Klassen und neue Klassendiskussion

Neue Klassendiskussion

Anmerkungen zu Klassentheorie, Klassenverhältnissen und zur linken Strategiekrise

von André Leisewitz / John Lütten
Dezember 2018

Klassentheorie und Klassenanalyse finden gegenwärtig auf der Linken wieder zunehmendes Interesse. Stichworte wie „Neue Klassenpolitik“ sind hierfür ein Indiz.[1] Die auch in den Feuilletons der überregionalen Presse seit 2016 geführten Auseinandersetzungen um Nachtweys „Abstiegsgesellschaft“ oder Eribons „Rückkehr nach Reims“ – beide Bücher Bestseller mit überraschend hohen Auflagen – ließen in den letzten Jahren auf eine gewisse Verschiebung in der öffentlichen Debatte schließen und zeigen, dass dieses Interesse auch über den engen Zirkel marxistischer Linker hinausreicht.[2]

Die Gründe für diesen „turn“ sehen wir in realen sozial- und klassenstrukturellen Veränderungen, die auf soziale Polarisierungen und die Krisenhaftigkeit des heutigen („entfesselten“) Kapitalismus verweisen und die mit den gängigen Konzepten poststrukturalistischer/postmoderner Gesellschaftstheorie hinsichtlich ihrer Ursachen und Dynamik nicht zu fassen sind. Sie vollziehen sich vor dem Hintergrund (oder ihm Rahmen) der großen Trends der Sozialstrukturveränderungen der letzten Jahrzehnte:

- Verlust der siebzigjährigen Dominanz des sekundären Sektors, d.h. Abbau der Beschäftigung im industriell-gewerblich-produktiven Sektor.

- Die seit den 1970er Jahren zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Kapitalismus[3] stark angestiegene Frauenerwerbsquote – „Feminisierung der Lohnarbeit“.

- Das stark gewachsene Gewicht der (zu etwa drei Vierteln lohnabhängigen) Intelligenz (Hoch- und Fachhochschulabsolventen).

- Die „Prekarisierung“, d.h. das massive Ansteigen von prekären Beschäftigungsverhältnissen, die heute an die 30 Prozent der Erwerbstätigen in de facto allen Beschäftigungssektoren betreffen.

- Der wachsende Anteil von Erwerbstätigen und Wohnbevölkerung mit sog. Migrationshintergrund.

Diese Trends zeigen, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik nach Ende der sog. „Rekonstruktionsperiode“ Mitte der 1970er Jahre sukzessive in eine radikale sozialstrukturelle Umstrukturierung eingetreten ist. In dieser Konstellation konnten für die öffentliche Diskussion aufbereitete wissenschaftliche Befunde und Interpretationsangebote, die gegen den akademischen wie publizistischen Mainstream[4] die Aspekte der sozialen Polarisierung, der Krisenhaftigkeit und – zumindest in Ansätzen – auch der sozialen Antagonismen betonen, an Einfluss gewinnen. Dies gilt vermutlich weniger für die akademische und mehr für die – oder besser: einen Teil der – öffentlich-politische(n) Sphäre.

I. „Geschichtliche Bewegung“ und Klassenanalyse

Die Entwicklung der Klassenverhältnisse im Kapitalismus stellt keineswegs einen linearen Prozess dar. Im historischen Rückblick – man vergleiche für Deutschland nur die durch die Jahre 1850, 1900, 1950 und 2000 (willkürlich) markierten Etappen – zeigt zwar eine fortschreitende Entfaltung des antagonistischen Grundverhältnisses von Lohnarbeit und Kapital mit Ausweitung der Lohnarbeit und Konzentration des Kapitals, wie im „Kommunistischen Manifest“ als Grundtendenz proklamiert, aber er zeigt zugleich völlig verschiedene Bedingungen, Formen und Entwicklungsphasen der sozialen, kulturellen und politischen Verfassung der Klassen, ihrer Arbeitsbedingungen, beruflichen und qualifikatorischen Gliederung, ihrer sozialen Struktur, inneren Differenzierungen und Spaltungslinien, Lebensweisen, ihrer Generationserfahrungen und ihres Bewusstseins, ihrer kulturellen und politischen Organisationen, ihrer Handlungsfähigkeit und -erfahrungen usw., also der Klassenbeziehungen bzw. der Klassenverhältnisse – auf der betrieblichen wie der gesamtgesellschaftlichen Ebene. In dieser Entwicklung lösen sich Phasen der Klassenbildung und der Erosion von Klassenstrukturen wie Klassenbeziehungen ab, die von vielfältigen sozialökonomischen, kulturellen und politischen Faktoren der Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland in den letzten 170 Jahren abhängig waren und sind. Für deren Verständnis hilft nur die konkret-historische Analyse.

Dabei sollte deutlich geworden sein, dass die Erforschung der je spezifischen Klassenverhältnisse nicht mit der Untersuchung der Klassen- und Sozialstruktur zu verwechseln ist, die eine wichtige Ebene der sozialen Wirklichkeit erfasst, aus der gesellschaftliche Interessen, Antagonismen und Grundkonflikte erwachsen, die aber über Kultur, Bewusstsein, Handlung, Organisationsverhalten, politische Orientierungen usw. kaum etwas aussagt, also über die Art und Weise, wie diese Interessen, Antagonismen und Grundkonflikte individuell und kollektiv erfahren, verarbeitet, interpretiert und ausgetragen werden – eine Erfahrung, die Marx und Engels im Zuge ihrer Forschungen selbst machen mussten, die sie immer wieder zur Revision kurzfristiger Revolutionserwartungen zwang und ihnen die Bedeutung der Vermittlungsebenen zwischen sozialökonomischen Grundverhältnissen und der politischen Handlungsebene der Klassenkonstitution deutlich machte.

Marx und Engels verfolgten ihre Analysen der Klassenverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft auf mehreren realen und Abstraktions-Ebenen – der der politisch-sozialen Bewegungen ebenso wie der der sozialökonomischen Grundverhältnisse (Produktionsverhältnisse), auf der betrieblichen wie gesamtgesellschaftlichen Ebene, auf der Ebene der kulturell-ideologischen Verhältnisse ebenso wie der der politischen, rechtlichen, institutionellen Vermittlungsstufen von „Basis“ und „Überbau“. Jeder Versuch, ihre Erfassung der Klassenverhältnisse und -beziehungen auf eine ökonomische Strukturanalyse des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital zu reduzieren, geht hieran und an ihrem Erkenntnisinteresse vorbei[5], wie es sich in der Entwicklung ihres (lebenslangen) Forschungsprogramms in den 1840er Jahren zeigt.

