Georg Lukács 1885 - 1971

Umwege und Paradoxien der Rezeption

Zum 50. Todestag von Georg Lukács

von Rüdiger Dannemann
Juni 2021

[1]

Lukács gehört zu den wichtigsten marxistischen Philosophen und den großen intellektuellen Zeugen des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte seines „Gelebten Denkens“ gehört zweifellos zu den in seiner Widersprüchlichkeit interessantesten Rezeptionsgeschichten der jüngeren Vergangenheit. Dennoch ist bislang noch keine umfassende Geschichte der Rezeption seines Werks geschrieben worden. Das ist kein Zufall. Ein solches Unterfangen stellt bereits vom Umfang und der Komplexität her ein überaus großformatiges Projekt dar. Zu erfassen sind unterschiedlichste Diskurse, diverse wissenschaftliche, politische und nationale Kulturen, die es nahelegen, ein solches Projekt als interdisziplinäre Teamarbeit anzugehen. Besondere Probleme entstehen dadurch, dass Lukácsʼ eigene Entwicklung komplex und durchaus widersprüchlich verlaufen ist, was aus Anhängern Gegner werden ließ, aus Freunden Fremde. Zugespitzt wurden solche Gegensätze noch durch Lukácsʼ politisches Engagement. Seine immer neu gestarteten Versuche, avancierte Theoriebildung und Praxis zu vereinen, haben nicht selten zu Paradoxien geführt: zu ungewollten Abstoßungen wie ebenso unintendierten Umarmungen.

Der vorliegende Beitrag stellt sich das bescheidene Ziel eines skizzenhaften Entwurfs. Dabei soll es nur um das marxistische Werk Lukácsʼ, primär um die Meilensteine der Lukács-Rezeption im „westlichen Marxismus“ und im Umfeld der Kritischen Theorie gehen. Es geht um jene Werke Lukácsʼ, die sich fünfzig Jahre nach dessen Tod als besonders wirkungsmächtig, weichenstellend und wegweisend erwiesen haben. Da die Rezeptionsgeschichte angesichts der Lukács-Renaissance unserer Tage noch keineswegs als abgeschlossen gelten kann, ist der vorgelegte Versuch einer Bestandsaufnahme eine Momentaufnahme, die darauf wartet, fortgeführt und in ihrer zeitgenössischen Relativität eingeordnet zu werden.

Die Rezeption in den 20er Jahren

Man muss sich die Ausgangssituation um 1920 noch einmal vor Augen führen: Der im Dezember 1918 überraschend zum Marxisten gewordene Mitdreißiger war dem akademisch-bildungsbürgerlichen Publikum in seiner Heimat und seinem bevorzugten „Gastland“ Deutschland[2] einigermaßen bekanntgeworden als Ästhetizist, der sich im vormarxistischen Frühwerk als jemand offenbart hatte, der Erlösung von den bereits früh diagnostizierten Problemen einer „Welt der Sündhaftigkeit“ bzw. von der Banalität bloßen Existierens durch die Kunst erhofft hatte. Mit seiner Ablehnung des Ersten Weltkriegs vom Gros der deutschen Intellektuellen sich wohltuend abhebend und durch die Oktoberrevolution eine politische Perspektive erblickend, vollzieht Lukács den wichtigsten Wendepunkt seines Lebens: Er wird Ende 1918 Kommunist und Mitglied der ungarischen Räteregierung (Lukács, Gelebtes Denken, 262).

Aber einer der besonderen Art: Kettler hat beschrieben, wie fremd das Verhalten des stellvertretenden Volkskommissars für Bildung in Budapest während der Räterepublik den „normalen“, weniger intellektuellen Revolutionären um Béla Kun vorgekommen ist (Kettler 1967). Bereits in dieser Zeit lässt sich keimhaft beobachten, dass sich eine Ambivalenz in der Rezeption von Lukács entwickeln wird. Einerseits sind da die (angehenden oder bereits arrivierten) Schriftsteller, Wissenschaftler, Philosophen, die in unterschiedlichen Zusammenhängen (etwa im Budapester Sonntagskreis) Lukácsʼ Denken kennen- und schätzen gelernt haben. Diesem radikal-idealistischen Zirkel stehen dem liberalen-bildungsbürgerlichen Milieu eher distanzierte Personen gegenüber, die keineswegs auf verschlungenen Pfaden über Lebensphilosophie, Neukantianismus, Ropschin, eine aus Dostojewski sehr eigenwillig abgeleitete Ethik der Güte (vgl. Dogà 2019) den Weg zu Marx gefunden haben, sondern auf einem profaneren, „proletarischeren“ Weg. Lukács hat Mühe, sich in diesem Umfeld Anerkennung zu verschaffen, was ihm aber überaus wichtig ist.

