Geschichte des Sozialismus

Arbeiterunruhen in und um Novočerkassk im Juni 1962

Momentaufnahme der sowjetischen Gesellschaft vor 50 Jahren

von Karl-Heinz Gräfe
Dezember 2012

Staatssozialismus – Alternative zum Kapitalismus?

Der administrative Staatssozialismus sowjetischen Typs, der sich nach dem Abbruch der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) in seinen Grundstrukturen wesentlich unter Diktator Josef W. Stalin zwischen 1929 und 1953 ausformte (und deshalb auch als Stalinismus im weiteren Sinne des Begriffs gekennzeichnet werden kann)[1], galt in der Selbstdefinition der herrschenden politische Klasse der UdSSR als Sozialismus, der sich im Übergang zum Kommunismus befindet. Der von Nikita S. Chruščov[2] maßgeblich eingeleitete Entstalinisierungsprozess befreite die sowjetische Gesellschaft von dem inhumanen und selbstzerstörerischen Massenterror des Diktators gegenüber der Dienstelite und der Bevölkerung. Für diese erste wichtige Umbaustufe der Entstalinisierung ist daher Begriff „Überwindung des Personenkultes“ unzutreffend, da er das Wesen der Veränderungen verschleiert. Trotz Reformversuche gelang es der kollektiven Parteiführung unter Chruščov (1953-1964) nicht, die schwierige zweite Stufe der Entstalinisierung durchzusetzen – den Umbau der grundlegenden Strukturen des sowjetischen Systems, d. h. den Übergang zu einem demokratisch-emanzipatorischen Sozialismus auf marktwirtschaftlicher Grundlage. Offenbar waren die Chancen dafür gering, da die neue kollektive Führung nicht diese strategische Sicht besaß und dazu nur bedingt fähig war. Sie nutzte nicht einmal den von Lenin entwickelten und versuchten Ansatz der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) und der sozialistischen Genossenschaften. Die Kremlführung setzte erneut auf das schon 1918-1921 gescheiterte, von Stalin seit 1929 wieder aufgenommene utopische Konzept des direkten Übergangs des Staatssozialismus in den Kommunismus. Der XXII. Parteitag der KPdSU 1961 bestimmt dieses programmtisch Ziel: „Das Wichtigste und Entscheidende in der Tätigkeit der Partei nach dem XX. Parteitag war der Kampf um die Erfüllung der grundlegenden Aufgaben in der Periode des umfassenden kommunistischen Aufbaus: Schaffung der materiell-technischen Grundlage; weitere Festigung der ökonomischen Macht der UdSSR; kommunistische Erziehung der Werktätigen; immer vollständigere Befriedigung der wachsenden materiellen und geistigen Bedürfnisse des Volkes.“[3] Ökonomischer Gradmesser für den Aufbau der materiell-technischen Basis des Kommunismus war das gesellschaftliche Bruttoprodukt. Es sollte bis 1980 um das Fünffache gesteigert werden und den Übergang vom (vermeintlich schon erreichten) Grundprinzip des Sozialismus („Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“) zu dem des Kommunismus („Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“) gewährleisten.[4] Die Lebenswirklichkeit der 200 Mio. sowjetischen Bürger aber war gekennzeichnet von beginnender ökonomischer Stagnation[5] und anwachsenden sozialen Spannungen.

Arbeiteraufstände im Sozialismus?

Die Gruppe der um 1917 drei Millionen Industriearbeiter in Russland (150 Mio. Einwohner) entwickelte sich in den drei Jahrzehnten der Industrialisierung (1928-1960) zum Hauptproduzenten der materiellen Produktion (46 Mio. Menschen – 55% aller in der Volkswirtschaft Beschäftigten) in der UdSSR.[6] Zu ihm gehörte zusätzlich die Gruppe der Zwangsarbeiter im landesweiten GULAG-System (1952 – 5,3 Mio.), deren Anteil an der Erzeugung der Energie- und Industrieproduktion der UdSSR bei 10% lag.[7] Die von Vladimir I. Lenin geführte SDAPR (B) war eine der hauptsächlichen Interessenvertreterinnen der Arbeiter. Aus dieser seit 1917 machtausübende Staatspartei (KPR bzw. KPdSU) entstand eine Herrschaftsschicht (Nomenklatura), die gegenüber der Bevölkerungsmehrheit und der Masse ihrer Parteimitglieder eigenmächtig über die strategische Richtung der Gesellschaftsentwicklung und über die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums entschied. Daraus resultierte letztlich die Entfremdung der Arbeiter, aber vor allem auch der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit vom Eigentum und vom Staat. Das offenbarte sich schon im Aufstand der Arbeiter und Matrosen in Kronstadt 1921 und in den landesweiten bäuerlichen Massenunruhen 1920/1921.[8] Ein solches zentrales Krisen-Ereignis (ähnlich auch wie die Arbeiteraufstände in der DDR und in der Tschechoslowakei 1953 oder in Polen und Ungarn 1956 [9]) gab es in der nachstalinschen Sowjetunion nicht. Wohl aber kam es auch in der sog. Tauwetterperiode (1953-1964) zu sozialen und politischen Unruhen in der Peripherie des Riesenlandes: die Aufstände in den GULAG-Lagern Rečlag (bei Vorkuta) August 1953 (64 Tote, 123 Verletzte), Gorlag (bei Noril’sk) September 1953 (11 Tote, 36 Verletzte) und Steplag (Kengir) Mai-Juni 1954 (35 Tote)[10] sowie die prostalinistische Massenbewegung in Georgien (Tiflis) 4. bis 9. März 1956 (21 Tote 55 Verletzte)[11], die Massenunruhen in Termir-Tau (Gebiet Karaganda der Kasachische SSR), der Baustelle des größten sowjetischen metallurgischen Betriebes der UdSSR am 1. bis 4. August 1959 (16 Tote, 136 Verletzte, darunter 109 Soldaten und Polizisten)[12].