Die frühe Beschäftigung mit der sozialen Stellung und politischen Rolle des Proletariats (spätestens ab 1842) mündete einerseits in die konkret-soziologische Beobachtung von sozialer Lage, Arbeit, Lebensweise, Kultur, Habitus, Bewusstsein und Bewegung der Arbeiterklasse der industriellen Revolution (Engels‘ „Lage der arbeitenden Klasse in England“, 1845). Sie richtete sich andererseits auf die schrittweise Entschlüsselung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital und brachte die Erwartung hervor, dass sich mit dem Proletariat eine „Klasse mit radikalen Ketten“ herausbildet, deren Stellung in der Gesellschaft, deren Existenzbedingungen sie zu revolutionärem Handeln zwingt, weil „die Not des Proletariers eine akute, heftige Form annimmt, ihn zum Kampf um Leben und Tod treibt, ihn revolutionär macht …“.[6]

Dies ist keine abstrakt-geschichtsphilosophische Spekulation, sondern das – wie sich bald erweisen wird: noch unzureichende – Zusammendenken von konkret-historischer Beobachtung und gesellschaftstheoretischer Reflexion – Arbeitshypothese und Ausgangspunkt im weiteren Bestreben, „Wissenschaft aus der kritischen Erkenntnis der geschichtlichen Bewegung zu schöpfen, einer Bewegung, die selbst die materiellen Bedingungen der Emanzipation[7] erzeugt. Dieses Forschungsprogramm impliziert die Frage nach dem Verhältnis von objektiven Entwicklungsbedingungen der Klassenverhältnisse und Klassenkonstitution, von Klasse „an sich“ und „Klasse für sich“[8], führt zur Beschäftigung mit der Kritik der politischen Ökonomie, der Entwicklung der wichtigsten Kategorien zur Entschlüsselung des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital und zur Formulierung der Grundüberlegungen des historischen Materialismus, wie sie im „Kommunistischen Manifest“ (1848) als politischem Abschluss der „Frühschriften“ vorgestellt werden.

Besonders bei den dem „Manifest“ folgenden Analysen politischer Bewegungen (von der 1848er Revolution bis zur Pariser Kommune) zeigte sich aber rasch, dass die Annahme einer unmittelbaren Übersetzung und Entsprechung von Klassenlage, Bewusstsein und Handeln, der direkte Schluss von den „Existenzbedingungen“ und der ökonomischen „Not“ auf das politische Handeln zu kurz greift und die vielfältigen, zwischen ihnen liegenden „intermediären“ (politischen, rechtlichen, ideologischen, kulturellen) Vermittlungsebenen mit ihren jeweiligen Besonderheiten und in ihrem Rückbezug auf die materiellen Grundverhältnisse der Gesellschaft berücksichtigt werden müssen, um dem Verständnis der „geschichtlichen Bewegung“ näher zu kommen.[9] Da die „geschichtliche Bewegung“ nicht stillsteht und „die jetzige Gesellschaft ein beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus“ ist, wie es im Vorwort zur 1. Auflage des ersten Bandes des „Kapital“ heißt, registrieren Marx und Engels aufmerksam die weitreichenden Veränderungen, die der aufsteigende Kapitalismus im 19. Jahrhundert (also der ersten der oben angeführten „Etappen“) durchmacht, als Faktoren, die die Konstituierung der Klassenverhältnisse und -beziehungen in Deutschland prägen – zunehmende Bedeutung des Staates (und Herausbildung des Nationalstaates in Deutschland), Wachstum des industriellen Proletariats, seiner Milieus, Kulturen, Einkommensverhältnisse[10] und Lebensweise, Entstehung der Arbeiterparteien, Herausbildung des Weltmarkts usw.

Das folgende Jahrhundert bringt weitreichende Veränderungen der kapitalistischen Basis (Monopolisierung, Imperialismus, staatsmonopolistischer Kapitalismus, Ausweitung der dem industriellen Sektor aufsitzenden Bereiche der Kapitalverwertung, Transnationalisierung und Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus usf.) und der „intermediären“ Überbaustrukturen (z.B. die Institutionen und Apparate der „Massenkultur“, des Faschismus wie des „repräsentativen“ Parteiensystems, des „Massenkonsums“ und des „Sozialstaats“ usw.), die zu jeweils spezifischen Vermittlungsformen von „Basis“ und „Überbau“ führen, die Gramsci seinerzeit als „historischen Block“ bezeichnete. Von den weltpolitischen Veränderungen der Existenzbedingungen des Kapitalismus und deren Rückwirkungen auf die inneren Strukturen ganz zu schweigen. Damit verbunden ist der Auf- und Abstieg großer Abteilungen der Lohnabhängigen, die Erosion von Traditionen, die Veränderung (nicht einfach „Verlust“) ihrer sozialen Milieus, ihrer Erfahrungen, Organisationen usw. usf. – alles Faktoren, ohne die die Prozesse der Klassenbildung, der Veränderung der Klassenbeziehungen usw. kaum zu verstehen sind.[11]

II. Soziale Ungleichheit und Klassenkampf von oben seit 1989/90

In der Bundesrepublik, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, haben sich mit dem Übergang zum Neoliberalismus seit der Krise Mitte der 1970er Jahre und der Angliederung der DDR 1989/1990 wesentliche Veränderungen in den sozialen und Klassenbeziehungen ergeben, die für eine „neue Klassenpolitik“ große Herausforderungen darstellen. Die Phase seit Mitte der 1970er Jahre war durch eine ökonomische Depression mit niedrigeren Wachstumsraten, den Übergang zum Neoliberalismus und ein Ansteigen der Massenarbeitslosigkeit gekennzeichnet. Dies bedeutete eine Stärkung der Position der Unternehmer, längerfristigen Rückgang der Lohnquote (deren Maximum 1974 erreicht war; sie stieg nach der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 konjunkturbedingt wieder leicht an), Expansion des prekären Sektors und eine massive Beschleunigung der Konkurrenz innerhalb der Lohnarbeiterschaft.[12]

Generell wird für die Bundesrepublik seit den 1990er Jahren eine zunehmende soziale Ungleichheit und Polarisierung konstatiert. Die entsprechenden Untersuchungen sind inzwischen Legion und in ihrer Grundtendenz unbestritten. Die empirischen Befunde beziehen sich in erster Linie auf die Einkommens- und Vermögensverteilung, also auf die Distributionssphäre.[13]

Eine Langfristübersicht zur Einkommensentwicklung 1984 bis 2015 auf Basis der Erhebungen des SOEP von Bosch und Kalina[14] soll hier näher betrachtet werden, weil sie im Detail die Dimensionen und die Ursachen dieser sozialen Polarisierung und der weitreichenden Terrainverschiebung in den Klassenbeziehungen besser verstehen lässt, die auch mit den aktuellen politischen Verwerfungen in Verbindung stehen.