Ambivalenz prägt ganz analog die Rezeption von Lukácsʼ marxistischem Frühwerk: Während unabhängige Intellektuelle wie Bloch, Jahre später der junge Adorno oder Kracauer in Geschichte und Klassenbewußtsein (GuK) das philosophische Ereignis der 20er Jahre erkennen und sich davon – in unterschiedlichen Formen versteht sich – beeinflussen lassen, stößt die vielfältige theoretische Traditionen synthetisierende Essaysammlung von 1923 bei Parteiintellektuellen (Typus Rudas, Thalheimer) auf Unverständnis, ja Widerstand. Es entsteht das Label bzw. Stigma: „Lukács ist ein verkappter Idealist!“ Ein solcher „bloßer Marxismus der Worte“ gilt als besonders gefährlich, da der Pseudo-Materialist als eine Art trojanisches Pferd betrachtet wird. So kommt im Kontext der Intellektuellen der Kommunistischen Internationale die von Lukács gewünschte ergebnisoffene Debatte über Grundsatzfragen der marxschen Methode nicht zustande. Als er 1925/26 mit der erst postum bekannt gewordenen Schrift Chvostismus und Dialektik (vgl. Lukács 1996 und 1997; Steiner 1997) sein in GuK entwickeltes philosophisches Programm verteidigt, wird diese Schrift nicht bekannt gemacht, sondern als „unverständliche Schrift eines Greiners“ abgetan (vgl. L. Illés in: Lukács 1996, 6). Und dass Lenin Lukácsʼ parlamentarismuskritischen Aufsatz 1920 höchstpersönlich als hyperradikal abkanzelt, erleichtert ein Wirksamwerden von Lukácsʼ marxistischem Frühwerk im angesprochenen Rezeptionsfeld, das von Angst vor der Todsünde Fraktionsbildung geprägt ist, natürlich auch nicht.

Die grobe Abweisung von Lukácsʼ erstem philosophischen Versuch verleiht dem Text im Kontext der „undogmatischen“ linken Intelligenz einen Nimbus, der sich in den folgenden Jahrzehnten zum Legendenstatus auswachsen wird. Der Autor selbst gerät in eine schwierige Situation: Er möchte die Positionen von GuK verteidigen und weiterentwickeln und seine Theorieproduktion als ein die Revolution förderndes Projekt anerkannt sehen. Lukács versteht sich seit seiner Wendung zum Kommunismus als ein Intellektueller neuen Typs, der sich von den üblichen Verhaltensmustern eines Akademikers distanziert, ohne den damit verbundenen theoretischen Anspruch aufzugeben.

Sein 1923 formuliertes Plädoyer für eine Philosophie der Praxis bleibt beim rigorosen Ethiker nicht bloßes Lippenbekenntnis: Lukács ist sich nicht zu schade, konkrete, nicht selten illegale Parteiarbeit zu leisten (z.B. im Wiener Exil) oder ein konkretes politisches Programm auszuarbeiten (man denke an die Blum-Thesen[3]). Seinem Beispiel werden weder Bloch noch Brecht folgen, von Adorno ganz zu schweigen.

In der zweiten Hälfte der 20er Jahre ist Lukács daher nicht mehr bemüht, die Wirkung des in GuK entwickelten Theorieansatzes voranzutreiben oder gar eine Art Vordenker im Kontext einer Fraktion der unabhängigen, undogmatischen linken Intelligenz anzustreben. Dass ihm diese Rolle immer wieder angetragen bzw. zugeschrieben wurde, wurde ansatzweise bei der Ersten Marxistischen Arbeitswoche erkennbar, die 1923 in Thüringen stattfand und an der sich neben Lukács auch Karl Korsch beteiligte[4], wie auch in den Vorwürfen einer Fraktionsbildung innerhalb der KI. Der 2008 publizierte Briefwechsel Adornos mit Kracauer lässt erahnen, wie verständnislos beide Lukácsʼ Engagement in der kommunistischen Bewegung und seinem antibürgerlichen Verständnis der Intellektuellenrolle gegenüberstanden.

Die 30er Jahre und die verspätete Aufnahme der antifaschistischen Arbeiten

Der ambivalente Rezeptionsmodus prägt auch die Wirkung Lukácsʼ in den 30er Jahren. Einerseits wirkt GuK weiterhin untergründig inspirierend im Kontext der undogmatischen Linken, vor allem im Zusammenhang der entstehenden Kritischen Theorie, der später sogenannten Frankfurter Schule. Diese Wirkung geht bis in den außereuropäischen Raum, wie etwa die frühe Lukács-Rezeption in Japan zeigt, die ein Teilnehmer an der oben erwähnten Marxistischen Arbeitswoche (K. Fukumoto) maßgeblich initiiert hat.[5] Lukács wird rezipiert als philosophischer Avantgardist, dem es gelungen ist, den Marxismus zu einer der Gegenwart beikommenden Theorie weiterzuentwickeln und die Tore für eine aktuelle kritische Theorie zu öffnen, die die neuen Tendenzen des erstaunlich wandlungsfähigen Kapitalismus berücksichtigt.

Lukácsʼ Tätigkeit innerhalb der kommunistischen Bewegung der 30er Jahre provoziert aber ganz andere Resonanzen. In Moskau, Berlin (dort in der Illegalität unter dem Pseudonym Dr. Keller agitatorisch und ideologisch tätig[6]) und dann erneut im Moskauer Exil beginnt er mit einem Neuland erschließenden, Jahrzehnte lang weiterverfolgten Projekt: Der Ausarbeitung einer marxistischen Literaturkritik und Ästhetik. Im Streit mit Proletkult und Expressionismus entwickelt er seine Theorie des gestaltenden Realismus, zum Teil in Zusammenarbeit mit Lifschitz, der an der Herausgabe der Schriften von Marx und Engels zu Literatur und Kunst arbeitet. Diese Konzeptionen, die sich gegen eine vulgärsoziologische, kulturfeindliche Reduktion der (marxistischen) Literaturwissenschaft und eine Missachtung der großen realistischen Tradition der Vergangenheit (der Klassiker also) und Gegenwart wenden, werden innerhalb der offiziellen Kulturpolitik teils akzeptiert (etwa im Kontext des 1. Allunionskongresses der Sowjetschriftsteller 1934 und der Volksfrontpolitik), stoßen aber immer wieder auf Widerstände. Lukács wird vorgeworfen, er gehe zu kritisch mit den zeitgenössischen (vor allem den russischen) Werken des sozialistischen Realismus um, er bevorzuge bürgerliche Klassiker der Literatur und Philosophie (hier ist nicht zuletzt an Hegel zu denken). Der Intellektuelle Lukács ist auch hier kein simpler Parteisoldat, seinem Selbstverständnis nach nimmt er die Rolle eines „Partisanen“ (vgl. Lukács 1940: 400) ein.