Das wichtigste zentrale Ereignis sozialer und politischer Unruhen zwischen 1957 und 1964[13] blieb so gut wie unbekannt: Die Massenunruhen im Juni 1962 im industriellen Ballungszentrum Rostov (900.000 Einwohner) – Novočerkassk (180.000) – Taganrog (270.000) – Šachty (200.000) des an die Ukrainische SSR angrenzenden südrussischen Gebietes Rostov am Don (100.800 km² Fläche, 4 Mio. Einwohner, davon 70% in Städten). Sieht man von einigen westlichen Arbeiten oder von der mehr literarisch-politischen Darstellung von Alexander Solženycin[14] ab, blieben diese Ereignisse 30 Jahre lang unbekannt. Sie waren auch während Gorbačovs Glasnost‘ ein Tabu-Thema. Lediglich der Ökonom, Reformer und Vorsitzend des Moskauer Stadtsowjets Gavriil Popov machte den Arbeiteraufstand erstmals 1990 öffentlich und sah in ihm den entscheidenden Wendepunkt, der zum Scheitern der Chruščov-Reformen führte: „Gerade in Novočerkassk wurde der Versuch der Massen, die ursprüngliche Variante von Chruschtschows Reformen zu verteidigen und ihr Recht auf Teilnahme an der Umgestaltung zu behaupten, beerdigt und dem Militärgericht überantwortet. Ich hoffe, unsere Volksdeputierten werden die Zeit finden, eine Kommission zur Überprüfung des Falls … zu berufen, um endlich die erschossenen Arbeiter zu rehabilitieren und einen Beschluss über ein Denkmal in Novočerkassk anzunehmen.“[15] Aber erst das nach dem Zerfall der UdSSR geschaffene Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation (APRF) gab 1993 wesentliche Geheimdokumente frei[16], die ein Bild über den spontanen Arbeiteraufstand und dessen Ursachen, Triebkräfte, Relevanz und Ausmaß vermitteln. Am 1. Juni 2002 wurde erstmals in Novočerkassk des Arbeiteraufstandes von 1962 öffentlich gedacht.[17]

Streikzentrum an der Peripherie

Auslöser der Massenunruhen war die von der Partei- und Staatsführung am 31. Mai 1962 erlassene Verordnung über die Erhöhung der Preise für Fleisch- und Milchprodukte um durchschnittlich 34%. Absicht der Maßnahme war, durch erhöhte Aufkaufpreise die Kolchosbauern und Sowchosarbeiter in der noch immer zurückgebliebenen und besonders extensiv betriebenen Landwirtschaft für höhere Produktionsleistungen zu stimulieren, zumal seit 1957 mit der Abschaffung der Privatparzellen der Kolchosbauern und in Arbeitersiedlungen große Versorgungsprobleme entstanden waren. Die Orientierung auf sog. Agrarstädte und Großkolchosen statt auf den Umbau der Kolchosen in landwirtschaftliche Genossenschaften erwies sich ebenso als Fehlentscheidung. Die Diskrepanz zwischen dem Anspruch, das Land befände sich bereits im Übergang zum Kommunismus, und die Lebenswirklichkeit der Arbeiter verschärfte die sozialen Widersprüche und der Entfremdung der Arbeiterklasse von der Macht. Die täglichen Analysen des KGB wie auch Informationen der Abteilung Parteiorgane beim ZK der KPdSU der Unionsrepubliken und der RSFSR auf Reaktionen über die Preiserhöhung von Lebensmitteln vermitteln ein landesweites Bild über die Grundstimmungen vor allem unter Arbeitern in dieser Zeit: Einerseits gab es ein gewisses Verständnis dafür, mittels Preiserhöhung vor allem die Erzeugung von Fleisch und Milchprodukten durch materielle Anreize für die Kolchosbauern und Arbeiter der Sowchose dauerhaft zu erhöhen. Doch standen diese Maßnahmen ganz im Gegensatz zu der öffentlichen Propaganda, dass die UdSSR dabei sei, die USA im Umfang der Bruttoproduktion wirtschaftlich zu überholen, und zur kommunistischen Gesellschaft übergehe. Kritisiert wurde vor allem:

- Für alle Probleme werde Stalin verantwortlich gemacht. Warum aber nutzten seine Nachfolger das vergangene Jahrzehnt nicht zur Überwindung der Rückstände der Landwirtschaft?

- Der Kommunismus wird verkündet, aber die Lebensverhältnisse verschlechtern sich.

- Würden die Reichtümer der UdSSR nicht an sozialistische und Entwicklungsländer verschenkt, könnten wie bisher regelmäßig Preise gesenkt und Löhne erhöht werden.

- Die Fleisch- und Milchpreise könnten beibehalten werden, wenn man die Gehälter der gut verdienenden Funktionären und Spezialisten kürzen würde.

- Wenn die Arbeiter wie in den westlichen Ländern einen Streik organisieren, wird die Regierung sofort die Preise wieder senken.[18]

Wie die sowjetische Führung auf die sozialen und politischen Unruhen reagierte, welche Schlussfolgerungen sie daraus zog, ist am Ablauf der Ereignisse im Industrie- und Arbeiterzentrum in und um Novočerkassk ersichtlich und soll im folgenden detaillierter beschrieben werden.

Das Novočerkassker Elektrolokomotivenwerk „S. M. Budjonnyj“ (im folgenden NEVS), der größte Maschinenbaubetrieb der Branche in der UdSSR, lag wie die Arbeitersiedlung „Oktjabr“, wo die meisten Beschäftigten wohnten, 4 km außerhalb der Stadt. In diesem 1947 wieder aufgebauten Großbetrieb arbeiteten 11.000 Menschen im Zweischichtsystem. Darüber hinaus gab es in der Stadt noch ein Dutzend Industriebetriebe, u. a. die Werke für Elektroden (3.000 Besch.), synthetische Produkte (3.000), Erdölanlagenbau (2.600), Bergbauausrüstungen (1.000), Werkzeuge (1.000) Magneten (1.000) sowie Dienstleistungseinrichtungen, Berufsschulen und das Polytechnikum (14.000 Studenten). Wie auch in anderen Gebieten des Landes wurden die Arbeiter in diesem Industriezentrum am Freitag, dem 1. Juni 1962 von der Erhöhung der Preise für Fleisch- und Milchprodukte überrascht. Die Lage spitzte sich im Gebiet Rostov am Don noch dadurch zu, dass sich der vom KPdSU-Gebietskomitee Rostov Anfang 1962 initiierten Bewegung zur Senkung der Produktionskosten auch Arbeitskollektive in Novočerkassk anschlossen (NEVZ, das Kohlekraftwerk und Bergbauausrüstung-Werk). Dadurch wurden bei einem beträchtlichen Teil der Arbeiter seit Mai 1962 die Löhne um 10 bis 30% gekürzt.[19] So kam es unter den 5.000 Arbeiter der Frühschicht des NEVZ am 1. Juni 1962 zu besonders erregten Debatten. Betriebsleiter Boris N. Kuročkin ließ sich auf keinerlei Gespräche ein und forderte, die Arbeit aufzunehmen. Eine Gruppe von Arbeiter um den Schlosser Vjateslav I. Černych (*1938) aus der Stahlgießerei schaltete die Werksirene ein und rief zum allgemeinen Streik auf.[20] Die inzwischen aus dem Stadtkomitee Novočerkassk und dem Gebietskomitee Rostov herbeigeeilten Partei- und Staatsfunktionäre waren außerstande, die explosive Lage zu entspannen. Sie stellten sich auch nicht den 4.000 Streikenden, die sich gegen Mittag auf dem Vorplatz der Betriebsverwaltung eingefunden hatten und Lohnerhöhungen, Preissenkungen und eine generelle Verbesserung der Arbeitsbedingungen forderten. Ein Teil der aufgebrachten Arbeiter und Arbeiterinnen zog dann zum Eisenbahngelände und blockierte den Zugverkehr Moskau-Rostov. Werkspolizei und Parteimitglieder konnten das nicht verhindern. Erst gegen 16.30 Uhr kam Betriebsdirektor Kuročkin der Forderung nach, die Streikenden anzuhören, denen sich nun auch die zweite Schicht angeschlossen hatte. Die Versammlung eröffnete der Erste Sekretär des KPdSU-Gebietskomitees Aleksandr V. Basov (1912-1990)[21]. Nach dem er lang und breit aus der Regierungsverordnung die Preiserhöhung begründet hatte, unterbrach ihn ein Arbeiter: „Die Mitteilungen kennen wir, wir sind selbst lesekundig. Erkläre Du uns lieber, wie wir weiter leben sollen, wenn man die Löhne senkt und die Preise erhöht.“[22] Als Kuročkin danach ans Rednerpult trat, wurde er mit Steinen und Flaschen beworfen. Es begann ein allgemeiner Tumult, das Gebäude wurde gestürmt. Die leitenden Führungskader flohen aus dem Betrieb und informierten das ZK-Präsidium in Moskau über die Lage. Als zwei Stunden später 340 städtische Milizionäre und Geheimpolizisten die Ordnung im Betrieb wiederherstellen wollten, jagten Streikende sie davon. Auf der Kundgebung um 20 Uhr rief der Kraftfahrer Ivan P. Služenko (*1932) dazu auf, den Streik auf die anderen Betriebe der Stadt auszuweiten und am nächsten Tag auf einer Kundgebung im Zentrum von Novočerkassk der städtischen Parteiführung die Forderungen der Streikenden vorzutragen.[23] Der Dreher Sergej S. Sotnikov (1937-1962), Mitglied der KPdSU und einer der Streikführer, erklärte am 19. Juni 1962 vor den Untersuchungsorganen, dass er bereits am Abend des 1. Juni 1962 mit einer Gruppe von Arbeitern die Gasverteilerzentrale zur Versorgung der Nachbarbetriebe abschaltete und dort die Arbeitsniederlegung erreicht hatte.[24]

Massenunruhen in der südrussischen Industrieregion

General Oleško, Kommandeur der städtischen Garnison, begann ab 20 Uhr mit der militärischen Besetzung des NEVS und anderer Betriebe sowie der Arbeitersiedlung. Die Streikführer des benachbarten Elektroden-Werkes Georgij Katkov (*1926) und Andrej A. Korkač (1917-1962) erreichten, dass sich die drei gepanzerten Fahrzeuge und einige Dutzend Soldaten vom Werksgelände zurückzogen.[25] Offenbar waren Offiziere und Soldaten der Garnison nicht bereit, auf Arbeiter zu schießen. Daraufhin verhängte der Kommandeur des Nordkaukasischen Militärbezirkes, Armeegeneral Issa A. Plijev (1903-1979)[26] den militärischen Ausnahmezustand über Šachty, Novočerkassk und die umliegenden Arbeitersiedlungen und setzte zur Verstärkung Truppen von außerhalb ein. Erst um Mitternacht wurden NEVZ und andere Betriebe militärisch besetzt. An der Brücke der Tusla riegelten Panzer den Weg zum 4 km entfernten Novočerkassk ab. Am 2. Juni spitze sich die politische Lage erneut zu. Der Streik erfasste nunmehr ein Dutzend größerer und mittlerer Betriebe der Stadt. Im NEVZ verweigerte die Frühschicht, unter militärischer Besetzung die Arbeit aufzunehmen. Der Eisenbahnverkehr auf der Strecke Rostov-Moskau wurde wieder blockiert. Über 5.000 Arbeiter zogen mit roten Fahnen und Leninbild friedlich an den Panzern und Soldaten vorbei in das Stadtzentrum. Streikende aus anderen Betrieben und Einrichtungen der Stadt schlossen sich an. Einige Teilnehmer unter Leitung des Streikführers des Betriebes für Bergbauausrüstungen, des Schlossers Vladimir D. Čerepanov (1933-1962), versuchten in die Stadtmiliz einzudringen und die am Vortag verhafteten 30 Arbeiter zu befreien.[27] Der Demonstrationszug hielt schließlich vor dem Gebäude des Stadtparteikomitees (dem ehemaligen Sitz des Kosakenatamans). Vom Balkon des Parteigebäudes forderten Streikführer einiger Betriebe die Rücknahme der Preiserhöhung, der Senkung der Löhne und den Abzug der Armee: Boris N. Mokrousov (1923-1962, Werkzeugmaschinenfabrik), A. P. Mironov (*1933, Dreher, NEVS), G. Limančev (Arbeiter, NEVS), Aleksandr F. Zajcev (1927-1962)[28], Georgij M. Čšerban (*1935, Schlosser, Erdölanlagenbau) und Jekatarina P. Levčenko (Bauverwaltung Nr. 131, *1935).[29]

Gegen 11 Uhr drangen die ersten militärischen Einheiten in das Stadtzentrum ein, besetzten Post, Bank, Rundfunksender, sicherten die Gebäude von Miliz und des KGB (wo sich 1.586 kriminelle und politische Gefangene befanden). Acht Panzer und MPI-Schützen eröffneten das Feuer auf die Demonstranten. Der Stellvertretende KGB-Chef informierte am 7. Juni 1962 das Präsidium des ZK der KPdSU über den Blutsamstag: „Nach der Liquidierung der Massenunruhen wurden 20 Leichen aufgesammelt (podobrat‘), unter ihnen zwei Frauen; sie wurden alle an (fünf, K.-H.G.) verschieden Orten des Gebietes Rostov beigesetzt. Es wurden 40 Verwundete gezählt, von denen drei verstarben. Nach der Beendigung der Massenunruhen in der Stadt wurden zusätzliche Militäreinheiten eingeführt und der Ausnahmezustand errichtet.“[30]

Am 14. Juni 1962 erhielt Chruščov vom KGB-Chef eine Liste von 23 Todesopfern in Novočerkassk.[31] Nach dieser Zuspitzung der Lage entsandte Chruščov zwei Mitglieder des ZK-Parteipräsidiums, seine beiden Stellvertreter auf Partei- und Regierungsebene in das Krisengebiet: den Zweiten Sekretär des ZK der KPdSU Frol P. Kozlov (1908-1964) und den Ersten Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates Anastas I. Mikojan (1895-1978), der sich als Krisenmanager schon in Ungarn 1956 bewährt hatte. Sie empfingen am späten Nachmittag des 2. Juni 1962 in einem militärisch abgesicherten Gebäude (ehemalige Kadettenschule) die von den Kundgebungsteilnehmern gewählte neunköpfige Delegation der Streikführer. Diese verlangten, das Militär aus der Stadt und aus den Betrieben abzuziehen, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die das Blutbad angerichtet hatten sowie die Lebensbedingungen der Arbeiter generell zu verbessern. Die ZK-Vertreter stimmten dem zu, forderten ihrerseits von den Arbeitervertretern, die Ordnung wieder herzustellen und den Streik zu beenden. Die Abordnung kehrte in Begleitung einiger Militärs auf den Platz vor dem Gebäude des Stadtparteikomitees zurück und informierte die dort erneut versammelte Menge, dass die ZK-Mitglieder zugesagt hätten, die Ereignisse zu untersuchen und die Schuldigen streng zu bestrafen.[32] Die Demonstranten verließen aber erst eine Stunde später den Platz, nachdem erneut Panzer anrückten. Auch am 3. Juni kam es zu Menschenansammlungen und Protesten. Um 15 Uhr versuchte der ZK-Sekretär Kozlov ohne Erfolg, in einer Rundfunkansprache, die über Lautsprecher übertragen wurde, die Bevölkerung zu beschwichtigen.[33]

Trotz militärischen Besetzung, Verhaftung von 240 Personen und des Auftretens der beiden Parteiführer in einigen Betrieben der Stadt gingen die Unruhen weiter. Erst am 7. Juni 1962 wurde der Ausnahmezustand in der Region aufgehoben.[34]

Kein Anlass für eine politische Wende

Wie reagierte die Kremlführung auf die Juni-Ereignisse? Als es drei Jahre zuvor (1959) auf der industriellen Großbaustelle im kasachischen Termir-Tau zu Massenunruhen kam, beschäftigte sich die obere und regionale Partei- und Staatsführung mehr als ein halbes Jahr damit. Der Massenstreik und die Unruhen vom Sommer 1962 im Gebiet Rostov am Don (vor allem in den industriellen Ballungszentren in und um Novočerkassk, Šachty, Rostov und Taganrog) und ähnliche landesweite Ereignisse[35] wurden nur beiläufig vom Präsidium des ZK der KPdSU am 10. Juni 1962 im Tagesordnungspunkt II behandelt: „Die Aktion ist gut durchgeführt worden. Einen anderen Ausweg gab es für uns nicht. Die Schwächen unserer Arbeit sind sichtbar geworden. Die Mehrheit stimmt dem zu. Genosse Basov [Erster Sekretär des Gebietskomitees, K.-H.G.] erwies sich als schwacher Parteiarbeiter. Schlussfolgerung – unsere Arbeit verbessern. Man muss die Arbeit der Organe des KGB verstärken. Die Genossen Šelepin [1961-1967 ZK-Sekretär, 1958-1961 und November 1962 - Dez. 1965 KGB-Chef, K.-H.G.], Semičastnyj und Ivašutin bereiten dazu Maßnahmen vor.“[36] Die autoritäre kollektive sowjetische Führung reagierte – nicht anders als Diktator Stalin – mit militärischer und polizeilicher Gewalt auf die Proteste der Arbeiter gegen die Missachtung ihrer Grundinteressen und gegen staatliche Willkür. Die sowjetische Führung sicherte, dass die Massenunruhen nicht landesweit oder gar im Ausland bekannt wurden.[37] Die politischen Akteure wurden als Kriminelle und Staatsfeinde diffamiert, ihre Führer zu Lagerhaft oder zum Tode verurteilt.[38] Der Terror (wenn auch graduell anders als zu Stalins Zeiten) und die Geheimhaltung sozialer und politischer Unruhen war noch immer Mittel für das Funktionieren des maßgeblich unter Stalins Herrschaft entstandenen zentralen administrativ-bürokratischen Systems. Zu dem Gerichtsprozess (20. bis 22. August 1962) wurden ausgewählte Vertreter aus Betrieben geladen, die danach in Belegschaftsversammlungen über die „gerechte Aburteilung“ der als „Verbrecher und Hooligans“ bezeichneten Streikführer berichten sollten. Der Generalstaatsanwalt der UdSSR Roman A. Rudenko (1907-1981)[39] informierte Chruščov darüber: „Die öffentlichen Gerichtsverhandlungen hatten große erzieherischen Einfluss auf die Bevölkerung. … Erst jetzt begriff ein Teil der Bevölkerung der Stadt, dass die Unruhen von verbrecherischen Elementen provoziert worden sind.“[40] Die Ursachen der sozialen und politischen Unruhen wurden nicht überwunden. Die Führungsspitze sah die Ursachen der Streikbewegung in der unzureichenden ideologischen und politischen Befähigung der Kader auf der Gebiets-, Stadt- und Betriebsebene. Deshalb wurden einige Funktionäre aus der Partei ausgeschlossen, ihrer Posten enthoben oder auf andere Ämter abgeschoben.[41] Für die Kreml-Führung waren die Massenunruhen vor allem Anlass, den Repressivapparat (Innenministerium, Geheimpolizei, Justiz) auszubauen und stärker auf die Arbeiterzentren auszurichten.[42] Es fiel den herrschenden sowjetischen Politikern, die seit 1953 das System reformieren wollten, schwer, in den sozialen und politischen Unruhen kardinale Hinweise auf den tatsächlich bestehenden Zustand der sowjetischen Gesellschaft zu erkennen und – wie es noch Lenin 1921 getan hatte – den schwierigen wie risikoreichen strukturellen Umbau des politischen und wirtschaftlichen Systems durchzuführen, dafür vor allem Arbeiter und Bauern selbst zu mobilisieren.

Zudem stemmte sich der konservative Teil der Nomenklatura gegen Veränderungen, da sie den Verlust ihrer privilegierten sozialen und politischen Stellung befürchtete. Dieser konnte sich noch immer auf die in Jahrzehnten erhalten gebliebene patriarchalische Mentalität eines beträchtlichen Teiles der Arbeiter und Kolchosbauern stützen. Die Unruhen in der Unionsrepublik Georgien im Frühjahr 1956 waren eine solche negative Reaktion auf den beginnenden Entstalinisierungsprozess, der kurz zuvor von Parteichef Chruščov auf dem XX. Parteitag 1956 neue Schubkraft erhalten hatte. Es sollte allerdings nicht übersehen werden, dass ein Gesellschaftsumbau in Richtung eines erneuerten Sozialismus inmitten der Hochzeit des kalten Krieges (Berlin- und Kubakrise) auch die Gefahr in sich barg, dass das Land von seinen nichtkapitalistischen Entwicklungspfad abdriftet, in Abhängigkeit zu den kapitalistischen Hauptmächten gerät. Denn diese hielten noch immer an ihrem Ziel fest, die sowjetische Weltgroßmacht auszuschalten und auf diesem Sechstel der Erde generell eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften zu restaurieren. Die Chancen für den Umbau in einen Sozialismus auf demokratischer und emanzipatorischer, marktwirtschaftlicher und national-föderativen Grundlage in der multiethnischen UdSSR waren nach der „Tauwetterperiode“ geringer geworden. Wie sich unter der neuen sowjetischen Führung Michael Gorbačovs (1985-1991) zeigte, war die krisenhafte staatssozialistische Gesellschaftsordnung wahrscheinlich außerstande, der ökonomischen, politischen und ideologische Anziehungskraft der kapitalistischen Großmächte zu widerstehen, so dass die herrschende Nomenklatura – im Unterschied zu der in China – sich für den Übergang zum Kapitalismus und zur Aufteilung der UdSSR in ein Dutzend Nationalstaaten entschied.[43]

Anlage

Aus der Rundfunkansprache von ZK-Sekretär Frol Kozlov am 3. Juni 1962 in Novočerkassk

„Im Auftrag des ZK der KPdSU und der Sowjetregierung sind wir in Eure Stadt gekommen, um vor Ort die Zustände aufzuklären, die zur Unruhe und zur Störung des normalen Lebens geführt haben. Ihr könnt davon ausgehen, Genossen, dass wir untersuchen, was zu dieser ernsten Situation geführt hat. Man kann schon jetzt sagen, dass die Urheber der Unordnung kriminelle Elemente waren. Denn anständige Sowjetbürger können nicht die Anstifter solcher Pogrome in Betrieben und Einrichtungen sein, die über Vertreter der Sowjetmacht und gesellschaftlicher Organisationen herfallen, die die Zugverbindungen blockieren, Arbeiter zwingen ihre Arbeit niederzulegen, die die Lebensgrundlagen in der Stadt zerstören. Ist es nicht offensichtlich, dass solche Aktionen gegen Volk und Staat gerichtet sind? Das alles sind grobe Verletzungen der sowjetischen Gesetze. So können nur Leute handeln, die nicht das Wohl der Menschen wollen, die eigensüchtige Ziele verfolgen, oder solche, die Provokateuren auf dem Leim gehen. Wie konnte es geschehen, dass ein Teil der Arbeiter vor allem des Elektrolokomotiven-Werkes ‚Budjonnyj‘ ihre Arbeit im Stich ließ und sich an organisierten Unruhen beteiligte? Hinter wem sind die Arbeiter hergelaufen? Gestern Abend empfingen wir eine von Euch gewählte Gruppe von Abgeordneten. … Sie waren mit uns einverstanden, dass es unbedingt notwendig ist, die Ordnung wiederherzustellen. Sie baten, dass wir im örtlichen Rundfunk zu den Unruhen, die von kriminellen Elementen inszeniert wurden, Stellung nehmen. Wie Ihr wisst, trat gestern Abend Genosse Mikojan im Radio auf, legte unsere Haltung dar und forderte alle auf, den Platz zu verlassen, die Arbeit wieder auf zunehmen, die Lage in der Stadt zu normalisieren. Der größte Teil der Bürger ging nach Hause. Nur Rowdys und Provokateure störten weiterhin die Normalisierung. … Die Abordnung … erklärte uns, dass die Unterbrechung der Arbeit im Budjonnyj-Werk und die Teilnahme der Arbeiter an den Unruhen auf Mängel der Arbeitsnormen, der Arbeit der Handelsorgane und die Erhöhung der Einzelhandelspreise für Fleisch- und Milchprodukte zurückzuführen ist. Es kann natürlich Mängel bezüglich der Arbeitsnormen und der Organisation des Lebensmittelhandels geben, aber ist das ein Grund dafür, die Produktion und das Leben in der Stadt durcheinander zu bringen? … Bezüglich der Erhöhung der Preise für Fleisch- und Milchprodukte müssen wir erklären, dass der Beschluss des ZK und der Sowjetregierung unbedingt erforderlich war und strikt durchgeführt wird. Es ist bekannt, dass die Arbeiterklasse in Moskaus und Leningrad, Gor‘kij und Sverdlovsk, in Mittelasien und im Baltikum, in allen großen und kleineren industriellen Regionen des Landes, das alle Sowjetmenschen die Beschlüsse von Partei und Regierung verstehen und vollständig durchsetzen. Wir haben mit großer Befriedigung festgestellt, dass die meisten Arbeiter und Angestellten, Studenten und Lehrer in Novočerkassk auch die richtige Politik unserer Partei und Regierung verstehen. Sie unterstützten nicht die Unruhestifter. Nur ein Teil dieser Arbeiter des Budjonnyj-Werkes hat das Wesen unserer Maßnahmen nicht begriffen und ist den unredlichen Elementen gefolgt. … Für den Aufschwung der Viehwirtschaft, für die mächtige Entwicklung der Landwirtschaft sind enorme Mittel erforderlich – für die Verbesserung der Mechanisierung, die Erhöhung der Arbeitsproduktivität und die Senkung der Selbstkosten landwirtschaftlicher Produkte. Sie sind erforderlich, um die materielle Interessiertheit der Kolchosbauern und Sowchosarbeiter zu fördern. Wo soll man die Mittel hernehmen? Die Investitionen für die Industrie und für den Wohnungsbau kürzen? Aber beides sind Grundlagen für die Entwicklung der Volkswirtschaft und für das Wachstum des Wohlstandes. Soll man diese Grundlagen zerstören? Kein anständiger Mensch kann das wollen. … Wir können auch nicht vergessen, dass die Imperialisten erneut das sowjetische Volk mit Krieg bedrohen. … Kann man unter diesen Bedingungen die Investitionen für unsere Industrie und Verteidigung kürzen?“[44]

[1] Der Stalinismus im engeren Sinne beinhaltet die terroristische Gewaltausübung, die mit dem Ableben des Diktators endete. Stalinismus im weiteren Sinne kennzeichnet die Gesellschaftsstruktur des sowjetischen Staatssozialismus, aus der zwischen 1989-1993 der Oligarchen-Kapitalismus entstand. Zur aktuellen Diskussion vgl. Osteuropa Heft 4 (Im Profil. Stalin, der Stalinismus und die Gewalt), Berlin 2012, S. 37-140.

[2] Nikita Sergejevič Chruščov (1894-1971): Schlosser, seit 1918 in der KPR (B), 1934-1938 Erster Sekretär des Moskauer Stadtkomitees, 1938-1947 Erster Sekretär des ZK der KP(B) der Ukraine, 1944-1947 Ministerpräsident der Ukrainischen SSR, 1949-1953 Erster Sekretär des Moskauer Stadtkomitees, 1953-1964 Erster Sekretär des ZK der KPdSU, 1958-1964 sowjetischer Ministerpräsident.