Die Studie zeigt mit Blick auf Stundenlöhne (abhängig Beschäftigte) und auf Haushaltseinkommen vor und nach staatlicher Umverteilung (Gesamtbevölkerung im Erwerbsalter) folgende Trends:

(1) Während vor 1990 in Westdeutschland die Reallöhne insgesamt der Entwicklung des Wirtschaftswachstums (BIP pro Arbeitsstunde) folgten, fielen sie nach 1990 in zunehmendem Maße hinter die BIP-Entwicklung zurück. Diese „Entkopplung“ der Lohnentwicklung vom BIP ist verbunden mit einem starken Auseinanderdriften der verschiedenen Lohngruppen, also mit wachsender Lohn-ungleichheit. Die oberen Lohngruppen (Dezile, „Zehntelwerte“) steigen deutlich an, die mittleren Lohngruppen erfahren seit 2003 deutliche Reallohnverluste und die unteren Lohngruppen befinden sich schon seit 1998 im „freien Fall“. „In Ostdeutschland, das vor der Wiedervereinigung eine wesentlich egalitärere Einkommensverteilung hatte, stieg die Einkommensungleichheit nach der Wiedervereinigung von einem sehr niedrigen Niveau rasch an“. Insgesamt stieg nach der Angliederung der DDR im Osten fast sofort und im Westen mit einer gewissen Zeitverzögerung ab 1997 die Ungleichheit zwischen den verschiedenen Lohngruppen rasch und stark an, also lange vor den 2004 in Kraft getretenen Hartz-Gesetzen, die dann ihre eigene polarisierende Wirkung entfalteten.

(2) Bei den Haushaltseinkommen[15] wird für die Jahre 1984 bis 1990 festgestellt, dass die in Westdeutschland bestehende Ungleichheit dieser Einkommen stabil blieb bzw. leicht zurückging. Ab 1990 (Gesamtdeutschland) nimmt die Ungleichheit der Einkommen vor staatlicher Umverteilung (sog. „Markteinkommen“) bis 2005 stark zu; bei den Einkommen nach staatlicher Umverteilung (einschl. Sozialstaats-Transfers) setzt diese Zunahme der Ungleichheit mit Verzögerung ab Ende der 1990er Jahre ein und hält auch (Gini-Koeffizient) nach 2005 an. Der genannte Trend gilt für die Einkommen insgesamt. Betrachtet man sie nach Dezilen, so zeigt sich auch hier ein rasches Auseinanderdriften der oberen, mittleren und unteren Gruppen. Während das Haushaltseinkommen der oberen Gruppen mit der BIP-Entwicklung Schritt hält, brechen die Einkommen der unteren Gruppen (vor staatlicher Umverteilung) „dramatisch ein“. Auch die mittleren Einkommensgruppen werden von der BIP-Entwicklung abgehängt.

(3) Bei der Erklärung der zunehmenden Ungleichheit der Stundenlöhne verweisen Bosch/Kalina auf einen entscheidenden Grundprozess: den dramatischen Rückgang der Tarifbindung der Unternehmen nach 1990. Die Tarifbindung lag vor 1990 in Westdeutschland bei 85 Prozent der Beschäftigten und ging von 1990 bis 2016 sukzessive auf 59 Prozent in Westdeutschland und 49 Prozent in Ostdeutschland zurück. Mit abnehmender Tarifbindung stieg der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten. Der Grad der (Flächen-)Tarifbindung ist Ausdruck des Kräfteverhältnisses von Lohnarbeit und Kapital, „institutionalisierter Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit“. Mit der Angliederung der DDR und ihrer Deindustrialisierung, d.h. der „Abwicklung“ der Großbetriebe durch die Treuhand, mit der hochschießenden Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland und fehlenden oder schwachen Gewerkschaften veränderte sich dieses Kräfteverhältnis in ganz Deutschland radikal.

Bosch/Kalina nennen für die Veränderung dieses Kräfteverhältnisses im Einzelnen folgende Faktoren:

- Die „Veränderung der Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt“ ermöglichte es den neuen Eigentümern der ehemals volkseigenen Betriebe und den neuen „Start-up“-Kapitalisten in vielen Bereichen, Tarifbindung zu umgehen und Niedriglöhne durchzusetzen. Diese Erfahrung wurde „zur Blaupause für ganz Deutschland“, in Westdeutschland vor allem für die Branchen und Unternehmenssektoren mit schwachen Gewerkschaften (Dienstleistungen, kleine und mittlere Unternehmen).

- Die wachsenden Lohnunterschiede nutzten die Unternehmer für kostensparende Auslagerung von Tätigkeiten an Zulieferer mit niedrigerem Lohnniveau, was zugleich die Stammbelegschaften unter Druck setzte. In der Automobilbranche stieg der Wertschöpfungsanteil der Zulieferer von 56 Prozent (1985) auf 82 Prozent (2015).

- Durch EU-Richtlinien wurden bisher öffentlich erbrachte Dienstleistungen (Bahn, Nahverkehr, Post, Telekommunikation, Entsorgung usw.) der Konkurrenz privater Unternehmen geöffnet. Die Osterweiterung der EU ermöglichte es zudem, ausländische Beschäftigte zu den (niedrigeren) Tarifbedingungen ihres Heimatlandes anzustellen.

- Den geschwächten Gewerkschaften konnten 2003 sog. „Öffnungsklauseln“ zur Unterschreitung von Tarifstandards für Betriebe in ökonomischen Schwierigkeiten aufgezwungen werden. Dazu kamen schließlich die 2003 beschlossenen Hartz-Gesetze im Rahmen der Agenda 2010, die ihre eigene Wirkung entfalteten.

Für die wachsende Ungleichheit bei den Haushaltseinkommen identifizieren die Autoren neben der zunehmend ungleichen Entwicklung der Lohngruppen ein ganzes Bündel an staatlichen verteilungs- und sozialpolitischen Maßnahmen, die in der Summe (und trotz verschiedener sozialpolitischer „Gegenmaßnahmen“ im Einzelnen[16]) die oberen Haushaltseinkommensgruppen systematisch begünstigt und die unteren Gruppen benachteiligt haben:

- Steuerpolitische Entlastung der oberen Einkommensgruppen (u.a. Absenkung der Körperschafts- und Einkommensteuer, Einführung der Abgeltungssteuer für Kapitalerträge, Aussetzen der Vermögenssteuer) und relativ stärkere Belastung der unteren Einkommensgruppen z.B. durch Anhebung der indirekten Steuern, insbesondere der Mehrwertsteuer.

- Einschränkungen von sozialstaatlichen und Sozialversicherungstransfers: Hartz-Gesetze; Deregulierung von Leiharbeit und Minijobs mit der Folge des Absinkens eines wachsenden Anteils von Arbeitslosen in die Grundsicherung; Absenkung des Rentenniveaus bei wachsender Ungleichheit der Rentenentwicklung.

Insgesamt gelang es dem Kapital, so die Bilanz der letzten dreißig Jahre, sowohl auf der Ebene der Lohnarbeit-Kapital-Beziehung (Lohnpolitik, Arbeitszeitpolitik usw.) wie auf der Ebene der staatlichen Steuer- und Sozialpolitik eine Dynamik zu seinen Gunsten durchzusetzen. Die Analyse von Bosch/Kalina zeigt, dass und wie dies mit den nach 1990 zugunsten des Kapitals veränderten Eigentumsverhältnissen, den damit veränderten Machtverhältnissen auf dem Arbeitsmarkt und damit auch in den gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnissen zusammenhängt. Sie schreiben: „In der alten Bundesrepublik war die Einkommensungleichheit im internationalen Vergleich sowohl in der Primär- als auch in der Sekundärverteilung gering.“ Entscheidende Faktoren waren hohe Tarifbindung und staatliche Transferleistungen („Sozialstaat“), Faktoren, die eng mit dem Systemgegensatz („attraktives Gegenmodell zum ostdeutschen System“) zusammenhingen und eine Art „Klassenkompromiss“, ein festgeschriebenes Kräfteverhältnis von Lohnarbeit und Kapital – repräsentiert durch Unternehmerverbände einerseits, Gewerkschaften andererseits, politisch abgesichert über die großen politischen Parteien – darstellten. 1989/90 „zerbrach“, so Bosch/Kalina, „… dieser politische Konsensus, dessen Grundlage die Systemkonkurrenz im kalten Krieg war“ –, hier hätte man auch schreiben können, dass er zerbrochen wurde.

Es geht in dieser langjährigen Auseinandersetzung um die Durchsetzung der Interessen des privaten Kapitals gegen die Interessen der Lohnabhängigen, also um elementaren Klassenkampf. Das Terrain dieser Auseinandersetzung ist der Ort, wo sich Lohnarbeit und Kapital unmittelbar gegenüberstehen – die Arbeitswelt in ihrer heutigen ausdifferenzierten Struktur, in der in der materiellen Produktion ebenso wie im Bereich der Dienstleistungen lebendige Arbeitskraft als Quelle von Profit angewandt und ausgebeutet wird. Die für die allseits konstatierte zunehmende soziale Ungleichheit und Polarisierung verantwortlichen Veränderungen im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis haben ihre Wurzeln und Basis in dieser Arbeitswelt, was auch für die Gegenwart die zentrale Bedeutung der Auseinandersetzung in dieser Sphäre unterstreicht. Damit korrespondiert, dass dies auch der gesellschaftliche Ort ist, an dem tagtäglich Konflikte entstehen und geführt werden, in denen der Interessenantagonismus von Lohnarbeit und Kapital zum Ausdruck kommt.

III. Ungleichheits- vs. Klassendiskurs

Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Hartmut Kaelble konstatiert in einer Studie, in der für ganz Europa nicht nur Einkommens- und Vermögensungleichheit, sondern auch Wohnverhältnisse, Gesundheitsversorgung und Bildungschancen berücksichtigt werden: „Seit den 1980er Jahren wurde Deutschland … eine der am meisten ungleichen Gesellschaften in Europa, in mehrfacher Hinsicht ungleicher als andere europäische Länder …. Kaum ein anderes europäisches Land besitzt so scharfe Vermögensunterschiede, so große Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen, so schlechte Bildungschancen für Migranten.“[17] Die wachsende soziale Ungleichheit wird Kaelble zufolge im Massenbewusstsein in den europäischen Ländern durchweg besonders seit der Krise 2008/2009 intensiv zur Kenntnis genommen, als „zu groß“ angesehen und von Teilen als Bedrohung erfahren. Dabei zeigt sich „ein gewichtiger Teil der europäischen Öffentlichkeit … von dem Umverteilungsstaat zunehmend enttäuscht. Und zwar, weil die Regierungen nicht verhindern konnten, dass seit den 1980er Jahren die soziale Ungleichheit der Einkommen und der Vermögen, des Wohnens und der Gesundheit wieder zunahm und vor allem viele Jugendliche aus der Perspektive der Arbeitslosigkeit die prägende Erfahrung sozialer Ungleichheit machen mussten.“[18] Soziale Ungleichheit wird weitgehend nicht als Klassenfrage, „sondern eher (als) Ungleichheit zwischen Arm und Reich, zwischen Frauen und Männern, zwischen ethnischen und religiösen Minderheiten und Mehrheiten, zwischen Zuwanderern und Indigenen“ wahrgenommen.[19] Kaelble bringt dies mit der Schwächung der „sozialen Milieus und Akteure“ in Verbindung, die Ungleichheit vor allem aus der Klassenperspektive thematisieren, also der linken Parteien und Gewerkschaften, wobei sich die sozialdemokratischen Parteien, soweit sie noch existieren, seit den 1990er Jahren weitgehend in „Agenturen eines besonders marktradikalen Neoliberalismus“ verwandelt haben.[20] Zugleich verweist er darauf, dass in der politischen Publizistik „die Sprache der Klassengesellschaft“ immer seltener genutzt und sich in den Sozialwissenschaften das Interesse an sozialer Ungleichheit „auf Disparitäten zwischen Einkommens- und Vermögensgruppen, zwischen Geschlechtern und zwischen Minderheiten und Mehrheiten“ verschoben habe.[21]

Das ist zweifellos eine richtige Beobachtung. Der Verlust dieser Perspektive im Massenbewusstsein, in den Organisationen der Lohnabhängigen (mit wenigen punktuellen Ausnahmen auch in den Gewerkschaften, wobei hier Praxis und Ideologie auseinanderfallen) wie in den Sozialwissenschaften bedeutet zugleich eine Perspektivenverengung im Blick auf die Ursachen und Verursacher wachsender sozialer Ungleichheit. Dies zeigt Kaelbles Befund wachsender Unzufriedenheit mit dem „umverteilenden Staat“. Wenn sich der Blick vom dynamischen Zentrum der Gesellschaftsentwicklung – dem Akkumulationsprozess und dem Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital – und den in diesem Antagonismus handelnden Subjekte (Lohnarbeit und Kapital, Klassen) abwendet, gerät automatisch der regulierende und umverteilende Staat, die Sphäre der Politik und der politischen Parteien ins Zentrum der Erwartungen und Enttäuschungen. Daher die Abstrafung der delegitimierten politischen Eliten, denen zumindest mit dem Stimmzettel gedroht werden kann. Dass sich diese Abstrafung nicht als Protest von links artikuliert, sondern nach rechts wendet, ist angesichts des von Kaelble konstatierten Perspektivenverlusts nicht besonders überraschend. Aber eine deutliche Herausforderung für die neue Klassendiskussion.

IV. Zur Klassendiskussion in Teilen der Linken

Die neue Klassendiskussion wird in erfreulich vielen Bereichen der Linken im politischen wie wissenschaftlichen Feld geführt. Zu den anzunehmenden Ursachen hatten wir uns eingangs geäußert. Zu ihnen gehört natürlich auch die Belebung der betrieblichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen, die die sozialen Konfliktfelder und Antagonismen wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein und ins Bewusstsein der Akteure selbst heben. Uns geht es hier nur um einige Anmerkungen zu der Debatte von aktivistischen und publizistischen Kreisen eines Teiles der politischen Linken (in und im Umfeld der Linkspartei), die die Frage nach „Klassen“ weniger theoretisch, sondern in erster Linie politisch adressieren. Dazu drängen neben Krisendynamiken und ökonomischen Polarisierungs- und Abstiegsprozessen der letzten Jahre insbesondere die Mobilisierungserfolge der modernen Rechten (auch) unter Arbeitern und Deklassierten, die ein offenkundiges linkes Versäumnis markieren. In zahlreichen Beiträgen wird daher die Notwendigkeit einer „neuen“, „verbindenden“ oder „inklusiven“ Klassenpolitik betont, um diese Leerstelle zu schließen.[22]

Dabei fällt auf, dass in der bisherigen Debatte, wie sie in den Periodika dieser Teile der Linken geführt wird, kaum an frühere Theoriebestände angeknüpft wird und zentrale Begrifflichkeiten theoretisch kaum gefüllt werden. Was genau etwa mit Begriffen wie „Klasse“, „Klassenverhältnis“ oder „Arbeiterklasse“ gemeint ist, bleibt zumeist vage, im Extremfall völlig konfus.[23] Über Form und Inhalt einer entsprechenden „Neuen Klassenpolitik“ herrscht daher ebenso Unklarheit wie über die Frage, was dann eigentlich „alte“ Klassenpolitik ist und was an ihr nicht mehr trägt.[24] Die bemerkenswert breite wie abstrakte Einigkeit über die Notwendigkeit einer „Neuen Klassenpolitik“ lässt eher auf eine inhaltliche Unverbindlichkeit der Debatte schließen. Sie muss unbeschadet dessen als begrüßenswerte Suchbewegung verstanden werden, um die Klassenfrage für die Linke neu zu erschließen.

Unschärfe trübt auch den Blick auf die aktuellen Orientierungsprobleme und die Strategiekrise linker Politik, die der Diskussion zugrunde liegen, und die mit der Verengung auf die vereinfachende Gegenüberstellung von Klassen- und Identitätspolitik, von soziokulturellen Milieus, von Migrations- und Einwanderungspolitik oder von parteipolitischen Flügelauseinandersetzungen allenfalls oberflächlich und bruchstückhaft erfasst sind. Im Kern geht es bei der neuen Klassendiskussion in weiten Teilen der Linken um mehr als nur die Frage, wie verschiedene Felder linker Politik angesichts einer veränderten gesellschaftlichen Situation aufeinander abgestimmt werden müssen und können. Es geht um die Orientierung einer Linken, deren politisch-konzeptuelle ‚Geschäftsgrundlage’ oftmals nur noch ein unbestimmtes Nebeneinander sozialer und emanzipativer Bewegungen, politischer Szenerien und Organisationen sowie ein beliebiges Aufaddieren gesellschaftlicher Widerspruchskonstellationen und Antidiskriminierungspolitiken ist, bei dem eine strategische Zielsetzung und auch der radikale Kern und systemtranszendierende Gehalt kaum oder nicht zu erkennen sind.

Fünfzig Jahre nach 1968 wird die neu angestoßene Debatte über Klassenpolitik im Rahmen einer Linken geführt, die in großen Teilen in der Tradition der „antiautoritären“ und libertären Strömungen der „Neuen Linken“ sowie der „Neuen sozialen Bewegungen“ und postmoderner Gesellschaftstheorien steht, und die sich in ihrer Programmatik, Themensetzung, strategischen Ausrichtung sowie ihren Organisationsformen von der sozialistisch geprägten „Alten Linken“ und dem positiven Bezug auf die Arbeiterbewegung abgesetzt hat.[25] Analog zur Pluralisierung von Lebensweisen in der fordistischen Prosperitätsphase des Kapitalismus hat sie sich stattdessen anderen brisanten Konfliktachsen – Geschlecht und Sexualität, Rassismus und „Ethnizität“, Ökologie, Bürgerrechten, Kultur oder individueller Autonomie – zugewandt und andere strategische Orientierungen und Organisationsformen entwickelt: Emanzipation, Anerkennung oder „Sichtbarkeit“ treten an die Stelle von Ausbeutungs- und Kapitalismuskritik. Dies korrespondiert mit dem oben beschriebenen Wechsel vom Klassen- zum Ungleichheitsdiskurs in der Auseinandersetzung um soziale Polarisierung und mit der poststrukturalistischen Akzentuierung von „Differenz“ gegenüber der Herausarbeitung gesellschaftlicher Widersprüche und Antagonismen in der sozialwissenschaftlichen Debatte.[26]