Anders entwickelt sich die Wirkung im Lager derer, die sein marxistisches wie vormarxistisches Frühwerk z.T. emphatisch rezipiert hatten. Am deutlichsten wird dieser abrupte Wandel bei Ernst Bloch sichtbar, dem enttäuschten Jugendfreund. Im Rahmen der Expressionismusdebatte drängt es diesen zu kritischen Formulierungen gegen Lukács, die sich partiell als Vorwegnahmen von Adornos späterer Polemik in „Erpresste Versöhnung“ lesen. Lukács, der sich intensiv mit dem Phänomen der Dekadenz beschäftigt, wird nicht mehr als Avantgardist der Theorie betrachtet, ihm werden ein Rückschritt in Richtung Vulgärsoziologie oder ästhetischer Dogmatismus vorgeworfen. Blochs (zum Teil mit Hanns Eisler verfasste) Texte in der Expressionismusdebatte, aber auch die Debattenbeiträge von Ottwalt u.a. in der „Linkskurve“ sind tatsächlich ein Meilenstein der Lukács-Rezeption, freilich einer, der in mannigfachen Variationen das problematische Lukács-Bild der folgenden Jahrzehnte prägen wird. Wie auch immer man die Ablehnung der „Avantgardebewegungen“ der damaligen Zeit beurteilen mag, so hält die nicht selten vertretene Behauptung, Lukács habe in den ästhetischen Debatten der 30er Jahre nur die parteioffizielle Linie durchgesetzt, einer näheren Überprüfung nicht stand. Das haben die Arbeiten von Schmitt (1973) und die große Becher-Biographie von Dwars (1998) überzeugend gezeigt. Lukács versucht in seinem selten beachteten, in sehr persönlichem Ton geschriebenen Brief an Bloch wie in „Es geht um den Realismus“ ein anderes Verständnis von Avantgarde in den linksliterarischen Diskurs einzubringen (Lukács 1943, 278-295).

Parallel und auch innerlich verbunden mit den ästhetisch-literaturkritischen Arbeiten war Lukács seit den 30er Jahren engagiert im Kampf gegen den Faschismus, dem er für seine Arbeit Priorität einräumt. Die in der UdSSR entstandenen großen antifaschistischen Arbeiten blieben bei ihren Adressaten im Westen weithin unbekannt. Erst nach dem Krieg wurde durch die Zerstörung der Vernunft (ZdV, 1954), Lukácsʼ Versuch einer Erklärung, wie es zum faschistischen „System der Barbarei“ kommen konnte, auch in Westeuropa bekannt, wozu Übersetzungen in wichtige europäischen Sprachen beitrugen. Das Buch, das im Wesentlichen eine Überarbeitung und Komplettierung der Taschkenter Faschismus-Studie darstellt, erscheint nach der Zerschlagung des Faschismus und damit in einer anderen historischen Situation und lässt die für seine Entstehung originären Motive kaum noch erkennen. Durch Kongress- und Tagungsteilnahmen (etwa in Warschau, Paris und Genf), Mitgliedschaft im Weltfriedensrat u.ä. Aktivitäten präsent, wird Lukács in den Nachkriegsjahren zu einem international bekannten, wenn auch umstrittenen Intellektuellen, zu einem – wenn man so will – Vorzeigeintellektuellen des Ostens im Kampf gegen bürgerliche Dekadenz und die geistigen Urheber des Systems der immer noch virulenten Barbarei bzw. deren oft nur oberflächlich entnazifizierte Erben.

Besonders ausgeprägt ist sein Einfluss bis 1956 in der SBZ bzw. DDR. Er wird mit seinen literaturwissenschaftlichen und ideologiekritischen Arbeiten, in denen das humanistische Erbe gefeiert und der moderne Irrationalismus kritisiert werden, zum – wie das D. Schiller genannt hat – abwesenden Lehrer.[7] Gleichwohl ist Lukács auch in dieser Zeit nicht unumstritten. Sein (und Blochs) Eintreten für Hegel stoßen trotz der Unterstützung von Wolfgang Harich auf massive Kritik im Lager dogmatischer Parteiintellektueller. Diese Kritiker, denen Lukácsʼ Lebensweg immer schon verdächtig war und die in ihm noch einen verkappten Idealisten wittern, sehen sich 1956 bestätigt, als sich Lukács an der Nagy-Regierung während des Ungarn-Aufstands beteiligt (vgl. Georg Lukács und der Revisionismus 1960).