[3] N. S. Chruschtschow: Der Triumph des Kommunismus ist gewiss, Berlin (Ost) 1961, S. 54.

[4] Vgl. ebenda, S. 106ff und 193.

[5] Von 1962 auf 1963 fiel das Wachstum des Nationaleinkommens von 5,7% auf 4,0%, die Industrieproduktion von 9,7% auf 8,1%. Die Bruttoproduktion der Landwirtschaft ging um 8% zurück. Vgl. Donald Filtzer: Die Chruschtschow-Ära. Entstalinisierung und die Grenzen der Reform in der UdSSR 1953-1964, Mainz 1995, S. 49ff. und S.70ff.

[6] Vgl. Trud v SSSR. Stastičeskij Sbornik, Moskva 1968, S. 22.

[7] Die Zwangsarbeit sicherte zu Beginn der 50er Jahre 100% der Förderung von Platin und Diamanten, 90% des Silberabbaus, 12% der Kohleförderung und des Holzeinschlages. Der Anteil der politischen Häftlinge lag bei 30%. Von 1954 bis 1956 sank die Zahl der Politischen im Gulag von 467 000 auf 114 000. Vgl. Nicolas Werth; Der Gulag im Prisma der Archive, in: Osteuropa, Heft 6, Berlin 2007, S. 9-33, hier S. 16-23.

[8] Vgl. Karl-Heinz Gräfe; Kriegskommunismus und Alternativen 1921, in: Das Menetekel: Kronstadt 1921. Pankower Vorträge, Heft 161, „Helle Panke“ e.V., Berlin 2011, S. 21-41.

[9] Vgl. Karl-Heinz Gräfe: Die Krise des sowjetischen Imperiums und der neue Kurs in Osteuropa, in: Menetekel 17. Juni 1953, Leipzig 2003; ders.: Die Krise des Stalinismus in Osteuropa und Chancen linkssozialistischer Entwicklung 1956, in: Das Krisenjahr 1956, Leipzig 2006, S. 58-96.

[10] Vgl. Istorija stalinsgogo Gulaga: konec 1920-ch - pervaja polovina 1950-ch godov. Sobranie dokumentov v semi tomach, Moskva 2004-2005, vor allem Bd. 6, S. 320-423, 434-573 und 601-641; Aleksander I. Kokurin/Nikita V. Petrov (Hg.) GULAG 1918-1960. Dokumenty, Moskva 2000, S. 567 -585 und 615-661; Wladislaw Hedeler/Horst Hennig: Schwarze Pyramiden, rote Sklaven. Der Streik in Workuta im Sommer 1953, Leipzig 2007.

[11] Vgl. Jürgen Gerber: Georgien: Nationale Opposition und kommunistische Herrschaft seit 1956, Baden-Baden 1997, S. 35-39 und 253-256; Archivy Kremlja: Prezidium CK KPSS 1944-1964, Černovye protokol’nye zapisi zasedanij Stenogrammy. Glavnyj redaktor A. A. Fursenko, Tom I, Moskva 2004, Dokument Nr. 36, S. 36-37.

[12] Vgl. Archivy Kremlja: Prezidium CK KPSS 1944-1964, Dokumente 200, 201 und 207, S. 388-389, 416-418, S. 1063-1064 und 1068-1069; V. A. Kozlov: Massovye besporjadki pri Chruščove i Brežneve (1953-nacalo 1980-x gg., Novosibirsk 1999; V. S. Lelčuk: Rastrel v Temir-Tau, in: Sovetskoe občšestvo: vosniknovenie, razvitie, istoričeskij final, t. II, Moskva 1997, S. 237-327.

[13] Von den 12 Massenunruhen zwischen 1957 und 1964, die von der Armee niedergeschlagen wurden, war die von Novočerkassk im Juni 1962 diejenige mit zahlmäßig größten Teilnehmern und Todesopfern (mindestens 5.000 Teiln./23 Tote), es folgten die von Temir-Tau August 1959 (16 Tote), Podols‘k/Gebiet Moskau Juni 1957 (3.000 Teiln.), Alexandrow (1.200/4 Tote) und Murom 1.500) im Gebiet Vladimir Juni/Juli 1961, Krasnodar/Region Krasnodar Januar 1961 (1.300/1 Toter), Krivoi Rog/Gebiet Dnepropetrovsk Ukraine (600/4 Tote) Juni 1963, Beslan/ASSR Nordossetien September 1964 (700/1 Toter), Chasavjurt/ASSR Dagestan September 1964 (700), Buisk/Region Altai Juni 1961 (500/1 Toter), Sumgait/Aserbaidžan (800). Vgl. „O Massovych Besporjadkach s 1957 goda….“ Spravka o massovych besporjadkach, imevšich mesto v strane s 1957 goda. Schreiben von KGB-Chef V. Čebrikov an M. Gorbačov vom 4. März 1988, in: Vestnik Nr. 6/1995, Moskau 1995, S. 146-152, hier S. 147-148.

[14] Vgl. Michail Heller/Aleksander Nekrich: L’utopie au pouvoir. Histoire de L’U.R.S.S. de 1917 á nos jours, Paris 1981; dies.: : Geschichte der Sowjetunion, Königstein/Ts. 1981, S. 283-287. Diese Darstellung über den Arbeiteraufstand in und um Novočerkassk im Juni 1962 basiert vor allem auf Solschenizyns literarischem Werk Der Archipel Gulag, Bern 1976, Bd. 3 (Fünfter Teil: Die Katorga kommt wieder), S. 539-346. Vgl. auch M. Holubenko: Die sowjetische Arbeiterklasse: Unzufriedenheit und Opposition, in: H. Ticktin u.a. (Hg.): Planlose Wirtschaft, Hamburg 1987.

[15] Gawriil Popow: Zwei Farben einer Zeit. Nachwort zu Alexej Adshubej: Gestürzte Hoffnung. Meine Erinnerungen an Chruschtschow, Berlin 1990, S. 389.

[16] Vgl. Novočerkasskaja tragedija 1962, in: Istoričeskij Archiv. Naučno-publikacionnij žurnal, Nr. 1/1933, S. 110-136 und 4/1993, S. 143-177; Moskovskoe gorodskoe ob-edinenie archivov: Neizvestnaja Rossija XX. Vek. Istoričeskie nasledie, Bd. III, Moskva 1993, S. 145-176; P. P. Sijuda: Novočerkasskaja tragedija, in: Nezavisimij istoričeskij žurnal Karta, Moskva 1993 Nr. 1.; Archivy Kremlja: Prezidium CK KPSS 1944-1964, hier Dok. 252: Protokoll Nr. 35. Zasedanij 10 ijunija 1962, S. 567.

[17] Russland-Aktuell. Internetzeitung seit 1998 vom 4. Juni 2002, S. 1.