Die politisch-strategische Krise dieser Traditionslinie, die heute insbesondere die jungen, akademisch gebildeten und subkulturell-aktivistischen Milieus dominiert, rührt daher, dass sie gegenüber dem realexistierenden und neoliberal radikalisierten Kapitalismus nur noch bedingt oppositionsfähig ist. Denn erstens hat dieser Kapitalismus „Vielfalt“ und „Pluralität“ längst als Ressourcen von Innovation und „demokratisch“ organisierter Ausbeutung entdeckt und ist in der Lage, Forderungen nach Inklusion und Gleichstellung etwa durch „Diversity Management“ affirmativ zu wenden und zu vereinnahmen. Er stellt damit das subversive Potential zumindest jener (feministischen, antirassistischen usw.) Diskriminierungskritik in Frage, die klassenneutral vorgetragen wird und daher auch vereinnahmt werden kann. Daher die Verquickung von Neoliberalismus und linksliberaler Identitätspolitik, die Nancy Fraser als „progressiven Neoliberalismus“ bezeichnet hat.[27] Auf diese Integrationsleistung und den „neuen Geist des Kapitalismus“[28], der große Teile der nach 1968 formulierten Agenda inkorporieren und politisch entkernen konnte, hat die Linke bislang keine überzeugende Antwort formuliert. Zweitens fehlt ihr deshalb das Instrumentarium, jene Prozesse des Abstiegs, der Proletarisierung und sozialen Polarisierung zu begreifen und politisch zu beantworten, die für Gesellschaften insbesondere der nachfordistischen Kapitalismen der Gegenwart kennzeichnend sind.[29] Weiten Teilen der Linken fehlt jedoch das Vokabular, diese Prozesse zu deuten und kapitalismusanalytisch zu erden – und infolgedessen fehlen die politischen Konzepte, den gesellschaftlichen Zusammenhang von Klassenlage, Abwertungs- und Deprivationserfahrung und (Alltags-)Bewusstsein, der sich in Begrifflichkeiten wie Anerkennung, Diskriminierung oder Repräsentation nicht (mehr) adäquat fassen lässt, von links zu politisieren und entsprechend zu mobilisieren. Kurz: Wo sie sich vom Klassenbegriff verabschiedet hat, ist das analytische und politische Instrumentarium der Linken dem gegenwärtigen Kapitalismus nicht mehr angemessen. Strategische Ratlosigkeit ist die Konsequenz. Verschärft wird dieses Problem drittens dadurch, dass sie von einer modernisierten Rechten herausgefordert wird, die sich systematisch um das Besetzen der sozialen Frage bemüht, auf Einfluss im sogenannten Arbeitermilieu und inzwischen auch punktuell in den Organen der betrieblichen Interessenvertretung drängt und sich, obwohl im Kern marktradikal und sozialdarwinistisch, auch nicht davor scheut, etwa einen „Marx von rechts“ zu proklamieren. Die Linke droht also wo sie nicht energisch und offensiv das Terrain besetzt, mit der Deutungshoheit über die soziale Frage ihren politischen ‚Markenkern’ zu verlieren.

Die zentrale Frage der neuen Klassendiskussion ist daher nicht nur, wie die Linke wieder Arbeiter, „Abgehängte“ und Deklassierte erreichen kann – sondern womit sie sie erreichen und wofür sie Menschen gewinnen will. Das zu klären ist keine theoretische, sondern eine unmittelbar praktische Voraussetzung zur Klärung der Frage, wie zeitgemäße linke Klassenpolitik aussehen kann.

V. „Klasse“ als Strategiebegriff

Soll mit „Klassenpolitik“ also mehr gemeint sein als ein unkonkretes und zielloses Aufwerfen der „sozialen Frage“ (für das man den Klassenbegriff übrigens gar nicht bräuchte), muss er als Strategiebegriff neu gefüllt und das innere Band von Klassenbegriff und Strategiebildung neu geknüpft werden. Das heißt, sich der grundlegenden politisch-strategischen Koordinaten, die er impliziert, neu zu versichern und sie für die heutige Situation zu erschließen

(1) Werden Klassenverhältnisse als zentraler, weil gesellschaftsbestimmender, Strukturzusammenhang ausgemacht, dann sind Ausbeutung und Klassenherrschaft Fliehpunkte antagonistischer Politik. Sie zielt dann nicht auf Gleichstellung und Repräsentation innerhalb der Klassenverhältnisse, ohne diese zu thematisieren, sondern auf deren Veränderung. Das heißt keineswegs, dass Fragen der Emanzipation, Anerkennung oder sozialer „Sichtbarkeit“ deswegen sekundär oder „Nebenwidersprüche“ wären – wohl aber, dass sie sich nicht von den Klassenverhältnissen trennen lassen und nur in ihrer Verwobenheit mit diesem sozialen Strukturzusammenhang im Interesse der Abhängigen verstanden und angegangen werden können. Es geht also nicht darum, etwa feministische oder antirassistische Politiken gegenüber einer Vertretung von sozialen und politischen Klasseninteressen für nachrangig zu erklären. Aber ohne „klassenpolitische Erdung“ steht deren kritisches Potential in Frage, wie auch eine den Klasseninteressen der Lohnabhängigen verpflichtete Politik undenkbar ist, die sie nicht als zentrale Konfliktachsen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung aufgreift.

(2) Ausbeutung und Klassenherrschaft lassen sich gesellschaftlich situieren und haben ein politisches und gesellschaftlich-materielles Zentrum, das in der organisierten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel liegt. Dies markiert einen zentralen Unterschied zu postmodernen Theorien und Ansätzen linker Politik, die gesellschaftliche Herrschafts- und Machtverhältnisse in ein unbestimmtes Nebeneinander von diskriminierenden, menschenfeindlichen Ideologien, Denkformen und kulturellen Praktiken auflösen.

(3) Der politische Antagonist ist daher die jeweils herrschende Klasse und deren Machtapparat (im Kern der Staat), der ihre politische Herrschaft vermittelt, organisiert und durchsetzt. Dies sollte die Linke gerade unter den heutigen Bedingungen nicht vergessen, wo der Staat und die Staatsfunktionen selbst Gegenstand und Feld der Auseinandersetzung um die Durchsetzung von Lohnabhängigeninteressen sind.