Die ZdV ruft im Westen Interesse wie heftigste Ablehnung hervor. Im Kontext der lange verweigerten Vergangenheitsbewältigung in den Jahren nach 1945 gewinnt Lukácsʼ Studie aktuelle Relevanz, wird aber – zumal von Adorno und Bloch – in der Regel ohne Berücksichtigung des historischen Hintergrundes als dogmatischer Tiefpunkt in Lukácsʼ „Gelebtem Denken“ angesehen, insofern er alle nachhegelianischen Formen nichtmarxistischen Denkens als Formen des Irrationalismus und Wegbereiter faschistischer Ideologie allzu pauschal polemisch abqualifiziere.

Berücksichtigt man die Entstehungsgeschichte der ZdV, wird der im Kontext sachlich gehaltvoller philosophischer Diskurse zweifellos extreme Kampfschriftcharakter des Werks verständlicher. Dessen Rigorismus ist von der Überzeugung getragen, dass im welthistorisch bedeutsamen Kampf gegen den Faschismus auch die bedeutendsten Gestalten des Denkens auf ihre Verantwortlichkeit hin zu befragen sind. Wir sind daran gewöhnt, mit Schaudern zur Kenntnis zu nehmen, dass selbst gebildete Menschen, die Goethe lasen und Beethoven hörten, nicht vor der Verführung zum Faschismus gefeit waren, ja unmittelbar beteiligt waren an Gräueltaten des NS-Regimes. Ein nachdenklich stimmender Befund. Aber ist es nicht auch sinnvoll, ja notwendig, mit Lukács zu fragen: Welchen erkennbaren Beitrag haben Schopenhauer und Nietzsche, Spengler und Heidegger (um nur die wichtigsten der von Lukács an den Pranger gestellten Denker zu nennen) zur Immunisierung gegen faschistische Einstellungen geleistet? Ist die Nietzsche-Rezeption durch die Nationalsozialisten tatsächlich einfach ein Betrugsmanöver gewesen? Und war Heideggers Parteinahme für Hitler in den 30er Jahren bloß eine esoterische Verirrung, die nichts mit der Essenz seines Denkens zu tun hat?

Bei der aktuellen Diskussion um die neue Rechte in Europa und speziell in Deutschland, die die klassische Rassetheorie längst durch eine wissenschaftlich ebenso fragwürdige Theorie des Ethnopluralismus ersetzt hat, spielt Lukácsʼ Faschismusanalyse bislang keine bedeutende Rolle, obwohl auch für heutige Rechtspopulisten und Querdenker gilt: Sie „halten es nicht mit Vernunft und Wissenschaft und protzen dafür mit Kenntnissen, die sich schwer kontrollieren lassen. Sie haben sich eingenistet jenseits der Vernunft.“[8] Nicht zufällig ist eine Gelegenheitsarbeit Adornos, die in bekannter Manier Sozialkritik mit sozialpsychologischen Überlegungen verbindet, vor einiger Zeit zum Bestseller in Sachen Rechtsradikalismus geworden (Adorno 2019). Lukácsʼ Überlegungen, stark geprägt vom Vertrauen in die Bedeutung des Marxismus als global relevanter Theorieströmung, des Klassenkonflikts und des sozialistischen Alternativmodells zum Kapitalismus, scheinen demgegenüber ein Residuum zu sein, auch wenn neuerdings Marx wieder gewürdigt wird oder gar von unserer „Drei-Klassen-Gesellschaft“ die Rede ist (Reckwitz, 2019: 63-134). Zudem ist vielen verdächtig, dass sein Irrationalismusbegriff noch wesentlich durch einen starken Vernunftbegriff geprägt ist, der sich aus den Quellen der klassischen deutschen Systemphilosophie und Marxʼ Philosophie der Praxis sowie Lenins Widerspiegelungstheorie speist. Überlegenswert scheinen trotz der erkennbaren historischen Distanz und polemisch-rigiden Engführungen (vgl. Holz 2018: 248) aber doch zwei Aspekte, die für die gegenwärtigen Versuche, mit dem so genannten Rechtspopulismus fertig zu werden, nützlich sein könnten:

Lukács wendet sich zentral der Frage zu, wie die „primitive“ faschistisch-nationalsozialistische Ideologie hegemonial werden konnte, indem auch die akademisch-intellektuelle Elite, die „prozentual den höchsten Anteil der Mitgliedschaft“ der NSDAP gestellt hat (Neiman: 2020[9]), für entsprechende oder ähnliche Denkweisen anfällig wurde. Er weigert sich, das Faktum, dass nicht nur „Denker“ wie Alfred Rosenberg, Alfred Baeumler und Ernst Krieck, sondern auch Intellektuelle wie Heidegger oder Carl Schmitt, Erich Rothacker, Ernst Jünger, Gehlen, Bollnow die NS-Ideologie und Hitlers „nationale Revolution“, oft zumal in der entscheidenden Phase der Machtergreifung, aktiv unterstützten, als kurzfristige zeitgeistige Verirrung abzutun. Lothar Peter, der die ZdV bei aller Kritik „einen großen ideologiekritischen Wurf“ nennt (Peter 2016: 42), stellt heraus, dass Lukács einer der ersten war, „die in der Philosophie Heideggers Axiome herausarbeiteten, die für die ideologischen Prämissen des Faschismus anschlussfähig waren“ (ebd.). Nicht wenige Befunde Lukácsʼ seien Jahrzehnte später „wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten und Akzenten“ von Adorno, Habermas oder Bourdieu „bestätigt worden“ (ebd., 43). Lukács setzt gegen eine fragwürdige Vergessenskultur oder Mystifikationen des faschistischen Ungeistes als „Einbruch des Dämonischen“ (ebd.) seine These, dass es keine unschuldige Weltanschauung bzw. Philosophie gibt.

