Friedrich Engels kurz vor der Revolution von 1848 verfassten „Manifest der Kommunistischen Partei“ (MEW 4: 462). Die moderne bürgerliche Gesellschaft sei durch den Kampf von Bourgeoisie und Proletariat geprägt. Marx sah sich an der Seite des Proletariats in dessen Kampf um Befreiung von Ausbeutung und Herrschaft.

Er gelangte zu der Einsicht, dass „Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln“ (MEW 13: 8). „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens“ würden die Menschen „bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse“ eingehen, „Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse“ bilde „die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen“ (ebd.). Daher ging Marx von der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und der Theorien der Junghegelianer, zu denen er selbst einmal gehört hatte, zur „Kritik der politischen Ökonomie“, d.h. zur Kritik der sich damals gerade erst konstituierenden Wirtschaftswissenschaft über. Durch die Kritik der ökonomischen Kategorien wollte er die „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“ (ebd.) entschlüsseln.

Obwohl Marx nur den ersten Band seines Hauptwerks Das Kapital fertigstellen konnte, dürfte dieses Buch zusammen mit den nachgelassenen Manuskripten zur „Kritik der politischen Ökonomie“, aus denen Engels den zweiten und dritten Band des Kapital zusammenstellte, immer noch das am besten ausgearbeitete und komplexeste Werk im Felde der kritischen Gesellschaftstheorie sein. Es ist auch aktueller denn je, denn wir leben heute mehr denn je in „Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“ (MEW 23: 49). Die „innere Organisation“ dieser Produktionsweise wollte Marx im „Kapital“ in ihrem „idealen Durchschnitt“ darstellen (MEW 25: 839).

Selbstverständlich sind die Gesellschaften, in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht, ein komplexes Ganzes, das aus einer Vielzahl gesellschaftlicher Verhältnisse besteht. Ihre Analyse erschöpft sich daher nicht in der Analyse der kapitalistischen Produktionsweise. So sind etwa Sexismus und Rassismus mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen verwoben. Eine kritische Gesellschaftstheorie muss also umfassender sein als die Theorie der kapitalistischen Produktionsweise. Aber diese kann als Werkzeug eingesetzt werden, um historisch-konkrete Gesellschaftsformationen zu analysieren – um zur „konkreten Analyse einer konkreten Situation“ zu gelangen, die laut Lenin „die lebendige Seele des Marxismus“ ist (LW 31: 154). Denn erst die Analyse der konkreten Situation erlaubt auch die Entwicklung einer angemessenen Strategie und Taktik, um die sozialistische Transformation unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen wirksam voranzutreiben. Das Marxsche „Kapital“ ist also nicht alles, aber ohne das „Kapital“ ist alles nichts, könnte man sagen.

Die Aktualität der Marxschen Kapitaltheorie möchte ich gerne anhand seiner Unterscheidung von wirklichem Kapital und fiktivem Kapital kurz darstellen. Diese Unterscheidung gibt es so in der bürgerlichen Wirtschaftstheorie nicht. Wirkliches Kapital basiert nach Marx auf der Ausbeutung der Arbeitskraft, die die Fähigkeit hat, Wert in mehr Wert zu verwandeln. Im industriellen Kapitalkreislauf schießt der Kapitalist Geld vor, um damit Produktionsmittel und Arbeitskräfte zu kaufen. Unter seiner Regie produzieren die Arbeiter*innen Waren, deren Wert in der Regel höher ist als der Wert des vom Kapitalisten vorgeschossenen Kapitals. Gelingt es dem Kapitalisten, die Waren zu verkaufen, so realisiert er damit den Mehrwert und kann sein nunmehr vergrößertes Kapital erneut investieren, um den Prozess von vorne zu beginnen, d.h. er akkumuliert. Unter kapitalistischen Bedingungen erscheinen jedoch auch regelmäßige Geldeinnahmen als Frucht eines Kapitals, denen ein realer Ausbeutungsprozess nicht oder nur indirekt zugrunde liegt. Marx spricht dann von fiktivem Kapital. Wertpapiere stellen z.B. fiktives Kapital dar. Nehmen wir das Beispiel einer Staatsanleihe: Ein Kapitalist kauft Staatsanleihen im Wert von 1 Mio. Euro. Er erhält dafür Zinsen in Höhe von 50.000 Euro jährlich, das entspricht einem Zinssatz von 5%. Der Staat verausgabt das mit der Anleihe eingenommene Geld, um z.B. eine Straße zu bauen. Damit ist das Geld verkonsumiert, es fungierte nicht als Kapital. Der Gläubiger erhält vom Staat aber einen Schuldschein, der den Anspruch auf die jährlichen Zinsen und die Rückzahlung am Ende der Laufzeit verbrieft. Um die jährlichen Zinsen zu zahlen und den Anleihebetrag am Ende der vereinbarten Laufzeit zurückzuzahlen, muss der Staat entweder Steuern aufbringen oder eine weitere Anleihe ausgeben. Der Gläubiger kann das Geld zwar nicht früher vom Staat zurückfordern, aber er kann den Schuldschein an Dritte verkaufen. Der Anspruch auf die zukünftigen Zahlungen wird damit selbst zur Ware und der Schuldschein erhält einen Preis. Dieser kann schwanken. Wenn z.B. die Zinsen auf Staatsanleihen von 5% auf 10% steigen, etwa weil die Gläubiger an der Zahlungsfähigkeit des Staates zweifeln und weniger bereit sind, dessen Anleihen zu kaufen, dann stellt der jährliche Zins von 50.000 Euro nur noch die Frucht eines fiktiven Kapitals von 500.000 Euro dar und nicht mehr von 1 Mio. Euro wie zuvor.

Aus der Perspektive eines Kapitalanlegers macht es keinen qualitativen Unterschied, ob er in die Produktion einer Ware investiert oder ob er in ein Wertpapier investiert, solange er damit sein Kapital erhalten und vermehren kann. Auch aus der Perspektive der bürgerlichen ökonomischen Theorie, die sich im Allgemeinen an den praktischen Interessen der Kapitalisten orientiert, ist dies kein qualitativer Unterschied, der verschiedene Begriffe erfordern würde. Aber mit der Marxschen Unterscheidung zwischen wirklichem und fiktivem Kapital wird es möglich, den widersprüchlichen Zusammenhang dieser verschiedenen Formen zu begreifen, die einerseits ihre eigenen Bewegungen vollziehen, die sich gegeneinander verselbständigen, deren Zusammenhang sich aber andererseits gerade in Krisen gewaltsam geltend macht. Prozesse der Finanzialisierung, der relativen Entkopplung der Kreisläufe des industriellen und des fiktiven Kapitals sowie die periodischen Finanzkrisen werden auf dieser Basis erklärbar. Das kapitalistische Finanzsystem ist heute viel weiter entwickelt als zu Marx Zeiten; es umfasst Formen, die Marx noch gar nicht kennen konnte. Hier zeigt sich, dass es notwendig ist, die Marxsche Theorie weiterzuentwickeln. Dabei könnten auch Elemente postkeynesianischer Theorien in eine marxistische Theorie des Geldes, des Kredits und der Finanzmärkte integriert werden. Obwohl Marx nur die Grundformen des kapitalistischen Kreditsystems im „Kapital“ behandelt hat, ist das Erklärungspotential seiner Theorie weit größer als das des Mainstreams der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft.