China

Chinas Weg zur eigenständigen Weltmacht

Teil 1: Vom Weltrevolutionär zur unabhängigen und selbständigen politischen Großmacht

März 2012

In der Debatte über die Volksrepublik China wird die Geschichte ihrer Entwicklung und hier wiederum die Geschichte ihrer Außenpolitik häufig vernachlässigt. Die Geschichte liefert uns jedoch den Schlüssel, um die chinesische Gegenwart begreifen zu können. Das gilt auch für die Außenpolitik. Die verschiedenen Entwicklungsmodelle der VR China und ihre Umsetzung in den zurückliegenden über sechs Jahrzehnten erforderten stets entsprechende außenpolitische Beziehungen. Die äußeren Bedingungen und Beziehungen ihrerseits haben auf die innere Entwicklung des Landes immer einen direkten, mitunter sogar einen wesentlichen Einfluss ausgeübt. Als sich die VR China „einer Seite zuneigte“, lernte sie vom Weg und von den Erfahrungen der Sowjetunion. Als sie sich gegen die Sowjetunion stellte und sich den USA zuwandte, begann sie von den USA zu lernen. Und ohne das Andocken der chinesischen Volkswirtschaft an die kapitalistische Weltwirtschaft gäbe es die gegenwärtige Reform- und Öffnungspolitik der KP Chinas nicht.

In den äußeren Beziehungen der VR China widerspiegeln sich das Weltbild der KP Chinas und ihr Herangehen an die Fragen unserer Zeit. Sie vermitteln einen Einblick in die verschiedenen Interpretationen der nationalen Interessen des Landes und in die Strategie und Politik, diese Interessen zu schützen und zu verwirklichen. Die Untersuchung der äußeren Beziehungen ermöglicht es, die wechselseitige Einflussnahme innerer und äußerer Faktoren auf die gesellschaftliche Entwicklung Chinas zu erfassen. Sie vermittelt Erkenntnisse und Erfahrungen, die die KP Chinas aus der bisherigen diplomatischen Tätigkeit der Volksrepublik gewonnen hat und die sie ihrer weiteren internationalen Strategie und Politik zugrunde legt.

Mit meinem Beitrag gehe ich dem roten Faden in der Geschichte der Außenpolitik der VR China nach. Vorangestellt ist eine kurze Zusammenfassung wesentlicher nationaler Merkmale, die die Strategie und Politik der KP Chinas in ihrer Gesamtheit seit 1949 kennzeichnen. Es folgt eine meist thesenähnliche Skizzierung der Entwicklung der Außenpolitik und ihrer dramatischen Veränderungen in der Ära Mao Zedongs und der nachfolgenden Periode von Reform und Öffnung bis in die Gegenwart. Daraus ergibt sich das Thema des abschließenden Teils – die Einschätzung der Beziehungen zwischen Sozialismus und Kapitalismus und ihre Entwicklung in offiziellen Verlautbarungen und in wissenschaftlichen Publikationen des heutigen China.

Damit sind auch schon die Quellen benannt, auf die sich die Untersuchung im Wesentlichen stützt. Herauszuheben sind die erst kürzlich herausgegebenen Bände zur Geschichte der Kommunistischen Partei.[1]

Wesentliche nationale Merkmale der Strategie der KP China seit 1949

Hierzulande gibt es in der linken Chinaliteratur, wie mir scheint, die Tendenz, die Unterschiede in der Strategie und Politik der KP Chinas zwischen der Ära Mao Zedongs und der nachfolgenden Periode der Reform- und Öffnungspolitik zu verabsolutieren. Die Unterschiede liegen natürlich auf der Hand. Sie entstanden aus dem Scheitern eines politischen Kurses, den gewonnenen Erfahrungen, und sie kennzeichnen einen neuen Ansatz chinesischer Entwicklung. Die KP Chinas nahm diese Veränderungen jedoch im Rahmen ihrer gesellschaftlichen Grundorientierung und in einer Art und Weise vor, wie sie sich historisch herausgebildet und entwickelte hatte.

Die sich daraus ableitenden generellen, übergreifenden Gemeinsamkeiten in der Strategie und Politik der KP Chinas haben ihren Ausgangspunkt in der neueren und neuesten Geschichte Chinas. Zwei Aspekte möchte ich hervorheben.

Ein erster Gesichtspunkt betrifft die Tatsache, dass die VR China aus einer mehrtausendjährigen mittelalterlichen Ackerbaugesellschaft hervorgegangen ist, deren Nachwirkungen in materieller und geistiger Gestalt trotz fortgeschrittener Modernisierung noch längst nicht überwunden sind.

Ein zweiter Gesichtspunkt sind sie geistigen Nachwirkungen der kolonialen Tragödie des Landes im 19. und 20. Jahrhundert. China, dessen Volk eine der großen Weltkulturen hervorbrachte, war bis ins 18. Jahrhundert hinein eine Großmacht. Der Einfluss des Landes wirkte über die Region hinaus, und seine Vertreter zeigten im Umgang mit anderen Ländern und Völkern ein selbstsicheres und – wie es schien – durch nichts zu erschütterndes Nationalbewusstsein von der historischen Mission Chinas. Nun wurde es als Opfer der Kolonialpolitik des ausländischen Kapitalismus unterworfen, ausgebeutet und diskriminiert. Es verlor seinen Status als Großmacht und sank auf die Stufe eines marginalisierten Landes herab. China war in der kapitalistischen Weltordnung kein Hauptakteur mehr – eine Tatsache, die das Nationalbewusstsein nachhaltig erschütterte. Patriotische Chinesen suchten, diese Situation, in die ihr Land geraten war, zu verändern. Sie begannen, „vom Westen zu lernen“. Unter den damaligen Bedingungen gab es jedoch nur einen Weg, der schließlich auch zum Ziel führte – ein nach der Oktoberrevolution in Russland weitgehend militärisch geführter nationaler und sozialer Befreiungskampf unter Führung der KP Chinas.

Die erste und grundlegendste Schlussfolgerung, die die KP Chinas bei Gründung der Volksrepublik aus dieser Geschichte zog, war, unter allen Umständen eine Wiederholung dieser nationalen Tragödie zu verhindern und die traditionelle Stellung Chinas in der Weltgeschichte auf der Grundlage des materiellen und geistigen Fortschritts der Menschheit wieder herzustellen. Diese Aufgabe der „Renaissance der chinesischen Nation“ begann die gesamte Politik der KP Chinas zu durchdringen.

Eine zweite grundlegende Schlussfolgerung der KP Chinas war, dass dieses Ziel nur auf einem vom Marxismus geprägten sozialistischen Weg verwirklicht werden kann, durch einen Sozialismus, der den chinesischen Gegebenheiten entspricht und zugleich der „Zeit“ angepasst ist.

Das Verständnis der KP Chinas für die Beziehungen zwischen Erneuerung der chinesischen Nation und sozialistischer Entwicklung des Landes wurde in der Rede des Generalsekretär des ZK der KP Chinas, Hu Jintao, zum 90. Jahrestag der Gründung der Partei erneut sichtbar: „Um die große Renaissance der chinesischen Nation verwirklichen zu können, müssen wir standhaft das große Banner des Sozialismus chinesischer Prägung hochhalten, an der Führung durch die KP Chinas festhalten, am Weg des Sozialismus chinesischer Prägung festhalten und ihn erweitern, am theoretischen System des Sozialismus chinesischer Prägung festhalten, an der Entwicklung für das Volk festhalten, sich in der Entwicklung auf das Volk stützen, die Früchte der Entwicklung vom Volk genießen lassen und ständig eine feste Grundlage für die Verwirklichung der großen Renaissance der chinesischen Nation legen.“[2]

Die „Renaissance der chinesischen Nation“ ist das von der KP Chinas seit Gründung der Volksrepublik verfolgte nationale „Kerninteresse“. Sie wird in der wissenschaftlichen Literatur Chinas unterschiedlich definiert als Erreichen des mittleren Niveaus der entwickelten kapitalistischen Länder etwa Mitte dieses Jahrhunderts, als Umwandlung Chinas in eine Weltmacht bzw. als eine unter allen Mächten herausragende Weltmacht.

Vergleichen wir die Entwicklung der KP Chinas in der Ära Mao Zedongs mit der Zeit danach, so lassen sich zwei weitere Gemeinsamkeiten ausmachen.