Die Aufnahme der Stalinismuskritik Lukácsʼ

Das Jahr 1956 stellt einen Einschnitt in der Geschichte der Lukács-Rezeption dar. Der Aufbau-Verlag stellt seine Herausgabe der Werke ein, eine Anti-Lukács-Kampagne wird gestartet, um dessen Einfluss wirksam zu bekämpfen. Der Beinahe-Klassiker Lukács wird in den Augen der Spätstalinisten zum revisionistischen Wolf im marxistischen Schaffell, als er im Petöfi-Club sich für einen rigorosen Bruch mit dem Stalinismus ausspricht und einen Neubeginn eines authentischen, auf die Untersuchung der Besonderheiten der Gegenwartsgesellschaften zielenden Marxismus fordert.

Lukácsʼ Stalinismus-Kritik nimmt in den Jahren nach dem Ungarn-Aufstand und dem XX. Parteitag des KPdSU immer schärfere Formen an, sie wird aber nur im Westen publik gemacht, auch in der liberalen bürgerlichen Publizistik. Gewinnt Lukács nach seiner Teilnahme an der Regierung Imre Nagy und der folgenden Deportation nach Rumänien im Westen weithin den Status eines antistalinistischen Aufklärers und nonkonformistischen Intellektuellen, ein Bild, das durch Merleau-Pontys „Abenteuer der Dialektik“ (Paris 1955) theoretisch substanzialisiert und durch die französische Neuausgabe von GuK (1960) in Lés Éditions de Minuit unterstrichen wird, so konterkariert Adornos extrem polemischer Text „Erpresste Versöhnung“ (Adorno 1958) solch positive Wirksamkeit; der Text, eine Art intellektueller Vatermord, wird wegweisend für Generationen von Rezipienten.

Nahrung findet solche Negativrezeption durch Lukácsʼ Weigerung, Blochs Beispiel zu folgen und den realen Sozialismus von außen zu kritisieren. Lukács wird dementsprechend erneut sehr ambivalent wahrgenommen: Von antikommunistischen Hardlinern und treuen Verfechtern der damaligen Kritischen Theorie als (halb-)stalinistischer Dogmatiker oder Verräter der genialischen Ansätze des Frühwerks; von um Dialog und Entspannung bemühten Intellektuellen wie Iring Fetscher als Gesprächspartner oder Verfechter eines dritten Weges.

Dass es sich bei Lukács um einen Klassiker handeln könnte, wird 1962 durch den Beginn der Werkausgabe im Luchterhand Verlag, die Frank Benseler initiiert und betreut hat, verdeutlicht. Die große, bis heute maßgebliche Werkausgabe, deren Vorläufer die Ausgaben des Aufbau Verlags waren, die Lukács übrigens gerne mit seinen Spätwerken fortgesetzt hätte, findet große Beachtung, zumal sie Werkausgaben kritischer Theoretiker wie Adorno, Benjamin und Bloch zuvorkommt. Dass sie mit der ZdV beginnt und dann durch die späte Ästhetik (1963) fortgesetzt wird, verdeutlicht das Selbstverständnis des Autors in den 60er Jahren. Passt Lukácsʼ Irrationalismuskritik trotz Adornos Verdikt durchaus in die Zeit der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit (1963 beginnt der Auschwitz-Prozess in Frankfurt), so bewahrheitet sich andererseits die Skepsis bezüglich der Rezeptionschancen seiner großen Ästhetik.

Die Rezeption bzw. Lukács-Renaissance in den späten 60er Jahren

Während der alt gewordene Lukács (wir sprechen von einem Mann um die 80) an seinen theoretischen Synthesen, in denen er den langen Weg nicht nur zu Marx, sondern vor allem zu sich selbst abzuschließen gedenkt, arbeitet, setzt mit der 68er Revolte eine regelrechte Lukács-Renaissance ein, nicht nur in Westeuropa, auch in den USA und Australien (vgl. Dannemann 2009). Es ist die Zeit der Verbreitung bahnbrechender, aber vergessener Schriften als Raubdrucke, z.B. in der Schwarzen Reihe des de Munter Verlags Amsterdam. Wegweisend ist Dutschkes Betonung der Rolle Lukácsʼ in seiner im SDS kursierenden Bibliographie (Dutschke 1966). Am Streit um die Aktualität des marxistischen Frühwerks beteiligt sich die damalige linksintellektuelle Crème de la Crème (Cerutti u.a. 1977). Die jungen Akademiker, die Revolutionäre werden wollen, finden im jungen, von der revolutionären Atmosphäre nach 1917 beseelten Lukács eine Identifikationsfigur, der ihnen bei der Suche nach einer neuen Rolle der Intellektuellen hilfreich ist. Lukácsʼ zuerst an Rosa Luxemburg, dann immer stärker an Lenin orientierte Überlegungen zur Organisationsfrage liefern Stich- und Orientierungspunkte für die sich während und nach der Revolte stellenden praktisch-politischen Probleme (die Entscheidung für oder gegen außerparlamentarische Praxis, für oder gegen den Aufbau einer Partei neuen Typs). Und Lukácsʼ Verdinglichungstheorie und undogmatische Marx-Lektüre bieten vielfältige Ansätze für theoretische Selbstverständigungen. Dass der späte Lukács mit ganz anderen Fragen beschäftigt ist und das Treiben der jungen Radikalen mit Skepsis und Sympathie betrachtet (er lehnt erwartungsgemäß stets die Kennzeichnung/Stigmatisierung der radikalisierten Studenten als „linke Faschisten“ – so Habermas 1967 – ab), wird zunächst wenig zur Kenntnis genommen.