(4) Darin liegt zugleich der Maßstab politischer Organisationsfragen: Politische Organisierung zielt auf die Entfaltung antagonistischer sozialer und politischer Macht, und unter dieser Maßgabe ist zu diskutieren, welche Organisationsformen dafür angemessen sind, welcher sozialer und politischer Bündnisse es bedarf, wie die verschiedenen Ebenen des politischen Kampfes verknüpft werden können.

(5) Politische Mobilisierung muss dann darauf zielen, im konkreten gesellschaftlichen Widerspruchspotential sowohl die klassenbezogenen Interessen der Lohnabhängigen als auch das Engagement gegen alle Diskriminierungs- und Unterdrückungsverhältnisse und -erfahrungen und die Zerstörung der ökologischen Existenzbedingungen zu verbinden, um im hier und heute soziale, kulturelle, politische, ökologische Verbesserungen durchzusetzen und Zukunftsforderungen zu vertreten. Klasseninteressen treten nicht abstrakt, sondern immer als konkrete Interessen auf, um deren Durchsetzung gerungen wird. Sie werden selten in „Reinform“ formuliert – sie müssen als durch verschiedene gesellschaftlichen Konfliktfelder und Widerspruchskonstellationen vermittelt herausgearbeitet werden. (Was sind heute z.B. die Klasseninteressen der Arbeiter im Braunkohletagebau oder in der Automobilindustrie angesichts der drohenden Klimakatastrophe? Wie können ihre unmittelbaren Reproduktionsinteressen mit ihrem und dem Interesse ihrer Kinder am Erhalt einer intakten Umwelt in Einklang gebracht werden?)

(6) Wenn die Linke sich darin einig ist, dass die Transformation von Klassenverhältnissen und Gesellschaftsformationen wesentlich an der Veränderung der dominierenden Eigentums- und Machtverhältnisse hängt, kann „Transformationspolitik“ wohl kaum ein Prozess sein, bei dem diverse soziale Bewegungen einfach schrittweise „an einem Strang ziehen“, bis plötzlich eine andere Gesellschaft da ist. Es müsste also darüber nachgedacht werden, wie der nicht zu umgehende Bruch mit der Eigentumsordnung gegen die Interessen der herrschenden Klasse angegangen und durchgesetzt werden kann.

Um diese Frage kann sich jedenfalls eine „neue Klassendiskussion“ nicht drücken, wenn sie denn – um zu den eingangs zitierten Marxschen „Frühschriften“ und seinem Politik- wie Forschungsprogramm zurückzukehren – dem unabgegoltenen „kategorischen Imperativ“ von 1844 folgen will, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.

[1] Vgl. zuletzt: Bernd Riexinger, Neue Klassenpolitik, Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen, Hamburg 2018; Sebastian Friedrich (Hrg.), Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus, Berlin 2018.

[2] Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016 (7. A. 2017); Didier Eribon, Rückkehr nach Reims [Paris 2009], Berlin 2016 (14. A. 2017).

[3] Wenn wir von der kurzen Phase der Frühindustrialisierung mit einem hohen Anteil von Frauen- und Kinderarbeit absehen. Vgl. André Leisewitz, Feminisierung der Lohnarbeit, in: Z 110 (Juni 2017), S. 45 ff.

[4] Eine Untersuchung der Piketty-Rezeption in sog. „Leitmedien“ von vier europäischen Ländern ergibt für die BRD im Gegensatz z.B. zur britischen Presse eine „fast vollständig fehlende Verknüpfung zwischen Ungleichheit und kapitalistisch-krisenhaften Entwicklungen“, was die AutorInnen mit den „ideologischen Positionen der Zeitungen“ und einem „länderspezifischen gesellschaftspolitischen Klima“ erklären. Für alle Länder müsse „das weitgehende Fehlen von Diskursen, welche die Interessengegensätze zwischen unterschiedlichen ökonomischen Gruppen oder Klassen debattieren, … geradezu als paradigmatische significant silence gelten.“ Andrea Grisold/Hendrik Theine, Zur Vermittlungsrolle von Massenmedien am Thema Ungleichheit. Die Piketty-Rezeption, in: Wirtschaft und Gesellschaft (Wien), H. 2/2018, S. 191-217.

[5] Vgl. z.B. Sven Ellmers, Die formanalytische Klassentheorie von Karl Marx. Ein Beitrag zur „neuen Marx-Lektüre“, Duisburg 2007; dass es hier um Scheingefechte geht, zeigt sich auch bei Jan Hoff, Antagonismen nach Marx, Berlin 2018 (Helle Panke, Philosophische Gespräche H. 51), S. 7ff.

[6] Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 200. Verallgemeinert heißt es 1845: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.“ Friedrich Engels/Karl Marx, Die Heilige Familie, in: MEW 2, S. 38. Zu den Problemen vgl. u.a. Werner Goldschmidt, Zum Zusammenhang von Lage und Rolle der Arbeiterklasse im Frühwerk von Karl Marx und Friedrich Engels, in: Dialektik H. 2/1991, S. 119-133; ders., ‚Über die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation‘. Zum wissenschaftlichen Status der Revolutionstheorie im Kapital zwischen ‚positiver Wissenschaft‘ und ‚Konstruktion a priori‘, in: Dialektik H. 3/1992, S. 105-114.

[7] Karl Marx, Über P.-J. Proudhon, Brief an J. B. v. Schweitzer v. 24. 1. 1865, in: MEW 16, S. 28.

[8] Karl Marx, Elend der Philosophie, 1847, in: MEW 4, S. 180/181.

[9] Stuart Hall hat gezeigt, wie Marx und Engels diese vereinfachte Annahme überwinden und die Vielfalt der Vermittlungsebenen, die „Spezifik des Politischen“ wahrnehmen. Vgl. ders., Das „Politische“ und das „Ökonomische“ in der Marxschen Klassentheorie (1977), in: ders., Ideologie, Kultur, Rassismus. Ausgewählte Schriften I, Hamburg 1989, S. 11-55, bes. S. 32-47; dazu: Frank Deppe, Marx, Klasse, Politik, unveröff. Manuskript 2018.

[10] Die Engels’sche „Not“ (wie die Marxschen „Ketten“, MEW 1, S. 390) war auch mit der Beobachtung des sinkenden Lebensstandards der Arbeiterklasse der industriellen Revolution verbunden; diese Tendenz, die über mehrere Jahrzehnte anhielt (sog. „Engels-Pause“), kehrte sich in England noch vor 1860 um. Engels registrierte die den Reformismus fördernde unterschiedliche Entwicklung der Einkommensverhältnisse innerhalb der Arbeiterklasse sehr genau, unterschied zwischen deren „Aristokratie“ und „großer Masse“, erwartete aber längerfristig keine Besserstellung. Sh. Friedrich Engels, England 1845 und 1885, in: MEW 21, S. 191-197.