Gemeinsam ist der Politik der KP Chinas in den zurückliegenden mehr als sechs Jahrzehnten die generelle Tendenz zur Dominanz des Nationalen über das Soziale. Nationale Souveränität, territoriale Integrität, Sicherheit und nationale Einheit stehen absolut im Vordergrund und sind wesentlicher Bestandteil der nationalen Interessen. Nicht zufällig nimmt das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten unter den von der Volksrepublik praktizierten 5 Prinzipien der friedlichen Koexistenz einen herausgehobenen Platz ein. Die vorrangige Wahrnehmung angeblich nationaler Interessen konnte, wie z. B. Ende der 1950er Jahre, sogar verheerende Auswirkungen auf das Leben der Bevölkerung zur Folge haben.[3]

Ein zweiter Gesichtspunkt sind die durchgehend pragmatischen Züge in der Politik und Ideologie der KP Chinas. Ein typisches Beispiel für diesen Pragmatismus war das plötzliche Abgehen Mao Zedongs von seiner Theorie und Politik der neuen Demokratie zugunsten eines direkten Übergangs zum Sozialismus nach dem Beispiel der Sowjetunion. Ein geradezu „pragmatischer Marxist“ war Deng Xiaoping. Das Kriterium für die Bewertung des Lebenswerks Mao Zedongs waren für ihn nicht nur die realen Fakten, sondern auch der schädliche Einfluss, den eine zu negative Bewertung Maos auf das Ansehen der Partei ausüben könnte.[4]

Die proletarische Weltrevolution – die Geostrategie zum Sprung in den Kommunismus

1. 1949 bis Mitte der 1950er Jahre

Für die Außenpolitik der VR China hatte Mao Zedong am Vorabend der Gründung der Volksrepublik einen Drei-Punkte-Kurs aufgestellt: „etwas Eigenes auf die Beine stellen“ (lingqi luzao), „erst das Zimmer säubern, bevor man Gäste herein bittet“ (dasao ganqing wuzi zai qing ke) und „auf eine Seite wechseln“ (yibian dao).

In der „Geschichte der KP Chinas“ wird dieser Kurs als ein wichtiger Beschluss bezeichnet, der aufgrund der Geschichte und Gegenwart Chinas und entsprechend dem damaligen internationalen Umfeld getroffen wurde. Ausgelegt bedeuten die drei Punkte Nichtanerkennung der von der Guomindang-Regierung vereinbarten diplomatischen Beziehungen und Entwicklung neuer diplomatischer Beziehungen auf gleichberechtigter Grundlage; die Beseitigung der ungleichen Verträge, der Privilegien und des Einflusses des Imperialismus in China und damit die Wiederherstellung der nationalen Souveränität des Landes; und die Hinwendung des neuen China „auf die Seite des Sozialismus“, d.h. zur Sowjetunion und allen volksdemokratischen Ländern.

Die widersprüchliche gesellschaftliche Entwicklung im Innern drückte auch der Außenpolitik in der Ära Mao Zedongs ihren Stempel auf. Einem verheißungsvollen Beginn folgte eine Phase ultralinker Politik, der die Abspaltung Chinas von der sozialistischen Gemeinschaft und eine grundlegende Neuorientierung der chinesischen Außenpolitik folgten.

Ein Beispiel für diese Außenpolitik in ihrer ersten Phase waren die Verhandlungen mit der sowjetischen Seite über den „Chinesisch-sowjetischen Vertrag über Freundschaft, Bündnis und gegenseitige Hilfe“ vom 14. Februar 1950. Die chinesische Seite strebte in den Gesprächen drei Ziele an: erstens, die Liquidierung des ungleichen „Vertrages über Freundschaft und Bündnis“, den die Sowjetunion in Auswirkung der Gipfelkonferenz der drei Alliierten in Yalta mit Guomindang-China am 14. August 1945 abgeschlossen hatte und durch den aus Sicht der KP Chinas Privilegien des zaristischen Russlands in China wiederhergestellt worden waren; zweitens, die verbriefte Zusicherung der Sowjetunion, die VR China gegen eine mögliche imperialistische Aggression zu verteidigen, und drittens eine nachhaltige Unterstützung des Aufbaus des neuen China durch die Sowjetunion.

Stalin erkannte den ungleichen Charakter des Vertrages gegenüber Mao auf dessen Nachfrage hin an. In der damaligen internationalen Situation in Ostasien hatte für Mao der Abschluss eines militärischen Bündnisvertrages mit der Sowjetunion Vorrang. Deshalb ging er auch den Kompromiss ein, die Souveränität Chinas über den Marine-Stützpunkt Lüshun, den Hafen Dalian und die Nordostchinesische Eisenbahn erst zwei Jahre später wieder herzustellen, nachdem Stalin erklärte hatte, die Sowjetunion könne aus Gründen der anderen ihr in Yalta für Asien zugesprochenen Rechte nicht sofort auf ihre Rechte in China verzichten.