Über Ungarn hinaus wirkt die Budapester Schule um Agnes Heller, die Lukácsʼ ontologischen Ansatz mit seinen subjekttheoretischen Einsichten im Frühwerk zu verbinden sucht. Trotz anfänglichem Interesse, ja erheblicher Popularität (etwa der Schriften Hellers in Italien) bleibt Lukácsʼ Ontologie ähnlich wie die Spätästhetik ein (beinahe) ungelesenes Meisterwerk (Metscher). Zu solchem Desinteresse trägt zumal Habermas, der Shooting-Star dieser Jahre, mit seiner ablehnenden Haltung erheblich bei, aber auch das Ende der Budapester Schule nach der erzwungenen Emigration Hellers nach Australien. Trotz einzelner Rezeptionsbemühungen im deutschen (Dannemann, Jung, Metscher, Ruben), französischen (Tertulian), italienischen (Oldrini) Sprachraum bleibt die Resonanz des Spätwerks in den Jahren vor der Wende weit hinter der der frühen Werke zurück.

Als sich das Ende des realen Sozialismus abzeichnet (in den späten 80er Jahren), finden vorsichtige Annäherungen von Philosophen im „Osten“ an den vordem als Revisionisten geschmähten Denker statt. Sein Ansehen im internationalen philosophischen Diskurs, das zahlreiche internationale Tagungen, Symposien und Kolloquien anlässlich des 100. Geburtstags von Lukács (und Bloch) eindrucksvoll dokumentieren, und Veränderungen im intellektuellen Klima führen zur Bemühung um eine differenziertere Bewertung von Lukácsʼ nun durchaus wieder mit Respekt gewürdigten Werk (z.B. in Berlin und Halle), zumal dieser bei aller Schärfe der Kritik sich noch in den letzten Lebensjahren klar auf der Seite des Sozialismus positioniert hatte.[10] Manfred Buhr konzediert nun bei der Berliner Lukàcs-Tagung im März 1985: „Kein Zweifel, Georg Lukács war einer der bedeutendsten und einflußreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Seine moralische Integrität kann nicht bestritten werden, seine intellektuelle ebensowenig.“ (Buhr/Lukács 1987, 11) Es bleiben der DDR-Philosophie und Literaturwissenschaft aber zu wenige Jahre, um die nun mögliche Debatte produktiv im Sinne einer Revitalisierung des Marxismus weiterzuführen.

Die postume Rezeption bis in die „postmarxistische“ Gegenwart

Dass die Jahre nach 1989 einen Tiefpunkt der Rezeption Lukácsʼ darstellten, ist wenig überraschend. Dass Marx wie Lukács „tot“ seien, war eine opinio communis, die nicht revidierbar schien. 1996 sahen sich Benseler und seine Mitstreiter genötigt, eine Internationale Georg-Lukács-Gesellschaft (IGLG) zu gründen, die gegen das Vergessen eines großen Denkers ankämpfen wollte (und das versucht sie seit inzwischen fast einem Vierteljahrhundert mit einigem Erfolg).[11] Nachdem der Luchterhand Verlag trotz Protesten die Fortsetzung der Werkausgabe eingestellt hatte, wurde der kleine Aisthesis Verlag zum Hausverlag und sorgt(e) für die Edition der letzten ausstehenden Bände (vgl. Dannemann 2021).

Mit dem Wiederaufkommen linker Theorie im Zuge von Globalisierungskritik, wachsenden Ungleichheitsverhältnissen auch in den Zentren und den Krisen seit 2008 wurde und wird auch Lukácsʼ marxistisches Werk wiederentdeckt. Wie fest verankert Lukács im Gedächtnis der scientific community trotz seiner Umstrittenheit ist, zeigte sich im Zusammenhang der Liquidierung des Lukács-Archivs im Ungarn Viktor Òrbans. Der Protest war weltweit und nicht auf die Blase der Linksintellektuellen beschränkt (vgl. Dannemann 2020). Das wurde 2017 eindrucksvoll sichtbar beim großen Budapester Kongress „The Legacy of Georg Lukács“ mit Protagonisten wie Andrew Feenberg oder Michael J. Thompson.

Es gibt Ansätze zu einer Verortung Lukács im Umfeld aktueller intellektueller Strömungen wie Postmoderne und Postmarxismus. Einen internationalen Rezeptionsschub bewirkte Axel Honneths 2005 erschienene Studie „Verdinglichung“, die breit wahrgenommen und oft hart kritisiert wurde, teils aus sozialistischer Lukács-orthodoxer Perspektive, teils von linkem Denken fernstehenden Autoren (Stichwort: romantische Kapitalismuskritik). Mit dem Tod von Agnes Heller 2019 verschwandt eine lebende Legende der späten Lukács-Ära. Die Meisterschülerin hatte sich zwar vom marxistischen Denken ihres Lehrers abgewandt, in ihrem Kampf gegen Orbán erwies sie sich aber bis zuletzt als würdige Nachfolgerin eines der großen aufmüpfigen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.