[18] Vgl. Istoričeskij Archiv, Nr. 1/1933, Dok. 1-3; Moskovskoe gorodskoe ob-edinienie archivov, Dok. 1-7.

[19] Zum allgemeinen Verlauf der Massenunruhen bis zur Aufhebung des Ausnahmezustandes (1.-7. Juni 1962) vgl. Informacija zemestitelja Predsedatelja KGB pri SM SSSR P. I. Ivašutin v CK KPSS o massovych besporjadke v g. Novočerkasske/7.Juni 1962, in: Istoričeskij archiv 1/1993, Dok. 6, S. 122-129.

[20] V. I. Černych gab im Verhör am 28. Juni 1962 zu Protokoll: „Um die Arbeiter zur Arbeitsniederlegung zu bringen und ihre Forderungen der Betriebsleitung vorzutragen ging ich mit einer Gruppe von 15 Mann in die Kompressoren-Station, wo wir die Fabriksirene einschalteten.“ In der Anklageschrift wurde vermerkt: „Nach der Einschaltung der Fabriksirene kamen ebenfalls Arbeiter aus anderen Werkshallen, auch die Einwohner der naheliegenden Siedlungen, die sich vor dem Platz der Betriebsleitung versammelten.“ Zitiert und vom Verf. aus dem Russischen übersetzt nach Istoričeskij Archiv, 4/1993, Dok. 9/Anlage/ 13. Juli 1962, S. 146 und 158.

[21] Aleksandr Vasil’evič Basov (1912-1988): Zootechniker, 1955-1960 Vorsitzender des Gebietssowjets Rostov am Don, 30. 10. 1960 - 14. 8. 1962 Erster Sekretär des Gebietskomitees der KPdSU Rostov, 1961-1976 Mitglied des ZK der KPdSU, 1965 Landwirtschaftsminister der RSFSR, 1966-1979 im diplomatischen Dienst .

[22] Informacija zamestitelja Predsedatelja KGB pri SM SSSR P. I. Ivašutin v CK KPSS o massovych besporjadke v g. Novočerkasske/7. Juni 1962, in: Istoričeskij archiv 1/1993, Dok. 6, S. 122-129, hier S. 124-125.

[23] Vgl. Zapiska prededatelja KGB pri Sovete Ministrov SSSR V. E. Semičastnogo i general’nogo prokura SSSR R. A. Rudenko v CK KPSS o neobchodimisti provedenija v g. Novočerkasske otkrytogo sudebnogo processa i projekt obvinitel’nogo zaključenii po delu/13. Juli, in: Istoričeskij Archiv, 4/1993, Dok. 9/Anlage, S. 159.

[24] Ebenda, S. 148-149.

[25] Vgl. Istoričeskij Archiv, 4/1993, Dokument 9/Anlage/13. Juli 1962, S. 149-150, 156-157, 159-160.

[26] Issa Aleksandrovič Plijev (1903-1979), 1941-1945 Divisions-und Korpskommandeur im Krieg, 1958-1968 Kommandeur der Truppen des Nordkaukasischen Militärbezirks, 1961-1966 ZK-Mitglied, leitete im Herbst 1962 die Operation „Anadyr“ (Stationierung sowjetischer Truppen auf Kuba).

[27] Vgl. ebenda, S. 152-153 und 155-156.

[28] Der 1927 im Gebiet Saratov geborene Aleksander Fedorovič Zajčev wurde 1952 wegen Diebstals inhaftiert, saß nach seiner vorzeitigen Freilassung 1953 nochmals wegen Rowdytum im Gefängnis (1954-1956). Danach arbeitete er als Brigadier in einer Kolchose im Gebiet Volgograd. Er befand sich im Juni 1962 dienstlich in Novočerkassk und beteiligte sich aktiv an den Massenunruhen. Vgl. Istoričeskij archiv, 4/1993, Dok. 9/Anlage/13. Juli, S. 151 und 154-155.

[29] Vgl. ebenda, S. 150-152 und 158.

[30] Informacija zamestitelja Predsedatelja KGB pri SM SSSR P. I. Ivašutin/7. Juni 1962, in: Istoričeskij archiv 1/1993, Dok. 6, S. 127. Am 12. Juni 1962 korrigierte KGB-Vorsitzendre Semičastnij die Opferzahlen: „In Novočerkassk wurden 22 Menschen getötet oder verstarben an ihren Verwundungen. 87 Menschen besuchten die Krankenhäuser der Stadt im Zusammenhang mit den erlittenen Verletzungen, die sie in der Zeit der Unruhen erhielten. Die Mehrheit dieser Personen sind junge Menschen im Alter zwischen 18 bis 25 Jahren.“ Zitiert und vom Verf. aus dem Russischen übersetzt nach Informacija Predsedatelja KGB pri SM SSSR V. E. Semičastnogo ob obstanovke v Novočerkasske/12. Juni 1962, in: Istoričeskij archiv1/1993, Dok. 6, S. 131.

[31] Von den 23 Toten, die streng geheim an fünf Orten des Gebietes Rostov am Don beigesetzt wurden, konnten nur die folgenden 18 namentlich ermittelt werden (darunter zwei Frauen): V. S. Dračev (*1941, Arbeiter, NEVS), P. J. Veršenik (*1944, Dreher, NEVS), E. I. Slepkov (*1938, Schlosser, NEVS), V. N. Gricenko (*1941, Schlosser, NEVS), V. K. Karpenko (*1944, Fräser, NEVS), Ju. F. Timofeev (*1940, Schlosser; NEVS), F. G. Limancev (*1917 Arbeiter, NEVS); A. N. D’jakonov (*1915, Lagerleiter, Betrieb für Bergbauausrüstungen), V. I. Avdejev (*1932,Dreher, Betrieb für Bergbauausrüstung); V. F. Fedorkov (1927, Arbeiter, Dienstleistungskombinat), A. D. Gribova (*1922,Friseuse, Dienstleistungskombinat), V. V. Konstantinov (*1940, Student, Technische Lehranstalt Nr. 7), V. I. Solov’ev (*1940 Berufsschüler), A. M. Zverejeva (1941), K. K. Kelen (*1916), V. P. Linnik (1937), A. M. Chitov, M. Ch. Terleckij. Vgl. Informacija Predsedatelja KGB pri SM SSSR V. I. Semičastnogo N. S. Chruščevu ob ubitych vo vremja massovych besborjadkov v Novočerkasske/14. Juni 1962, in: Istoričeskij archiv 1/1993, Dok. 8, S. 131-132.

[32] Dem Verf. liegen keine Dokumente über die personelle Zusammensetzung der Arbeiterabordnung und die Inhalte der Debatten und Vereinbarungen vor. Zu den Wortführern der Delegation zählten u.a. V. P. Borisov (*1937, Schlosser, Südgasleitungsbau) und B. N. Mokrousov 1923-1962 (Dreher, Werkzeugmaschinenfabrik).