Mit ihrer Außenpolitik in der ersten Hälfte der 1950er Jahre vermochte sich die VR China wirksam in die friedliche Lösung internationaler Konflikte einzubringen. 1953, auf der Genfer Konferenz zur friedlichen Lösung der Korea-Frage, war die VR China zum ersten Mal als eine der fünf Großmächte auf einer internationalen Beratung vertreten. Ein Jahr später machte die Volksrepublik international von sich reden, als Zhou Enlai und Jawahanal Nehru die Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz verkündeten. Auf der Genfer Indochina-Konferenz unterbreitete sie den entscheidenden Vorschlag, der die friedliche Lösung des indochinesischen Problems ermöglichte. 1955 konnte sich Zhou Enlai auf der Bandung-Konferenz mit dem Vorschlag, die Beziehungen zwischen den Entwicklungsländern auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz zu gestalten, letztlich gegen proimperialistische Kräfte behaupten und damit wesentlich zur Ausprägung des „Geistes von Bandung“ beitragen. Im Ergebnis dieser Politik hatte sich die VR China vor allem unter den Entwicklungsländern Raum für die Entwicklung seiner internationalen Beziehungen geschaffen.

Die VR China erreichte auf der Genfer Indochina-Konferenz auch die Aufnahme direkter Gespräche mit den USA, um Konfrontationen zwischen beiden Ländern „aufgrund von Missverständnissen“ zu vermeiden (Kissinger). Daraus entwickelten sich die chinesisch-amerikanische Botschaftergespräche in Warschau 1956-1971 über die Lösung des Taiwan-Problems in den beiderseitigen Beziehungen. Sie blieben erfolglos, da die USA sich nicht bereit erklärten, aus Taiwan abzuziehen, bevor China nicht formal erklärt hatte, bei der Lösung der Taiwan-Frage keine Gewalt anzuwenden.

In der Taiwan-Frage zeigte sich 1954 und 1958, dass Mao in Wahrnehmung nationaler Interessen auch bereit war, militärische Mittel einzusetzen und –zumindest verbal – selbst vor einem vom Imperialismus ausgelösten atomaren Weltkrieg nicht zurückzuschrecken. 1954/1955 versuchte die VR China ohne Absprache mit dem Bündnispartner Sowjetunion, den Abschluss eines „Vertrages über gemeinsame Abwehr“ zwischen den USA und Taiwan durch Artilleriebeschuss der Inseln Jinmen und Matsu – wenn auch vergeblich – zu verhindern. In dieser ersten Taiwankrise drohten die USA zum ersten Male nach dem 2. Weltkrieg, Atomwaffen einzusetzen. Als Verbündeter der VR China wäre die Sowjetunion ohne ihr Zutun und gegen ihren Willen fast in einen atomaren Weltkrieg hinein gezogen worden.

2. Mitte der 1950 bis Ende der 1960er Jahre

In den Auseinandersetzungen nach dem 20. Parteitag der KPdSU und nach den polnisch-ungarischen Ereignissen 1956 trat die KP Chinas als Sachwalter der nationalen Interessen sozialistischer Länder auf. Sie wandte sich gegen die sowjetische Bevormundung und Einmischung in die inneren Angelegenheiten der anderen sozialistischen Länder und trat für eigene nationale Entwicklungswege ein. Um Einmischungen in die inneren Angelegenheiten sozialistischer Länder ein für allemal zu unterbinden, schlug sie vor, die fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz auch den Beziehungen in der sozialistischen Gemeinschaft zugrunde zu legen.

Damit begann die zweite Phase in der Außenpolitik Mao Zedongs. Während im Innern Kurs darauf genommen wurde, durch Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung die Sowjetunion zu überholen und als erstes Land die kommunistische Gesellschaft zu erreichen, entfalteten sich in der chinesischen Außenpolitik „weltrevolutionäre Züge“. In diesem Prozess nahmen die Beziehungen der VR Chinas mit der Sowjetunion und der sozialistischen Gemeinschaft mehr und mehr konfrontativen Charakter an.

1959 traten die chinesisch-sowjetischen Meinungsverschiedenheiten offen zutage, als sich Beijing in seinen nationalen Interessen von der Sowjetunion verletzt fühlte. Moskau hatte Beijing kritisiert, mit dem chinesisch-indischen Grenzkonflikt Nehru in die Arme des Westens zu treiben, und China nahe gelegt, im Interesse der Durchsetzung der friedlichen Koexistenz den USA entgegenzukommen und offiziell von einer militärischen Befreiung Taiwans Abstand zu nehmen.