Die verstärkte Lukács-Rezeption in Lateinamerika und in Asien könnte im 21. Jh. die westliche Rezeption an Vitalität und Breite übertreffen. Aber das ist derzeit natürlich noch eine ebenso offene Frage wie die, ob die marxistische Variante kritischer Theorie zukünftig den politisch-philosophischen Diskurs in den Zentren des neoliberalen Kapitalismus oder in „Schwellenländern“ wieder stärker beeinflussen wird.

Will man eine vorläufige Bilanzierung vornehmen, so ist festzuhalten: Die Lukács-Rezeption erfolgte nicht linear-kontinuierlich, sondern war von Beginn an ein ambivalenter und in Wellen erfolgender Prozess. Die Gipfel der Aufmerksamkeit erreichte Lukács als Philosoph der Praxis mit GuK und den im Umfeld entstandenen vielen kleineren frühmarxistischen Schriften. Diese lebten untergründig international weiter selbst in den fast vier Jahrzehnten, in denen der Autor sich einer Neuveröffentlichung verweigerte: als Gründungsdokument des „westlichen“ Marxismus und Inspirationsquelle der Kritischen Theorie.

Seine ideologiekritischen Arbeiten werden nach dem Zweiten Weltkrieg international, zuerst im sozialistischen Lager und später in der Auseinandersetzung um die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, stark beachtet. Die Aufmerksamkeit wird aber erneut von massiver Kritik (besonders auffällig von Seiten der Kritischen Theorie) begleitet. Die Ereignisse um 1956 sichern ihm eine Art „Märtyrerstatus“ und seiner Stalinismuskritik Aufmerksamkeit.

Sucht man nach Ursachen der Diskontinuität und Gespaltenheit der Lukács-Rezeption, so gibt es ein ganzes Bündel von Faktoren. Solche sind z.B. Lukácsʼ eigene, von Brüchen geprägte Entwicklung (am prägnantesten ablesbar an seiner „plötzlichen“ Konversion zum Kommunismus und seinen berühmt-berüchtigten Selbstkritiken), die die Entwicklung einer Lukács-Schule innerhalb der linken Philosophie erschwert haben (vgl. Dannemann/Löwy 2015). Es gibt keine Parallelität zwischen der Rezeption und der eigenen Entwicklung. Als z.B. Adorno in den 20er Jahren in Wien mit dem Autor über die Theorie des Romans, die ihn nach eigenem Bekunden erst motiviert hat, Philosoph zu werden, sprechen möchte, blockt dieser unwillig ab, über ein in seinen Augen überholtes romantisch-idealistisches Werk zu sprechen (Adorno/Kracauer 2008, 79). Ähnliche Szenen wiederholen sich in den 30er, 50er und 60er Jahren: Man kann also davon sprechen, dass Lukács selbst eine breite und kontinuierliche Rezeption seiner Werke komplizierte.

Äußere, v.a. politische Faktoren wie revolutionäre oder restaurative Phasen, die freies marxistisches Denken erstickende Periode des Stalinismus und der Kalte Krieg, die für den Theorie und Politik in seiner Philosophie der Praxis eng verzahnenden Lukács besonders virulent sind.

Die oft ambivalente Nähe oder Ferne zum Zeitgeist: GuK z.B. ist sicher ein klassisches Produkt einer revolutionären Periode, stößt aber bei seinem Erscheinen auf Kritik und dann auf das Erstarken eines Dogmatismus in der kommunistischen Bewegung, die zu einem immer steriler werdenden „Marxismus-Leninismus(-temporär: Stalinismus)“ führt. Nach dem Krieg gerät Lukácsʼ „reife“ Philosophie in die Frontkämpfe der Systemauseinandersetzung. Und 1968 hat er internationalen Erfolg mit Schriften, die er selbst für überholt hält.

Die Bruchstellen und Ungleichzeitigkeiten der Lukács-Rezeption machen ihn aber gerade deshalb zu einem repräsentativen Denker einer tief gespaltenen Welt und einer ebenso tief in Krisen geratenden linken Intelligenz. Diese erwies sich im 20. Jahrhundert als unfähig, in einen Dialog einzutreten, in dem die Beteiligten um die theoretische Bewältigung der radikal neuen Formen einer noch immer kapitalistisch geprägten Welt ringen, und diesen Dialog nicht nur als Machtspiel verstehen, sondern auch als unabdingbaren Lernprozess.

In diesem unabdingbaren Prozess marxistischer Selbstverständigung nimmt Lukács wegen der Qualität seines Werks einen bemerkenswerten Platz ein. Einige der oben erläuterten Rezeptionsformen sind historisch geworden: die Auseinandersetzungen mit dem Dogmatismus des orthodoxen Marxismus-Leninismus, der Streit um die literarische Moderne oder die Querelen um den sozialistischen Realismus. Um nicht missverstanden zu werden: Auch diese Aspekte der Wirkungsgeschichte sind lehrreich, aber mehr in dem Sinne, dass sie demonstrieren, was eine den Herausforderungen der Gegenwart angemessene marxistische Theorie vermeiden sollte.