[11] Vgl. hierzu Frank Deppe/Klaus Dörre, Klassenbildung und Massenkultur im 20. Jahrhundert, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 726-771.

[12] Sh. u.a. André Leisewitz, Klassenverhältnisse: Aktualisierung der Konkurrenz, in: Z 100 (Dezember 2014), S. 91-97.

[13] Vgl. z.B. die jährlich erscheinenden Verteilungsberichte des DGB, die entsprechende Daten zusammenfassen. Zuletzt: DGB-Verteilungsbericht 2018, Berlin, September 2018.

[14] Gerhard Bosch/Thorsten Kalina, Wachsende Ungleichheit in der Prosperität. Einkommensentwicklung 1984 bis 2015 in Deutschland. IAQ-Forschung 03/2017. Sozioökonomisches Panel: Erhebungen unter Regie des DIW seit 1984. Erfasst wurden 21 Tsd. Personen in 12 Tsd. Haushalten (vor 1991: nur westdeutsche Haushalte). Anders als bei der Mikrozensus-Erhebung mit rd. 830 Tsd. Befragten ist beim SOEP die Erhebungstiefe für die einzelnen Einkommensbestandteile groß, womit detaillierte Aussagen möglich werden. Die unterschiedlichen Erhebungsverfahren auf deutscher oder auch europäischer Ebene liefern natürlich im Einzelnen quantitativ voneinander abweichende Ergebnisse. Vgl. z.B. Judith Niehues (Institut der deutschen Wirtschaft, Köln), Einkommensentwicklung, Ungleichheit und Armut. Ergebnisse unterschiedlicher Datensätze. IW-Trends 3/2017. Ein beliebtes Thema der Unternehmerpresse, die damit die (generell in die gleiche Richtung weisenden) Resultate relativieren will.

[15] Einkünfte aus abhängiger und selbständiger Tätigkeit, aus Vermögen und privaten Transfers (Versicherungsleistungen einschl. privater Altersversorgung) der Erwerbsbevölkerung mit Haushaltsvorstand zwischen 25 und 65 Jahren, also ohne Rentner. Einkommensungleichheit gemessen nach Gini- und Theil-Index (Bosch/Kalina, a.a.O., S. 9ff.).

[16] Vermeidung von Entlassungen in der Finanzkrise (Kurzarbeit, Arbeitszeitkonten); „Ausbildungspakte“, Pflegeversicherung ab 1995; Ausbau von Kinderbetreuung, Ganztagsschulen, Elterngeld; gesetzlicher Mindestlohn ab 2015. Diese Maßnahmen liegen zumindest z.T. grundsätzlich auch im Interesse der Unternehmer – wenn sie sie nicht bezahlen müssen –, weil sie Maßnahmen zur Stabilisierung und Erweiterung des verfügbaren Arbeitskräftevolumens darstellen. Dies gilt besonders für familiäre Entlastungen bei Kinderbetreuung und Pflege, d.h. die weitere Freisetzung des weiblichen Erwerbspersonenpotentials.

[17] Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 2017, S. 177. Die Studie beruht u.a. auf der Auswertung der großen europaweiten Sozialumfragen.

[18] Ebd., S. 160f. Kaelble bringt diesen Bruch im Übrigen auch (wie Bosch/Kalina) mit dem Epochenwechsel 1989/90 in Zusammenhang, wenn er feststellt, dass „nach dem Ende des Kalten Krieges der Druck nachließ, die soziale Ungleichheit zwischen sozialen Klassen abzubauen.“ (Ebd., S. 162)

[19] Ebd., S. 151f.

[20] Vgl. Frank Deppe, Gewerkschaften in der großen Transformation, Köln 2012, S. 52ff.

[21] Kaelble, a.a.O., S. 151, 152.

[22] Exemplarisch: Zeitschrift Luxemburg 2017: https://www.zeitschrift-luxemburg.de/luxemburg-spezial-zu-neuer-klassenpolitik/; Sebastian Friedrich (Hrg.), Neue Klassenpolitik, A.a.O.; Bernd Riexinger, Neue Klassenpolitik, a.a.O.

[23] Marie Frank (Mit Haltung ums Ganze, in: Neues Deutschland, 16.05.2018) schlägt etwa vor, die Zugehörigkeit zum Proletariat „anhand der subjektiven Haltung zum Klassenkampf“ zu bestimmen.

[24] Generell bleibt das, was hier meist implizit als „alte“ Klassenpolitik abgetan wird, auffallend schwammig und unbestimmt. Da nicht ausgeführt wird, wer oder was genau gemeint ist, entsteht mitunter doch der Eindruck, die Abgrenzung ziele auf Pappkameraden. Das mag helfen, den eigenen Ansatz als besonders neu und innovativ zu verkaufen – das stigmatisierende Etikett „Alte Klassenpolitik“ verhindert jedoch einen Anschluss an frühere Debatten und Theoriebestände der marxistischen Linken, von dem auch die aktuelle Debatte profitieren würde.

[25] Andrei S. Markovits, Grün schlägt rot. Die deutsche Linke nach 1945, Hamburg 1997.

[26] Vgl. dazu u.a. Hans-Jürgen Bieling, Dynamiken sozialer Spaltung und Ausgrenzung – Gesellschaftstheorien und Zeitdiagnosen, Münster 2000; Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. Herausgegeben von Stephan Möbius und Andreas Reckwitz, Frankfurt am Main 2008.

[27] Nancy Fraser, Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 2/2017, S. 71–76.

[28] Luc Boltanski, Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.

[29] Nach Angaben des Statistischen Bundesamts waren im vergangenen Jahr 19 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung – rund 15,5 Mio. Menschen – von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht (EU-Durchschnitt: 22,5 Prozent). Der jüngste WSI-Verteilungsreport konstatiert erneut eine Zunahme sozioökonomischer Polarisierung. Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 421 vom 31.10.2018: Dorothee Spannagel, Dauerhafte Armut und verfestigter Reichtum, WSI-Verteilungsbericht 2018, WSI Report Nr. 43, Düsseldorf 2018. Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 421 vom 31.10.2018: Dorothee Spannagel, Dauerhafte Armut und verfestigter Reichtum, WSI-Verteilungsbericht 2018, WSI Report Nr. 43, Düsseldorf 2018.

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