Mit dem vom XX. Parteitag der KPdSU angenommenen Programm stand für Mao Zedong fest, dass sich in der Sowjetunion „ein ganzes System des modernen Revisionismus“ herausgebildet hatte. Er sah diesen Revisionismus in den „drei Friedlichen“ (san he) und den „zwei Ganzen“ (liang quan) verkörpert: friedliche Koexistenz, friedlicher Wettbewerb und friedlicher Übergang; Staat des ganzen Volkes, Partei des ganzen Volkes.

Die folgende Polemik zu den internationalen Fragen konzentrierte sich auf die Einschätzung des internationalen Kräfteverhältnisses und die daraus abzuleitende Strategie der internationalen kommunistischen Bewegung. Während sich die Sowjetunion in den Beziehungen mit den USA und den anderen Staaten der imperialistischen Welt auf die Durchsetzung von Beziehungen der friedlichen Koexistenz konzentrierte, hatte Mao Zedong unter der Losung „der Ostwind besiegt den Westwind“ auf die „proletarische Weltrevolution“ gesetzt. Er berief sich auf die Einschätzung W. I. Lenins, dass der imperialistische Krieg der Vorabend der Revolution wäre, und erwartete, dass der Krieg die Revolution auslösen oder die Revolution den Krieg verhindern wird. Dieser „weltrevolutionäre“ Trend mit dem „Kampf gegen Imperialismus und Revisionismus“ erreichte in der „Kulturrevolution“ in dem von chinesischer Seite provozierten militärischen Grenzkonflikt mit der Sowjetunion seinen Höhepunkt.

Auf ihrem XI. Parteitag 1969 nahm die KP Chinas die militärische Einmischung von Warschauer Vertragsstaaten unter Führung der Sowjetunion in die inneren Auseinandersetzung der CSSR 1967 und die nachfolgend verkündete Breschnew-Doktrin offiziell zum Anlass, um endgültig mit der KPdSU, der Sowjetunion und der sozialistischen Gemeinschaft zu brechen. Die sowjetische Führung wurde bezichtigt, Vertreter eines „Sozialimperialismus“ und „Machthaber“ zu sein, „die einen kapitalistischen Weg gehen“.

Das änderte allerdings nichts an der inzwischen prekären internationalen Lage der VR China. Bereits am Vorabend des Parteitages musste Mao eingestehen: „Wir sind jetzt isoliert. Niemand beachtet uns mehr.“ Die KP Chinas kam nicht mehr umhin, sich international neu zu orientieren.

3. Ende der 1960er Jahre bis in die 2. Hälfte der 1970er Jahre

Mao Zedong suchte den Ausweg in einer Annäherung an die USA auf antisowjetischer Grundlage. Er kam damit dem Interesse Washingtons entgegen, aus dem chinesisch-sowjetischen Konflikt Raum und Zeit für die Wahrnehmung der eigenen globalen Interessen zu gewinnen.

Beijing hatte angesichts des eskalierenden Krieges der USA gegen die Demokratische Republik Vietnam (DRV) bereits zu Beginn der „Kulturrevolution“ mit den USA eine Absprache getroffen: China werde so lange nicht an der Seite der DRV kämpfen, so lange die USA nicht die Grenze zu China verletzen. Anders als im Koreakrieg begünstigte Beijing damit nicht nur die USA-Aggression, sein Aufruf zum Kampf gegen Imperialismus und Krieg erwies sich zudem als bloße Propaganda.

Mit der Präsidentenwahl 1968 in den USA erweckte vor allem die Antrittsrede R. Nixon vom 20. Januar 1969 die Aufmerksamkeit Beijings. Nixon hatte darin erklärt, dass für die USA „eine Öffnung gegenüber China möglich“ wäre. Mao Zedong äußerte postwendend seine Bereitschaft, diese Möglichkeit wahrzunehmen, indem erstmals nach 1949 die Antrittsrede eines USA-Präsidenten in der Tagespresse im Wortlaut veröffentlichen ließ. Die Provozierung des militärischen Zwischenfalls an der Grenze zur Sowjetunion am Ussuri am 2. März 1969 sollte wohl diese Bereitschaft, ein Zusammengehen mit den USA zu sondieren, unterstreichen. Gleichzeitig ließ sich Mao durch vier chinesische Marschälle bestätigen, dass die Sowjetunion nun der Hauptfeind Chinas wäre und die Hauptbedrohung für China darstelle. Mit der Liquidierung der Lin-Biao-Gruppe im September 1971, die gegen die Annäherung Chinas an die USA aufgetreten war, hatte Mao im Innern die Voraussetzungen für ein „Quasi-Bündnis“ (Kissinger) mit den USA geschaffen. Abgeschlossen wurde dieses Bündnis mit der Unterzeichnung des „Shanghaier Kommuniqués“ am 27. Februar 1972 durch Zhou Enlai und R. Nixon.[5]