[33] Vgl. Vystuplenie sekretarja CK KPSS, člena Prezidium CK KPSS, F. P. Kozlova po mestnomy radio Novočersska 3 junja 1962 g, istoriceskij archiv 1/1993, Dok. 5/3.Juni 1962, S. 118-122, hier S. 118-120

[34] Vgl. Informacija zamestitelja Predsedatelja KGB pri SM SSSR P. I. Ivašutin/7. Juni 1962, in: Istoričeskij archiv 1/1993, Dok. 6, S. 127-128.

[35] So die Streiks und Proteste in Riga, Kiev und Čeljabinsk sowie Streikandrohungen in Ivanovo, Vladimir, Magnitogorsk, Tambov, Donečk, Leningrad. Außerdem wurde im Vergleich zu 1961 im ersten Halbjahr 1962 eine Verdoppelung illegal verbreiterter antisowjetischer Dokumente (3.705 Exemplare von 2.522 Autoren) durch den Geheimdienst registriert. Auch die Zahl der aufgedeckten Untergrundgruppen stieg von 47 (mit 180 Personen) im Jahre 1961 auf 80 (mit 215 Personen) im ersten Halbjahr 1962 an. Vgl. Informacija predsedatelja KGB pri sovete Ministrov SSSR V. E. Semičastnyj v CK KPSS o rasprostranenii antisovetskich anonymnich dokumentov/15. Juli 1962, in: Istoričeskij archiv, 4/1993, Dok. 12, S. 170-172.

[36] Archivy Kremlja: Prezidium CK KPSS 1944-1964, Dokument 252. Protokoll Nr. 35. Zasedanij 10 ijunija 1962, S. 668.

[37] Zusammenhang mit den Massenunruhen in Novočerkassk, Rostov, Šachty und Taganrog beorderte der KGB unter Leitung des Stellvertretenden Vorsitzenden Ivašutin 140 Geheimpolizisten in das Gebiet Rostov, um zu verhindern, dass Informationen über die „unerwünschten Ereignisse“ von Funkclubs in Novočerkassk und Šachty in das Ausland gelangten. Vgl. Informacija Predsedatelja KGB pri SM SSSR V. E. Semičastnyj v CK KPSS ob obstanovke v Novočerkasske/12. Juni 1962, in: Istoriceskij archiv, 1/1993, Dok. 8, S. 130.

[38] Als Hauptschuldige wurden insgesamt 132 Aktivisten der Streikbewegung ausgemacht und als kriminelle Verbrecher vor Gericht gestellt und abgeurteilt. In einem der Prozess in Novočerkassk (22. - 24. August 1962) wurden 14 Arbeiter angeklagt. Sieben der aktivsten Streikführer wurden zum Tode verurteilt (Zajcev, Mokrousov, Kuznecov, Čerpanov, Korkač, Sotnikov und Šuvalov) und weitere sieben (Devčenko, Černych, Gončarov, Služenko, Dement’jev, Katkov und Sčerban) erhielten Lagerhaft zwischen 10 und 15 Jahren. Vgl. Informacija zamestitelja predsedatelja KGB pri SM SSSR P. I. Ivašutin i General’nogo prokura SSSR R.A. Rudenko v CK KPSS o sudebnom processe v g. Novočerkasske/ 23. August 1962, in: Istoriceskij archiv, 4/1993, Dok. 14, S. 174.

[39] Roman Andrejevič Rudenko (1907-1981): Jurist, seit 1936 Parteimitglied, Staatsanwalt im Gebiet Donečk (seit 1938) und der Ukrainischen SSR (seit 1944), 1945 sowjetischer Hauptankläger auf dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, seit 1953 Generalstaatsanwalt der UdSSR.

[40] Vgl. Informacija zamestitelja predsedatelja KGB pri SM SSSR P. I. Ivašutin i General’nogo prokura SSSR R. A. Rudenko/14. August 1962, in: Istoriceskij archiv, 4/1993, Dok. 14, S. 174.

[41] Im Bericht der Leiters Abteilung Propaganda und Agitation beim ZK der KPdSU der Russischen Unionsrepublik, V. I. Stepakov, wird dazu festgestellt: „Das Büro des Gebietskomitees Rostov der KPdSU schloss Genossen B. N. Kuročkin aus der Partei aus und entband ihn von seiner Funktion als Betriebsdirektor wegen seiner herzlosen Beziehungen zu den Sorgen und Nöten der Arbeiter, wegen der Vernachlässigung der Organisation der Arbeit und der Festlegung der Arbeitsnormen. Genosse M. F. Pererušev erhielt eine strenge Rüge und wurde als Parteisekretär des Betriebes abgelöst. Für unzureichende Führung des Stadtparteikomitees, vor allem gegenüber der Parteiorganisation des Elektrolokomotiven-Werkes und wegen unzureichender Forderungen an die Kader erhielt der Erste Sekretär des Stadtkomitees Genosse T. S. Loginov eine strenge Rüge. … Der Vorsitzende des Stadtsowjets V. M. Zamula erhielt eine Parteirüge für die ernsthaften Vernachlässigungen der kulturellen und materiellen Lebensbedingungen der Arbeiter des Elektromotiven-Werkes und der Bewohner der Siedlung ‚Oktober‘“. Zitiert und vom Verf. aus dem Russischen übersetzt nach Zapiska zavedujuščego Otdelom propagandy I agitacii CK KPSS po RSFSR V. I. Stepakova v CK KPSS o sudebnnom processe v g. Novočerkassk/24 August 1962, in: Istoriceskij archiv 4/1993, Dok. 15, S. 176.

[42] Vgl. Vypiska iz protokolla Nr. 42 zasedanjia Prezidiuma CK KPSS ot 19 ijulja 1962g i materialy k nemu; Prikaz Predsedatelja Komiteta gosudarstvennoj bezopasnosti pri Sovete Ministrov Sojuza SSR za 1962 god; Prikaz General‘nogo prokura SSR ob usilenii prokurskogo nadzora za rassledovaniem del goudarstvennych predstuplenijach i passmotreniem ich v sudach, in: Istoriceskij archiv 4/1993, Dok. Nr. 11, S. 162, 163-168 und 168-169.

[43] Vgl. Karl-Heinz Gräfe: Die Wiedergeburt des Kapitalismus in Russland, in: Utopie kreativ. Diskussion sozialistischer Alternativen, Berlin 2004, Heft 161/März 2004, S. 257-267.

[44] Zitiert und vom Verf. aus dem Russischen übersetzt nach: Vystuplenie sekretarja CK KPSS, člena Prezidium CK KPSS, F. P. Kozlova po mestnomy radio Novočersska 3 ijunja 1962 g, istoriceskij archiv 1/1993, Dok.5, S. 118-122, hier S. 118-120.