Die aktuelle Wiederentdeckung von Lukácsʼ zeigt: Seine Verdinglichungstheorie bleibt ein wichtiger Baustein bei der Erstellung von Zeitdiagnosen in der Ära des neoliberalen Kapitalismus, auch in den aktuellen Debatten über Rassismus, Kolonialismus und die Genderfrage. Er ist weiterhin mit seiner im Frühwerk entwickelten Philosophie der Praxis Sprachrohr und Artikulationshilfe für Bewegungen mit revolutionärem Elan (vgl. Feenberg 2014; Hahn 2017; Kavoulakos 2018). Prekär bleibt seine Stellung im etablierten akademischen Diskurs, der ja seine Aufgabe nicht in radikaler Systemkritik sieht: Lukács wie die Kritische Theorie bleiben eine „Unterströmung der dominanten Moderneanalysen“ (Rosa 2016: 52), die die Klassiker der Soziologie „begleitet“ (ebd.). Ob sie über einen solchen „Begleiterstatus“ hinausgelangen können, ist davon abhängig, welche Verwerfungen der moderne kapitalistische Zivilisationstyp produzieren wird. Wenn eine Aktualisierung des Lukácsʼschen Denkens gelingen sollte, wird die Historisierungstendenz der Lukács-Forschung nicht dominieren.[12]

Literatur

Theodor W. Adorno (1958): Erpreßte Versöhnung, in: Der Monat, Jg. 11 (1958), H. 11, 37ff.

Ders. (2019): Aspekte des neuen Rechtsradikalismus: Ein Vortrag. 6. Auflage, Berlin.

Ders./Siegfried Kracauer (2008): Briefwechsel 1923-1966, Frankfurt/M.

Zsuzsa Bognár (2018): Der junge Lukács und die zeitgenössische ungarische Kunst und Kultur, in: Georg Lukács Werke (GLW) 1/2, Bielefeld, 796-814.

Manfred Buhr/Josef Lukács (Hrsg.) (1987): Geschichtlichkeit und Aktualität. Beiträge zum Werk und Wirken von Georg Lukács, Berlin.

Rüdiger Dannemann/Werner Jung (Hg.) (1995): Objektive Möglichkeit. Beiträge zu Georg Lukács’ „Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Opladen.

Ders. (2009): Georg Lukács und 1968. Eine Spurensuche. Bielefeld.

Ders./Michael Löwy (2015), „Lukács-Schule“, in: Wolfgang Fritz Haug, Frigga Haug, Peter Jehle, Wolfgang Küttler (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 8/II, Hamburg 2015, Sp. 1354-1371.

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[1] Überarbeitete Fassung eines in Bejing beim „International Symposium on Georg Lukács and Marxist Thought“ im Dezember 2019 gehaltenen Vortrags.

[2] Wie Zsuzsa Bognár gezeigt hat, wurden bereits gegen den jungen Lukács in seiner Heimat (v.a. von Mihály Babits) Vorwürfe wegen seiner Orientierung an der deutschen philosophischen Kultur erhoben.

[3] 1928 verfasst Lukács unter seinem Parteinamen die sogenannten „Blum-Thesen“ In diesen Thesen über die politische und wirtschaftliche Lage in Ungarn und über die Aufgaben der kommunistischen Partei Ungarns erklärt Lukács einen direkten Übergang vom Horthy-Regime in die revolutionäre Diktatur des Proletariats für ausgeschlossen und entwickelt ein eigenes Konzept einer „demokratischen Diktatur“.

[4] An der Sommerakademie im Thüringer Wald beteiligten sich viele spätere Mitarbeiter und Begleiter des im folgenden Jahr gegründeten Instituts für Sozialforschung, neben Lukács und Korsch u.a. Felix Weil, Richard Sorge, Karl August Wittfogel, Béla Fogarasi, Friedrich Pollock, Julian Gumperz und Kazuo Fukumoto.

[5] Zu Lukács in Japan und dem „Fukomotismus“ vgl. Junji Nishikado, 2016, 243-256.

[6] Lukács‘, dem der Ruf eines Märtyrers und exzellenten Kenners der Philosophie- und Literaturgeschichte vorausgeht, gleichsam eine „Synthese von Denken und Handeln, revolutionärem Tun und geschichtsphilosophischer Bewußtheit“ verkörpernd, erwirbt sich dort rasch Respekt (vgl. Klein 1990, 37).

[7] Die 1955 im Aufbau-Verlag erschienene Festschrift zum 70. Geburtstag offenbart die Breite der damaligen Rezeption. Zu Konjunktur und Krisen der Lukács-Rezeption in der DDR vgl. die detaillierte Studie von Gallee (1996).

[8] Michael Hametner, Lessings Bitternis, in: FREITAG, Nr. 17. vom 23.4.2020: 18).

[9] Vgl. das SZ-Interview von Susan Neiman vom 9. 5. 2020 (https://www.sueddeutsche. de/politik/ susan-neiman-weltkrieg-nazi-trump-1.4898396-2).

[10] Nicht zuletzt mit der provozierenden Sentenz: „Der schlechteste Sozialismus ist immer noch besser, als der beste Kapitalismus.“

[11] Zur IGLG vgl. https://www. lukacs-gesellschaft.de; https://www.facebook.com/lukacsgesellschaft/.

[12] Auffällig ist, dass die ZdV in letzter Zeit wieder verstärkt rezipiert wird. Der Erfolg der kleinen Rechtsradikalismusstudie Adornos sollte klar machen: In diesen Tagen des politischen Kampfes ist es mehr als überfällig, Lukácsʼ Analysen des faschistischen Systems der Barbarei wieder ins Bewusstseins zurückzurufen. Auch um die Besonderheiten der neuen Rechten gegenüber ihren Vorläufern klarer herauszuarbeiten.

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