Das eigentliche Anliegen beider Seiten war, gemeinsam den globalen Einfluss der Sowjetunion und damit der sozialistischen Gemeinschaft zu stoppen und zurückzudrängen. Juristisch nicht fixiert beruhte das Bündnis jedoch lediglich auf formellen gegenseitigen Versicherungen. An einem Bündnis im engeren Sinne war Mao Zedong nicht interessiert. Für ihn war es langfristig der Weg, China aus der internationalen Isolierung herauszuführen und in dem Dreiecksverhältnis mit den USA und der Sowjetunion als unabhängige und souveräne dritte Macht mit eigenem internationalem Einfluss aufzubauen. Deshalb wurde auf chinesischem Vorschlag auch vereinbart, dass dieses Abkommen nur so lange Gültigkeit haben soll, so lange die Interessen beider Seiten an der Vereinbarung übereinstimmen. Auf Vorschlag Maos hatten sich beide Seiten darauf geeinigt, für die Dauer dieses Abkommen zwischen beiden Seiten einen ideologischen Waffenstillstand abzuschließen.

In der Taiwanfrage erreichte China in den Verhandlungen mit den USA einen ersten Teilerfolg. Die USA anerkannten Taiwan als Teil Chinas, äußerten ihr Interesse an einer friedlichen Lösung des Taiwanproblems und sagten zu, im Maße des Abbaus der Spannungen in der Region die amerikanischen Truppen und militärischen Einrichtungen aus Taiwan abzuziehen.

Mit der Annäherung Chinas an die USA kehrte China wieder in die internationale Politik zurück. Die damit verbundene Absicht jedoch, die Konfrontation der USA mit der Sowjetunion anzuheizen und davon zu profitieren, scheiterte. Washington gewann neuen Spielraum für seine globale Politik und konnte seine Position für die Friedensverhandlungen mit der DR Vietnam wesentlich aufbessern.

Die anschließend von Mao Zedong entwickelte Drei-Welten-Theorie war als Grundlage und Ausgangspunkt für die Geostrategie in dem neuen Abschnitt chinesischer Außenpolitik gedacht. Mao legte sie erstmals im Gespräch mit dem Präsidenten Sambias, Kenneth Kaunda, im Februar 1974 dar. Der Welt bekannt wurde sie durch die Rede Deng Xiaopings auf der Vollversammlung der UNO am 10. April 1974.

China grenzte sich mit dieser Theorie ideologisch und strategisch endgültig von der Sowjetunion und der sozialistischen Gemeinschaft ab und stellte sich in den internationalen Auseinandersetzungen als eine unabhängige und selbständige nationale Macht auf. Der Dritten Welt wurde die Rolle der Hauptkraft im Kampf gegen „Kolonialismus, Imperialismus und Hegemonismus“ und des Schöpfers einer neuen politischen und ökonomischen Weltordnung zugeschrieben. Die Prinzipien, nach denen diese neue Weltordnung funktionieren sollte, wurden in der Rede Dengs erstmals benannt. Sie enthielten allgemeine gerechtfertigte Forderungen der Entwicklungsländer an die „entwickelten Länder“, ihnen die Möglichkeit einzuräumen, ihren historischen Rückstand aufholen und sich als gleichberechtigte und selbständige Partner etablieren zu können. Nationale Kontrolle und Schutz über die Ressourcen wurden in Maos Drei-Welten-Theorie nicht nur als wesentliche Instrumente der Entwicklungsländer für die Konsolidierung ihrer politischen Unabhängigkeit und die Entwicklung ihrer nationalen Wirtschaft betrachtet. Sie sollten auch im Kampf gegen die Vorbereitung und Durchführung von Kriegen durch die Supermächte mit Hauptstoß gegen die Sowjetunion eingesetzt werden.

Obwohl zumindest in der Rede Deng Xiaopings dieser Theorie noch ein Rest „weltrevolutionärer“ Vorstellung beigemischt blieb, so hatte sich Mao Zedong mit ihr doch grundsätzlich vom revolutionären Weltprozess und seinen tragenden Kräften verabschiedet. Die reale Geschichte war im erheblichen Maße umgedeutet worden. Sie erschien nun als eine vom sozialen Fortschritt losgelöste Auseinandersetzung um die Neuverteilung von Macht und die Verfügung über die Ressourcen der Welt. In der chinesischen Politik war offener pragmatischer Nationalismus angesagt.

Rückblick auf die Geostrategie in der Ära Mao Zedongs

Der außenpolitische Kurs der VR China in der Ära Mao Zedongs wirft viele Fragen auf. Ohne diese Geschichte allseitig und unvoreingenommen bewältigt zu haben, werden sich die heutigen Beziehungen mit der KP Chinas kaum unbelastet entwickeln können. Geschichte lässt sich auf Dauer nicht verdrängen.

Wie schätzt das heutige China die Außenpolitik der Volksrepublik in den ersten 27 Jahren ihres Bestehens ein?

Die Position der KP Chinas ist eindeutig: Die KP Chinas hätte unter Führung Mao Zedongs eine unabhängige und selbständige Außenpolitik neuen Typs geschaffen. Angesichts der feindlichen Isolierung und Umzingelung durch den Imperialismus und im Kalten Krieg des Kampfes zwischen den USA und der Sowjetunion um die Weltherrschaft hätte sie wichtige Gedanken für die internationale Strategie entwickelt wie „sich einer Seite zuneigen“, „eine Front (mit den USA gegen die SU – H. P.) bilden“ und die Drei-Welten-Theorie. Sie hätte damit erfolgreich Räume für die Außenpolitik des sozialistischen China geschaffen. So wären die Grundlagen für die Außenpolitik des heutigen Chinas gelegt worden.

Die offizielle Geschichtsschreibung hält sich weitgehend an die historischen Fakten. Sie betont, dass sich durch die von Mao geschaffene Außenpolitik die internationale Stellung des Landes deutlich erhöht hätte und ein wichtiger Beitrag für den Weltfrieden und die Sache des Fortschritts geleistet worden wäre. In der Einschätzung der damaligen internationalen Entwicklung folgt sie im Grunde unverändert den damaligen Positionen Mao Zedongs. Die Sowjetunion wird seit Mitte der 1950er Jahre als eine mit den USA vergleichbare Supermacht charakterisiert. Sie hätte wie die USA um die Weltherrschaft gekämpft und wäre wie die USA bestrebt gewesen, die Länder in ihrem Einflussbereich sich unterzuordnen und unter Kontrolle zu halten. Die heutige offizielle Geschichtsschreibung hält auch den Kampf der KP Chinas in den 1960er Jahren gegen den internationalen „Revisionismus“, d h. im Wesentlichen gegen die damalige Theorie und Politik der KPdSU, für angemessen und richtig. Kritisiert wird lediglich, dass diese Auseinandersetzung mit der Kritik des „Revisionismus“ in China verbunden wurde. Deng Xiaoping hingegen kritisiert, dass es falsch gewesen wäre, eigene Vorstellungen und Formeln als Kriterien für die Einschätzung anderer Parteien zu nutzen. Ob der Kurs und die Linie einer Partei für die Entwicklung in ihrem Land richtig oder falsch seien, könne nur die betreffende Partei selbst beurteilen. Die KP Chinas sei dagegen, von anderen Befehle zu erhalten, und sie würde auch anderen Parteien keine Befehle erteilen. Die Richtigkeit des gesamten außenpolitischen Kurses Mao Zedongs steht für ihn jedoch außer Frage.

Die Aussagen, die sich in chinesischen wissenschaftlichen Publikationen zur Außenpolitik finden, schließen hier bis auf wenige Ausnahmen im Wesentlichen an. Sie sind jedoch unverblümter als in offiziellen Darstellungen. Drei Beispiele reichen, um diesen Unterschied aufzuzeigen.

In einer ersten Veröffentlichung wird von einer „revolutionären“ Außenpolitik der Volksrepublik in der Ära Mao Zedongs geschrieben. Das Hauptproblem in dieser Politik wäre die Unterscheidung zwischen Freund und Feind gewesen. Chinas Hauptfeinde waren danach die Supermächte Sowjetunion und USA, seine Freunde die dritte Welt. Maos Stimme hätte in der Welt Gewicht gehabt. China hielt es damals für besser, den 3. Weltkrieg lieber früher als später, lieber im großen als im kleinen Maßstab zu führen.[6]

Eine zweite Veröffentlichung enthält eine völlig entgegengesetzte Einschätzung. Mao Zedong wird vorgeworfen, mit seinem außenpolitischen Konzept China geschadet zu haben. Die chinesische Führung unter ihm hätte sich niemals von den wirklichen nationalen Interessen leiten lassen. Ihre damaligen internationalen Strategien wären von politischen und militärischen Interessen dominiert und oft von ideologischen Prinzipien wie dem proletarischen Internationalismus eingerahmt gewesen. In seinem strategischen Denken wäre Mao der Leninschen Tradition gefolgt, die Welt in politische Lager einzuteilen: Erzfeinde, zweitrangige Feinde, potentielle Verbündete, revolutionäre Kräfte. Seine Außenpolitik hätte vermutlich eher die Interessen des ‚internationalen Proletariats’ als Chinas eigene vertreten. Das hätte China ökonomisch und gesellschaftlich vom größten Teil der Welt isoliert.[7]

Ausführlicher wird die Retrospektive in einer dritten wissenschaftlichen Veröffentlichung behandelt. Die Darstellung vermittelt den Eindruck, als ob sich die VR China in der Zeit des Kalten Krieges stets einer feindlichen Weltordnung gegenüber gesehen hätte. Der internationale Sozialismus und das damit anfänglich geschaffene neue System der internationalen Beziehungen werden nicht einmal erwähnt. Die Autoren beziehen sich – gleich zu welchen Zeiten – immer nur auf das Verhältnis Chinas zur kapitalistischen Weltordnung. Der damals für China „feindliche Charakter“ dieser Weltordnung wird vor allem an dem Fakt festgemacht, dass der VR China lange Zeit ihr legaler Sitz in der UNO vorenthalten wurde. Der Status Chinas im Kalten Krieg wird mit drei Aussagen umrissen: 1. China befand sich als eine revolutionäre Kraft grundsätzlich außerhalb des internationalen Systems. Vor den 1980er Jahren stand das Land für den Kampf gegen den Imperialismus, den Export der proletarischen Revolution und den Sturz des internationalen Systems. 2. China war in der Zeit des Kalten Krieges ein Land, das die Herrschaft der „Hegemonialstaaten“ herausforderte. Und 3. China besaß ein ausgeprägtes Kampfbewusstsein, vor allem nach 1962, als es auf den ‚Klassenkampf als Leitlinie’ orientiert hatte.[8]

Diese Art der Geschichtsbetrachtung ist unübersehbar in einen Widerspruch zu den objektiven Realitäten der globalen Entwicklung, insbesondere zu den tatsächlichen Gegebenheiten der internationalen Klassenauseinandersetzung geraten. Auf die Gegenwart bezogen, scheint mir wesentlich zu sein, dass sich in diesen Einschätzungen der jüngsten chinesischen Geschichte das heutige Weltbild der KP Chinas und ihr gegenwärtiges Herangehen an die großen Fragen unserer Zeit bereits abzeichnen.

(Teil II erscheint in Z 90, Juni 2012; Red.)

[1] Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas hrsg. vom Institut des ZK der KP China zur Geschichte der Partei, Band I, Teil 1 und 2 (1921-1949) und Band II, Teil 1 und 2 (1949-1978), Verlag Geschichte der KP Chinas, Beijing 2010, chines. (im Text als „Geschichte der KP Chinas“ zitiert).

[2] Nachrichtenagentur Xinhua She, 1. Juli 2011, chines.

[3] Nach Lin Yifu, Bürger der VR China und Chefökonom der Weltbank, verhungerten in China in Auswirkung der Krise, die durch die Politik des Großen Sprungs und der Volkskommune hervorgerufen worden war, 33 Millionen Menschen. Siehe: Justin Yifu Lin, On China’s Economy. Der chinesische Weg zur Wirtschaftsmacht, abcverlag GmbH, Heidelberg-Peking 2009, S.73.

[4] Siehe: Auswahl der Schriften Deng Xiaopings (1975-1982), Beijing 1983, S.226, chines.

[5] „Gemeinsames Kommuniqué der Volksrepublik China und der Vereinigten Staaten von Amerika“ („Shanghaier Kommuniqué“) (18.2.1972), in: Renmin Ribao v. 28.2.1972, chines.

[6] Xing Yue, Das Modell der außenpolitischen Beziehungen Chinas unter Führung der KP Chinas. In: Sechzig Jahre Volksrepublik China und das chinesische Modell, hersg. von Fang Wei und Ma Ya, Verlag Sanlian Chubanshe, Beijing 2010, S. 360. chines.

[7] Wang Jisi, China’s Search for a Grand Strategy. A Rising Great Power Finds Its Way. In: Foreign Affairs, March/April 2011, Vol 90, Number 2, p. 68.

[8] Qin Yaqing u.a., Das internationale System und Chinas Diplomatie, Verlag Shijie Chubanshe, Beijing 2009, S.84/85, chines.